Der Kampf um das Konzil
Wieder ein „Sacco di Roma“
15. 3. 2002
Der "Fall Williamson" von Rom aus gesehen. So wie ihre Vorfahren in Landsknechtsuniformen 1527 die Stadt der Päpste verwüsteten, haben die Deutschen jetzt zertreten, was ihnen an "ihrem Papst" lieb und teuer war. Doch hinter der Auseinandersetzung um die Priesterbruderschaft der Lefebvrianer steht eine Machtfrage: Wem gelingt es, das Zweite Vatikanum in seinem Sinne zu interpretieren?

Guido Horst
Manchem ist dann doch der Kragen geplatzt. Die Art und Weise, wie der Bischof von Mainz, Kardinal Karl Lehmann, den Fall des Holocaust-Leugners Richard Williamson kommentierte, veranlasste dessen Kardinalskollegen Paul Josef Cordes in Rom zu der bitteren Bemerkung: "Eine Spur kirchenrechtlicher Information hätte manchem Kommentator wohl gut angestanden. Gewiss hätte auch der in den letzten Tagen am meisten zitierte deutsche katholische Bischof die im Vatikan versäumten Erläuterungen dank seiner erprobten besten Beziehungen zu den Medien nachschieben, die Missverständnisse ausbügeln, die geistliche Dimension des Aktes ansprechen, mit dem Papst den Blick auf den Glauben und auf Gott lenken können. Doch er nutzte seine Stellungnahmen, um von ,der Leitung der Kirche etwas mehr politische Sensibilität' zu fordern. Dass den Papst ein geistlich krankes Glied am Leib Christi seit Jahren schmerzt, gilt im besten Fall als Alterssentimentalität. Seine Verteidigung, dass er als Wahrer kirchlicher Einheit einer Gruppe von Christen auf deren Bitte hin die Versöhnungshand entgegenstrecken wollte, fand nicht statt. Stattdessen verlautbarte der deutsche Bischof lapidar: ,Der Papst tut mir leid'." Soweit Kardinal Cordes in der "Tagespost".
Es ist etwas geschehen in Deutschland - oder besser: die Deutschen haben sich wieder einmal ausgetobt. So wie ihre Vorfahren in Landsknechtsuniformen 1527 beim "Sacco di Roma" die Stadt der Päpste verwüsteten, haben sie wieder alles beschmutzt und zertreten, was ihnen an "ihrem Papst" lieb und teuer geworden war. Dass selbst die Bundeskanzlerin den Heiligen Vater an den Ohren zog, und dass der ehemalige Ministerpräsident Werner Münch aus Ärger darüber aus der CDU austrat, unterstreicht nur den Befund, dass man in Deutschland auf der Empörungsskala ganz oben angekommen war. Dafür brauchte es keinen Michael Friedmann. Viele Pfarrer haben in ihren Sonntagspredigten daran mitgewirkt, dass die Landsleute Benedikts ihr "Wir sind Papst" abschüttelten wie Staub von den Füßen. Wie gesagt, nördlich der Alpen. Nicht hier in Rom. Zum Angelusgebet jubelt man dem Papst sonntags auf dem Petersplatz nach wie vor mit Transparenten und Fahnen zu. In der Synodenaula schlägt ihm Mittwoch für Mittwoch dieselbe Begeisterung entgegen wie bei früheren Generalaudienzen. Aber in seiner alten Heimat, nördlich der Alpen, da ist die Stimmung gekippt. Es klingt wie dumpfes Donnergrollen, was da aus deutschsprachigen Landen zu vernehmen ist. Und die Italiener verstehen die labilen Gefühle der Germanen nicht, die erst Hosianna riefen, jetzt aber ganz lieblos auf ihren Benedikt blicken. Die Achse Rom - Berlin, die sich mit der Wahl Joseph Ratzingers zum Papst auch in den Herzen vieler Römer aufgespannt hatte, hat einen heftigen Schlag erhalten.
