Stichworte zur Brevierreform
Warum viele Priester das Brevier mit den Psalmen der Vulgata vorziehen
2. 11. 2008
Die Psalmen des Breviers wurden in der lateinischen Kirche über ein Jahrtausend lang in der Fassung nach der Vulgata aus dem 4. Jahrhundert gebetet. Auch wenn die Zuordnung der Psalmen zu den Wochentagen und den einzelnen Festen sowie ihre Verteilung auf die Woche oder den Monat öfter verändert wurde und nicht immer einheitlich war - es waren immer die Psalmen nach der Vulgata.
Das Latein der Vulgata-Psalmen ist stellenweise eher unbeholfen und entspricht jedenfalls oft nicht dem klassischen Ideal dieser Sprache; mehrere Stellen sind nur schwer verständlich und bedürfen der philologischen Kommentierung. In den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts beauftragte daher Papst Pius XII. eine Kommission unter dem Vorsitz von Augustin Kardinal Bea mit der Erarbeitung einer neuen lateinischen Übersetzung der Psalmen aus dem Hebräischen (Masoretische Fassung) und dem Griechischen (Septuaginta-Fassung). Diese Fassung wurde seit ihrer Fertigstellung Ende der 40er Jahre wahlweise auch im Brevier verwandt - die Vorstellung, die ältere Version einfach „abzuschaffen“ war damals noch nicht denkbar.
Tatsächlich wurde das Brevier mit den sogenannten „Bea-“ oder „Pius XII.-Psalmen“ von der neuen Priestergeneration zum Teil begeistert aufgenommen: Das „sauberere“ Latein ließ sich trotz mancher kunstvoll-anstrengenden Konstruktionen leichter übersetzen und scheinbar auch leichter verstehen als der Text nach der Vulgata. Die behauptete „Rückkehr zu den Ursprüngen“ kam dem Zeitgeist ebenso entgegen wie die mit der stärkeren Anlehnung an die hebräische Fassung signalisierte vermeintliche Annäherung an das Judentum.
Die Nachteile wurden für viele – wenn überhaupt – erst in der Rückschau erkennbar. Als erster Nachteil fällt ins Auge, daß die Psalmen nun innerhalb der Liturgie in zwei teilweise sehr unterschiedlichen Fassungen vorkamen. Der Text des Ordo Missæ, aber auch vieler Orationen, ist aus Psalmversen genommen, die damals selbstverständlich nicht geändert wurden. Damit tat sich ein manchmal schwer überbrückbarer Zwiespalt auf. Am Beispiel des Psalms 42, 1-5, illustriert:
„Bea-Psalmen“
Jus redde mihi, Deus, et age causam meam adversus gentem non sanctam; ab homine doloso et iniquo libera me,
Quia tu es Deus, fortitudo mea: quare me reppulisti? quare tristis incedo, ab inimico oppressus?
Emitte lucem tuam et fidelitatem tuam: ipsæ me ducant, adducant me in montem sanctum tuum et in tabernacula tua.
Et introibo ad altare Dei, ad Deum lætitiæ et exsultationis meæ. Et laudabo te cum cithara, Deus, Deus meus!
Quare deprimeris, anima mea, et tumultuaris in me? Spera in Deum: quia rursus celebrabo eum, salutem vultus mei et Deum meum.
Vulgata
Judica me, deus, et discerne causam meam de gente non sancta: ab homine iniquo et doloso erue me.
Quia tu es, Deus, fortitudo mea, quare me reppulisti, et quare tristis incedo, dum affligit me inimicus?
Emitte lucem tuam et veritatem tuam: ipsa me deduxerunt et adduxerunt in montem sanctum tuum et in tabernacula tua.
Et introibo ad altare Dei: ad Deum qui lætificat juventutem meam. Confitebor tibi in cithara, Deus, Deus meus.
Quare tristis es, anima mea, et quare conturbas me? Spera in Deo, quoniam adhuc confitebor illi: salutare vultus mei, et Deus meus.
Einmal abgesehen davon, daß es heute reichlich kühn vorkommen muß, den „Psalm Judica“ zu einem – ja was eigentlich? – zu machen, oder statt des tiefe Konnotationen hervorrufenden "tristis" ein deprimierendes "deprimeris" zu lesen – wie gelingt es dem Priester, jeden Dienstag in der Laudes erst die eine und dann in der Messe die andere Form zu beten? Fast jedes Wort ist geändert – wer soll da nicht in Verwirrung kommen?
Zugespitzt könnte man sagen: Nach diesem Eingriff in die Sprachgestalt der Psalmen war es fast eine logische Konsequenz, in späteren Stadien der Liturgiereform erst die Psalmen (der zweite war das Lavabo, Psalm 25 6-12) im Ordo Missæ ganz fallen zu lassen und dann auch für alle praktischen Zwecke das beschwerliche Latein aufzugeben.
