Der Vorhang des Allerheiligsten
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- 20. März 2018
Das 9. Kapitel des Hebräerbriefes enthält über die am Passionssonntag vorgetragene Ablösung des alten durch den neuen Bund hinaus noch weitere Fingerzeige auf Geheimnisse der Heilsgeschichte, die vielleicht nicht allen Adressaten des Paulusbriefes unmittelbar zugänglich waren und die heute nur mit Mühe und nicht frei von spekulativen Elementen erschlossen werden können. Ihre Bedeutung liegt darin, daß sie die tiefe Verwurzelung, die wahrhafte Inkulturation des frühen Christentums, in der jüdischen Geisteswelt zum Ausdruck bringen, ohne die die schnelle Verbreitung des Christentums zunächst in den jüdischen Gemeinden des östlichen Mittelmeerraumes kaum zu verstehen ist. Gleichzeitig sind diese Zeugnisse der Inkulturation auch Zeugnisse einer Exkulturation, die deutlich erkennen lassen, in welcher Hinsicht und wie tiefgehend sich das Christentum vom Judentum wegentwickelte.
Den Arbeiten der Alttestament-Forscherin Margaret Barker verdanken wir den Hinweis auf eine mögliche Deutung der schwer verständlichen Aussage der Verse 11 und 12 des 9. Kapitels im Hebräerbrief, wonach Christus
durch das erhabenere und vollkommenere Zelt, das nicht von Menschenhand gemacht, das heißt nicht von dieser Welt ist, ein für allemal in das Heiligtum hineingegangen (ist).
Das Bundeszelt bzw. der erste Tempel sind nach alter jüdischer Überlieferung innerhalb und außerhalb der Bücher der Bibel ein spirituelles Abbild der 7 Tage der Schöpfung. Dabei steht das Allerheiligste für den Nicht-Tag vor aller Zeit, der Gott allein kannte und der mit der Unterscheidung von Licht und Finsternis und der Erschaffung der Zeit sein Ende findet. Aus diesem Zustand vor jeder Materialität tritt die Gottheit am zweiten Tag mit der Erschaffung des Himmels und des Ur-Ozeans heraus, das ist ein Akt der Inkarnation im weitesten Sinne, und der darin liegende Übergang wird im Tempel repräsentiert durch den in den Farben aller Elemente gewirkten Vorhang. Der dritte und die folgenden Tage entfalten dann die eigentliche Schöpfung, die Erde mit ihren Kontinenten, die Pflanzen und Tiere und schließlich den Menschen. Sie alle gemeinsam bilden das Paradies, das Heiligtum des Tempels Gottes, und werden in den verschiedenen Überlieferungen unterschiedlichen Bestandteilen des Tempels zugeordnet: Der Tisch der „Schaubrote“ mit Brot, Wein und Weihrauch steht so für die Pflanzen und Früchte der Erde, des dritten Tages; der siebenflammige Leuchter für Sonne, Mond und die 5 bekannten Planeten des vierten Tages.
Dem Vorhang, der das Allerheiligste vom Heiligtum abtrennt, kommt dabei nicht nur im wörtlichen Sinne die zentrale Stellung zu. Einerseits steht er für die Materialität der Schöpfung aus dem Nicht-Materiellen. Insoweit ist er sichtbarer Ausdruck des göttlichen Seins – aber er verbirgt auch den Thron und die Wohnung der Gottheit vor den Augen der Menschen. Nur der Hohepriester darf diesen Raum betreten, und auch er nur mit der Stirnbinde mit dem unaussprechlichen Namen, was ihn auf geheimnisvolle Weise in einen vergöttlichten Zustand erhebt. Es ist daher von größter nicht nur symbolischer, sondern tatsächlicher Bedeutung, daß dieser Vorhang im Augenblick des Kreuzestodes der Länge nach zerreißt: Hier wird eine Grenze niedergerissen, die seit dem Sündenfall niemand mehr hatte überschreiten können.
Das Wissen um diese Zusammenhänge und die dazugehörigen Bilder ist nur zum Teil innerhalb der anerkannten Schriften des Alten Bundes überliefert – diese Bücher enthalten nicht primär die Theologie, sondern das Gesetz des Judentums. Anderes ist aus den apokryphen Schriften zu erschließen, die freilich ebenfalls keine theologischen Traktate sind, sondern mehr oder weniger legendenhaft ausgeschmückter Niederschlag von Volksglauben und Volksfrömmigkeit. Dieser Volksglaube wurde von den frühen Christen, zumindest denen aus dem Judentum, geteilt. Und deshalb findet sich in dem sehr legendenhaften und von der Kirche mit guten Gründen nicht in den Canon aufgenommenen Protoevangelium des Jakobus (entstanden um 160) auch eine Erzählung (Kap. 7, 10), die vermutlich nichts mit dem tatsächlichen Leben der Gottesmutter zu tun hat, aber sehr viel mit der inkarnatorischen Symbolik des Vorhangs in der Tempeltheologie. Als Maria die Botschaft des Engels empfing, war sie danach nicht beim Studium der heiligen Schriften oder im frommen Gebet, wie das auf vielen Abbildungen des Westens dargestellt ist, sondern sie war gerade im Auftrag der Tempelpriesterschaft damit beschäftigt, purpurne Fäden für den Vorhang des Tempels zu spinnen – Inkarnation.
Um zu Paulus und dem Brief an die Hebräer zurückzukehren: Christus ist der, in dem alles geschaffen ist, auf ihn deutet im alten Testament als geradezu sakramentales Zeichen auch der Vorhang des Tempels, im Alten Testament der einzige Zugang zum unzugänglichen Gott, der im Neuen Bund neu erschlossen wird.