Hinter den Falschmeldungen - "Holocaust-Leugner rehabilitiert" - und verspäteten vatikanischen Erklärungen, die die Aufhebung der Exkommunikationen der vier Lefebvre-Bischöfe und den "Fall Williamson" begleitet haben, steckt vordergründig eine Abfolge von Missverständnissen und Managementfehlern nach dem Bekanntwerden eines skandalösen Interviews. Doch im Hintergrund schlägt ein ganz anderes Problem den Takt bei der Auseinandersetzung um die umstrittene Bruderschaft Pius X. Dazu schrieb der bekannte Exeget Klaus Berger in der "Tagespost": "Die Pius-Bruderschaft macht man haftbar für ,Dogmen und Unfehlbarkeits-Phantasien'. Was hier geschieht ist schlicht folgendes: In der genannten Bruderschaft kann man endlich alles das ,erschlagen' und alles das endgültig entsorgen, was in der langen Geschichte der Kirche bislang differenziert und kenntnisreich erörtert worden war. In dem Wort ,Dogmen' nennt man eines der unbeliebtesten Dinge auf Erden. Denn Dogmen sind, das hat jeder zu assoziieren, starr, verstaubt, lebensfeindlich und grenzen andere aus. Und die ,Unfehlbarkeits-Phantasien' beziehen sich auf das in Deutschland besonders hart umkämpfte Dogma des Ersten Vatikanums. In den jüngsten Kommunikationspannen des Vatikans sahen viele endlich die ersehnte Widerlegung des Dogmas von der Unfehlbarkeit, welches sich doch auf den höchst seltenen Vorgang des Redens des Papstes ,ex cathedra' über Glaube oder Moral bezieht."
In den Wochen der Aufregung über den "Fall Williamson" verging kaum ein Tag, an dem nicht zu hören war, die Kirche laufe Gefahr, hinter das Zweite Vatikanum zurück geführt zu werden. Nicht nur Bischöfe nährten den Verdacht. Auch Theologen formulierten das in ihren Erklärungen, dazu brauchte es nicht einmal einen Hans Küng. Für viele ist das Zweite Vatikanum wie der Anbeginn einer neuen Zeit. Da habe sich die Kirche neu erfunden. Und was innerlich noch den Zuständen innerhalb der Kirche vor dem Konzil verbunden sei, müsse isoliert und abgestoßen werden. Als Benedikt XVI. vor gut anderthalb Jahren verfügte, dass die "vorkonziliare" Messe (die übrigens die tägliche Messe der Konzilsväter war) auch in der "nachkonziliaren" Kirche wieder zugelassen und erlaubt sein dürfe, konnten die deutschen Bischöfe, mit ganz wenigen Ausnahmen, ihre Ablehnung dieser Entscheidung kaum verbergen. Und führende Bischöfe des deutschen Episkopats lassen derzeit keine Gelegenheit aus, den Prozess der Aussöhnung mit den Lefebvrianern als aussichtslos und deshalb auch unnötig hinzustellen.
Benedikt XVI. hingegen will keinen Bruch, sondern Kontinuität. Er möchte die "vorkonziliare" Pius-Bruderschaft in die "nachkonzikliare" Zeit der Kirche hinüberretten, weil für ihn eben kein unüberwindbarer Graben besteht zwischen der Zeit vor und nach dem jüngsten Konzil. Der Papst möchte - aus seiner ganzen Erfahrung als Konzilsberater, Theologe und Präfekt der Glaubenskongregation heraus -, dass das Zweite Vatikanum wie jedes Konzil im Licht der Tradition gelesen wird, einer Tradition, die mit Jesus und den Aposteln begann und sich im Verlauf von zwei Jahrtausenden weiter entfaltet hat. Auf diesem Weg glaubt er auch eine Aussöhnung und die Einheit mit denjenigen Lefebvrianern finden zu können, die im Herzen katholisch bleiben und der allumfassenden Kirche angehören möchten.
