Prof. Ratzinger kritisiert das Konzil
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- 04. Juli 2020
Für alle, die sich der ganzen katholischen Tradition verpflichtet sehen, ist das 2. Vatikanische Konzil ein schwieriges Thema. Auf der einen Seite wissen wir daß das 2. Vatikanum nichts von dem, was die Kirche immer gelehrt hat, auf den Kopf gestellt haben kann. Auf der anderen Seite leben wir in einem Umfeld, in dem vieles auf den Kopf gestellt erscheint - und dazu sagt man uns, genau das wäre der Wille des 2. vatikanischen Konzils, den alle gefälligst anzuerkennen hätten. Und das sagen nicht irgendwelche Leute, über die man sich leichten Herzens hinwegsetzen könnte, sondern das sagen viele Theologieprofessoren, fast alle Kommentatoren der kirchlichen Medien – und die meisten Bischöfe sagen es auch oder signalisieren zumindest schweigende Zustimmung. Widerspruch gegen den „Geist des Konzils“ und das, was dafür ausgegeben wird, erscheint als das letzte „Anathema“ in einer Kirche, in der man ansonsten fast alles sagen, bezweifeln oder fordern kann.
Da ist es hilfreich, einmal nachzulesen, wie kritisch Joseph Ratzinger lange, bevor er Benedikt XVI. wurde, der als junger Theologieprofessor selbst mit großen Hoffnungen zum Konzil gefahren war, schon wenige Jahre nach seinem Abschluß die Auswirkungen dieses vermeintlichen Aufbruchs in einen „neuen Frühling“ betrachtet hat. Seine zum 10. Jahrestag vorgetragene (und später zur Aufnahme in eines seiner Bücher wohl leicht überarbeitete) Bestandsaufnahme beginnt schonungslos realistisch und führt zu der ernüchternden Einsicht, daß auch dieses Konzil – wie andere vor ihm – den Zweck seiner Einberufung verfehlt und der Kirche mehr Schaden als Nutzen gebracht haben könnte.
Daß unsere Kirchen, unsere Priesterseminare, unsere Klöster leerer geworden sind in diesen zehn Jahren, kann sich jeder von den Statistikern zeigen lassen, wenn er es selbst nicht bemerkt; daß das Klima in der Kirche zeitweise schon nicht mehr bloß frostig, sondern nur noch bissig-aggressiv war, braucht auch nicht umständlich bewiesen zu werden; daß allenthalben Parteiungen die Gemeinschaft zerreißen, gehört zu unseren täglichen Erlebnissen, die die Freude am Christlichen bedrohen. Wer solches sagt, wird schnell des Pessimismus geziehen und so aus dem Gespräch gestellt. Aber hier handelt es sich ganz schlicht um empirische Fakten, und sie leugnen zu müssen, verrät schon nicht mehr Pessimismus, sondern eine stille Verzweiflung.“
Daß einem Konzil zunächst einmal große Verwirrung folgen kann, ist für Joseph Ratzinger keine große Überraschung. Er zitiert dazu einen Brief Gregors von Nazianz, der im Jahr 382 die Einladung zur Fortsetzung des Konzils von Konstantinopel mit Worten ablehnte, die beklemmend aktuell klingen: „Um die Wahrheit zu sagen, so halte ich dafür, daß man jedes Konzil der Bischöfe fliehen sollte, da ich einen glücklichen Ausgang noch bei keinem erlebte; auch nicht die Abschaffung von Übelständen ..., immer dagegen Ehrsucht oder Zank ums Vorgehen.“ Von Gregors Zeitgenossen und Freund Basilius weiß er noch schärfere Urteile anzuführen. Für ihn haben die Konzilien der Zeit zu „entsetzlicher Unordnung und Verwirrung“ geführt und die ganze Kirche mit einem „unaufhörlichen Geschwätz“ erfüllt.
Erst aus der historischen Rückschau – so Joseph Ratzinger – seien die großen Konzilien des 4. Jahrhunderts als Leuchttürme der Kirche erkennbar geworden, die die Identität des Glaubens im Wandel der Zeit zu klären geholfen hätten. Uneingeschränkt positiv ist die Wertung des damaligen Professors über die Auswirkungen dieser Konzilien dennoch nicht. Mit spürbarem Kummer erinnert er an die schweren Spaltungen, die ihnen folgten und der Kirche Wunden schlugen die bis heute nicht geschlossen werden konnten: „Die treuen Erben des großen Bischofs Kyrill von Alexandrien fühlten sich durch die Formeln verraten, die ihrer heilig gehaltenen Überlieferung entgegenstanden; als monophysitische Christen bilden sie im Orient noch heute eine bedeutende Minorität, die uns einfach durch ihr Dasein noch etwas von der Härte der damaligen Kämpfe ahnen läßt.“
Die Väter des 2. Vatikanums hofften, durch den Verzicht auf jede Dogmatisierung solche schwerwiegenden Folgen vermeiden zu können. „Ein Konzil, das nicht dogmatisierte und niemanden ausschloss“, so Joseph Ratzinger, „schien niemanden treffen, niemanden abstoßen, nur alle anziehen zu können. In Wahrheit ist es ihm nicht anders ergangen als den Kirchenversammlungen zuvor; die krisenhaften Erscheinungen, in die es hineinführte, kann heute niemand mehr im Ernst bestreiten.“
Unter den Gründen dafür hob der damaligen Professor zwei besonders hervor: „Das Konzil verstand sich als eine große Gewissenserforschung der Kirche, es wollte schließlich ein Akt der Buße, ein Akt der Bekehrung sein.“ Daher habe es eine große Bereitschaft gegeben, mehr oder weniger umstandslos alles, was die Welt der Kirche zum Vorwurf mache, auch tatsächlich als Schuld der Kirche gegenüber der Welt anzuerkennen. Um nicht neue Schuld auf sich zu laden, habe man überall nur noch das Gute und das Übernehmenswerte sehen und anerkennen wollen. Doch das habe nicht nur zu einer allgemeinen Identitätskrise geführt, sondern auch eine tiefe Kluft zu ihrer gesamten Tradition aufgerissen, die nun als wertlos erscheinen mußte. Von daher hätte viele einen radikalen Neubeginn als einzige Alternative angesehen.