Auf weiteren Ebenen, die hier aber nur angedeutet werden können, geht der Eingriff womöglich noch tiefer. Die neue Übersetzung produzierte ja nicht nur Interferenzen zum Text des Missale, die dann mit der Liturgiereform und dem Übergang zu den Nationalsprachen wieder beseitigt wurden. Viele Kirchenlehrer und alle Theologen des Mittelalters zitierten oder alludierten die Psalmen nach dem Wortgebrauch der Vulgata - diese Passagen verloren mit der alltäglichen Lektüre der „erneuerten“ Psalmen ihre Erkennbarkeit und Prägnanz. Dazu wurde in Anlehnung an die Zählung der Psalmen in der masoretischen Tradition die Nummerierung verändert, was den Bezug auf die Zitierung der Psalmen in der Tradition – einschließlich der neuesten wissenschaftlichen Arbeiten der 1. Hälfte des 20. Jh. – weiter erschwerte.
Das ist aber immer noch nicht alles. Mit dem verstärkten Rückgriff auf die angeblich authentischsten hebräischen Texte wurde die Bedeutung der vorchristlichen hellenistischen Psalmenrezeption der Septuaginta, die nach einem wenig beachteten, aber äußerst wichtigen Abschnitt der Regensburger Rede von Papst Benedikt „ein eigener wichtiger Schritt der Offenbarungsgeschichte“ ist, vermindert. Das ist gerade bei den Psalmen verhängnisvoll, die aus der Perspektive des erschienen Messias und des vollbrachten Erlösungswerkes gänzlich anders zu lesen sind als inder Perspektive eines Judentums, das (immer) noch auf den Messias wartet.
Die Bea-Kommission hat hier Editions- und Übersetzungsprinzipien vorweggenommen, die später auch die deutsche „Einheitsübersetzung“ prägen sollten und ihr jene vielfach so traditionsferne und freischwebende Färbung verleihen. Zusammen mit mehr oder weniger gelungenen philologischen Kunststückchen hat diese Entwicklung im Lauf weniger Jahrzehnte dazu geführt, daß einzelne Psalmverse insbesondere in den nationalsprachlichen Versionen kaum noch wiederzuerkennen sind.
Die „Liturgia Horarum“, also der im Zuge der Liturgierefom eingeführte Nachfolger des Breviarium Romanum, hat diese verhängnisvolle Entwicklung übrigens bereits wenige Jahrzehnte nach der Einführung der neuen Psalmen stillschweigend wieder rückgängig gemacht: Sie verwendet die Psalmen der „Nova Vulgata“, die von der im allgemeinen unproblematischen Bereinigung einiger Lesarten einmal abgesehen mit den Texten der Vulgata übereinstimmt.
Dafür leiden die Psalmen der Liturgia Horarum freilich unter einem schweren Anfall von Zensurwut bei ihren Kompilatoren: Die in der Wortwahl zarten Gemütern möglicherweise tatsächlich etwas „unsensibel“ erscheinenden Psalmen (neue Zählweise) 57, 82 und 108 fehlen ganz, 77, 104 und 105 dürfen nur noch je einmal im Jahr in der Fastenzeit vorkommen. Gottes Wort – zu hart für unsere Zeit?
Nach alledem ist leicht zu sehen, daß die jetzt neu herausgebrachte Fassung des Breviers von 1962 mit den Psalmen nach der Vulgata genau das ist, was sich viele Priester, die den alten Ritus zelebrieren, wünschen – bisher auf dem Antiquariatsmarkt aber nicht finden konnten. Für Laien, die dem Zwiespalt zwischen den Psalmversen des Breviers und denen der hl. Messe weniger stark ausgesetzt sind, bleibt dagegen die Version mit dem sprachlich leichter zugänglichen Pius XII. Psalter eine denkbare Alternative - zumal diese Version relativ häufig angeboten wird. Um mit den in jedem Fall bestehenden Schwierigkeiten (eher sprachlicher Art bei der Vulgata, eher theologischer Art bei den „neuen“ Psalmen) fertig zu werden, ist in jedem Fall eine fundierte Begleitlektüre und eine Übersetzung aus der Zeit zu empfehlen, als auch die Katholiken die Psalmen noch nach der Vulgata zählten.
Ausführliche Informationen zur Neuausgabe des Breviers bei Nova et Vetera finden Sie auf breviariumromanum.com.
Die Geschichte der Reformen des Breviarium Romanum ist noch länger und noch leidvoller als die des Missale. Während die Ehrfurcht vor der Tradition und dem weit über tausendjährigen Canon Romanus bis vor wenigen Jahrzehnten vor Eingriffen am Missale abschreckte, gab es beim Brevier solche Hemmungen nicht. Eine Zeit lang sah es so aus, als wolle und müsse jeder Papst dem Brevier seinen höchst persönlichen Stempel aufdrücken.
Wir werden das Thema emnächst noch ausführlicher darstellen - heute nur einige Anmerkungen zur Version der lateinischen Psalmen.