Anders sehen es diejenigen, die das letzte Konzil als Bruch mit der Vergangenheit, als völligen Neuanfang deuten möchten. Für sie hat das Zweite Vatikanum nur die Grundlage gelegt, um die Kirche in vielen weiteren Schritten dem heutigen Bedürfnis nach Relativierung unumstößlicher Wahrheiten anzupassen: Von der Aufgabe des Anspruchs der katholischen Kirche, dass in ihr die eine Kirche Jesu Christi verwirklicht ist, bis zur Abstufung des Christentums zu einer Religion unter vielen, über die der Aufstieg zu Gott möglich ist. Von der Demokratisierung der hierarchischen Strukturen der Kirche bis zur Öffnung der Weiheämter für die Frau. Von der Umwandlung der Messe als unblutiger Wiederholung des Opfers Christi am Kreuz in eine Gemeindefeier mit Abendmahl als Erinnerung an Jesu Taten. Für diese "Hermeneutiker des Bruchs" wäre die Aussöhnung mit den Traditionalisten eine Katastrophe. Und das irrwitzige Interview des Holocaust-Leugners Williamson kam ihnen gerade recht, um dem Wunsch des Papstes, Tradition und Kontinuität zu wahren, den Geruch des Unanständigen anzuhaften.
Für den Exegeten Klaus Berger liegt in der "unbewältigten konziliaren Wende" eine der Ursachen der Hysterie, die Deutschland nach dem "Fall Williamson" erfasst hat: "Vorkonziliar gilt durchweg als Schimpfwort. Soll man nun alles an den Zeiten schlecht finden, in denen die Menschen noch sonntags zur Kirche gingen und noch wussten, was katholisch ist?" Für viele jüngere Theologen und auch Professoren, so Berger, "besteht die theologische Bildung fast ausschließlich aus Konzilszitaten, als habe es vorher keine katholische Theologie gegeben." Durch die Verwendung des Wortes "vorkonziliar" sei es gelungen, die katholische Kirche von ihrer eigenen Geschichte und ihren eigenen Wurzeln abzuschneiden.
Dieser Vorgang, vermutet Berger weiter, "kommt jetzt durch die entstandene Massenhysterie in eine entscheidende zweite Phase. Vulgärer Modernismus ist die Weise, in der das Konzil vielfach missverstanden und mit der Erlaubnis zur theologischen Dummheit verwechselt wurde: Kein Latein mehr, keine Kirchengeschichte mehr, keine Dogmen mehr, leider sehr häufig nur noch Kindergarten für Erwachsene." Die jetzige Situation zeige, so der Exeget, dass das ungeklärte Verhältnis zur vorkonziliaren Tradition die Achillesferse der Katholiken sei. Denn es rühre an die Identität. "Das Heilmittel gegen diesen nun fortgeschrittenen Verfall" ist für Berger nur "die längst fällige Wiederentdeckung der Schätze von Liturgie, Theologie und Spiritualität in der gesamten Geschichte der Kirche, das Zweite Vatikanum inbegriffen".
Wie ein Fieber haben die hysterischen Reaktionen in Deutschland auf den "Fall Williamson" offen gelegt, dass das Eis noch sehr dünn ist, auf dem die "nachkonziliare" Kirche nördlich der Alpen wandelt. Es fehlt an Selbstsicherheit. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, hat es entschieden abgelehnt, mit Vertretern der Pius-Bruderschaft überhaupt zu sprechen. Zwar mögen diese in manchen Teilen oder in mancher Hinsicht unwürdig sein - aber auch Jesus hat mit Zöllnern und Sündern gegessen und geredet. Den Dialog zu verweigern, nährt nur den Verdacht, dass man sich seiner Sache vielleicht doch nicht so sicher ist.
Wir entnehmen diesen Beitrag mit freundlicher genehmigung der Redaktion der März-Ausgabe des Vatican-Magazin.