Als zweiten Grund hat Joseph Ratzinger den naiven Optimismus der Kennedy-Ära ausfindig gemacht. „Wir können alles schaffen, wenn wir nur wollen und die Mittel dafür einsetzen. Gerade der Bruch im Geschichtsbewußtsein, der selbstquälerische Abschied vom Gewesenen, brachte die Vorstellung einer Stunde Null hervor, in der alles neu beginne und nun endlich alles das gut gemacht werde, was bisher falsch gemacht worden war. Der Traum der Befreiung, der Traum des Ganzanderen (!), der wenig später in der studentischen Revolte ein immer gewalttätigeres Gepräge annahm, lag in gewisser Hinsicht auch über dem Konzil; er war es, der die Menschen zuerst beflügelte und dann enttäuschte.“ Der Befund, den der Professor Ratzinger aus beiden Motiven zieht, ist vernichtend. Wo Buße nur ins Negative führe, schlage sie allzuleicht in Hochmut um, echte Buße dagegen “führt zum Evangelium, d.h. zur Freude, auch zur Freude an sich selbst. Die Form der Selbstanklage, die im Konzil der eigenen Geschichte gegenüber erreicht wurde, hat dies nicht mehr wahrgenommen und so zu neurotischen Erscheinungen geführt.“
Was bedeutet diese Bewertung über 10 Jahre nach dem Ende des Konzils für Joseph Ratzinger, wo muß man seiner Meinung nach ansetzen, um die noch gar nicht begonnene rechte Rezeption des Konzils in Gang zu bringen? Um diese Frage zu beantworten, untersucht er einige der Grundbegriffe, die die Diskussionen auf dem Konzil prägten.
Zunächst betrachtet er den Communio-Gedanken, also die im letzten Konzil so nachdrücklich betonte "Volk-Gottes-Theologie". Bei der Umsetzung dieser Theologie seien dem Konzil und seinen Implementoren folgenschwere Irrtümer unterlaufen, indem man "communio" und "Kollegialität" fast ausschließlich in Form von Gremien, Räten, Ausschüssen und Konferenzen wahrgenommen habe. Dazu sagt er: "Niemand kann bezweifeln, daß die unkontrollierte Vermehrung solcher Gremien zu einer unglaublichen Kraftverschwendung und zur Produktion sinnloser Papierberge geführt hat, dabei wurden die besten Kräfte in endlosen Diskussionen verschlissen, die niemand wollte, und an denen doch in den neuen Formen kein Weg vorbeiführte.“
Weiterhin untersucht er den immer wieder propagierten Begriff „Einfachheit“. dabei macht er deutlich, daß mit "Einfachheit" nicht Armut oder Verzicht auf Dekor gemeint war, sondern in erster Linie das berechtigte Bestehen auf Vernunft und Rationalität, die nicht im Gegensatz zum Glauben an Christus verstanden werden dürfen. In der Umsetzung sei das jedoch vielfach zur Unterwerfung unter den Rationalitätsbegriff der Aufklärung und das Diktat des Zeitgeistes geraten.
Zum Schluß seiner Überlegungen zog Joseph Ratzinger bereits Mitte der 70er Jahre eine ernüchternde Bilanz, die allen denen missfallen muß, die heute das auf alle Dogmatisierungen verzichtende Konzil zum Superdogma erheben wollen. Karl Rahner habe bei Konzilsende die Masse von produziertem Papier mit den Unmengen von Pechblende verglichen, die man brauche, um ein wenig Radium zu gewinnen. Doch zwischen Pechblende und Radium gebe es wenigstens eine feste Beziehung – wo Pechblende, da auch Radium. „Aber einen ähnlich notwendigen Zusammenhang der Pechblende aus Worten und Papier mit der lebendigen christlichen Wirklichkeit gibt es nicht. Ob das Konzil zu einer positiven Kraft in der Kirchengeschichte wird, hängt nur indirekt von Texten und von Gremien ab. Entscheidend ist, ob es Menschen gibt, - Heilige - , die mit dem unerzwingbaren Einsatz ihrer Person Lebendiges und Neues erwirken.“
Ratzinger schließt mit dem beunruhigenden Gedanken, wir müßten heute „selbstkritisch genug sein, um anzuerkennen, daß der naive Optimismus des Konzils und die Selbstüberschätzung vieler, die es trugen und propagierten, die finsteren Diagnosen früherer Kirchenmänner über die Gefahr von Konzilien auf eine erschreckende Weise rechtfertigen. Nicht alle gültigen Konzilien sind auch kirchengeschichtlich zu fruchtbaren Konzilien geworden, von manchen bleibt am Ende nur ein großes Umsonst.“
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Alle Zitate aus „Zur Ortsbestimmung von Kirche und Theologie heute“ in Joseph Ratzinger, Theologische Prinzipienlehre, Donauwörth 2005, S. 383 – 395.