Ephraim der Syrer
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- 05. Oktober 2020
Am 5. Oktober 1920 erhob Papst Benedikt XV. den im Osten seit alters her hoch verehrten hl. Ephraim den Syrer (Gedenktag am 9. Juni) zum Kirchenlehrer auch im Westen. Viel bekannter ist der im 4. Jahrhundert in Nordsyrien lebende vielbelesene Mönch und Lehrer dadurch bei uns nicht geworden – und das ist schade. Aus seinen in erstaunlich großem Umfang überlieferten Schriften erfahren wir viel über das Glaubensgut der späten jüdischen und der frühen christlichen Gemeinden „östlich von Rom“. Vieles, was in seitdem längst verlorenen Schriften geschrieben stand, ist nur in Ephraims Werken erhalten – teils in scharfer und oft polemischer Abgrenzung gegenüber zeitgenössischen Irrlehren. Manches davon begegnet uns in der Westkirche dann wieder in der Legenda Aurea des Iacopo a Voragine, der seinerseits zur Quelle für die gesamte europäische Erbauungsliteratur des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit wurde – im deutschen Sprachraum wirkmächtig bis ins frühe 20. Jahrhundert in den Werken Martins von Cochem.
Mit Iacopo a Voragine hat der Syrer gemeinsam, daß er einen für die frühe Zeit erstaunlich kritischen Umgang mit seinen Quellen pflegte. Er beschränkte sich nicht darauf, die vielfach orientalisch-bilderreichen Ausführungen seiner biblischen und außerbiblischen Quellen nachzuerzählen, sondern sah sie mitsamt scheinbaren oder tatsächlichen Widersprüchen im größeren Zusammenhang und versuchte dann, sich auf nachgerade rationalistische Weise einen Reim darauf zu machen - immer im Geist der Offenbarung. Das ist umso erstaunlicher, als Ephraim – darin ganz dem Orient verpflichtet – den größeren Teil seiner Werke nicht als Traktate und gelehrte Abhandlungen, sondern in der Form von Gedichten und Gesängen verfaßte. Seine Methode der Zusammenführung von in Symbolen und Bildern überlieferten Aussagen mit rationaler Betrachtung war Ephraim durchaus bewußt und Gegenstand sehr modern anmutender selbstkritischer Reflektion.
In der ersten seiner 15 „Hymnen über das Paradies“, die man als Vorwort lesen kann, schreibt er:
So stand ich halben Weges zwischen Ehrfurcht und Liebe. Das Verlangen nach dem Paradies trieb mich dazu, es zu erkunden, doch die Ehrfurcht vor seiner Majestät hielt mich zurück. In Weisheit versöhnte ich beides und blieb in Verehrung für das, was verborgen liegt, und ergründete das, was offenbart ist. Ziel meiner Suche war Gewinn (an Erkenntnis) Ziele meines Schweigens sind Trost und Hilfe. Voller Freude widmete ich mich dem Bericht (Moses) vom Paradies, ein Bericht, kurz zu lesen, aber reichhaltig zu erkunden. Meine Zunge las (die Alten lasen das Geschriebene stets halblaut sprechend) die äußere Erzählung, doch mein Geist/Verstand bekam Flügel und schwang sich voller Ehrfurcht hinauf, als er der Pracht des Paradieses gewahr wurde – nicht so, wie es in seiner Wirklichkeit ist, sondern so, soweit sein Verständnis uns Menschen gestattet ist.
Ein hoch interessantes Beispiel dafür bietet eine Überlegung, die Ephraims im 5. Hymnus im Zusammenhang mit der Beschreibung von Lage und Topographie des Paradieses anstellt. Diese Beschreibung ist ganz dem traditionellen jüdischen Weltbild verhaftet: Die Erde ist als Scheibe auf den Wassern der Urflut verankert, darüber erheben sich die Himmel der geistigen und göttlichen Wesen. Wie ein Turm ragt in der Mitte dieser Welt der Paradiesberg mit vielen Stufen auf – auch Dante hatte seinen Ephraim im Hinterkopf. Nun bietet die Lage des Paradiesberges im Zentrum der Weltenscheibe dem Verstand des Syrers ein Problem: Wie könnte der notwendigerweise begrenzte Platz dieses Berges allen Gerechten der Vergangenheit und der Gegenwart genug Lebensraum bieten? Und er findet eine Antwort, die weit über das traditionelle jüdische Weltbild hinausreicht.
So fragte ich nach dem, was nicht in der Schrift geschrieben steht, doch meine Erkenntnis kam von dem, was dort geschrieben steht:
Denk doch an den Mann, in dem eine Legion von Dämonen gewohnt hatte – man konnte sie nicht sehen, aber sie waren da, und ihr Heer ist aus einem Stoff, noch feiner und dünner als selbst die Seele. Diese ganze Armee wohnte in einem einzigen Körper – und die (paradiesischen) Körper der Gerechten sind noch hundertmal feiner und zarter. Nach der Auferstehung ähneln sie dem Menschengeist, der sich ganz nach seinem Willen ausdehnen und ausstrecken kann – oder auch zusammenziehen und konzentrieren, je nachdem. Wenn er sich zusammenzieht, nimmt er einen bestimmten Platz ein, wenn er sich ausdehnt, ist er überall.
Höre weiter und merke: wie es Lampen mit tausenden Lichtstrahlen in einem einzigen Raum geben kann, wie zehntausende von Gerüchen in einer einzigen Blüte vorkommen . Sie sind zwar nur an einer kleinen Stelle, doch sie haben weiten Raum zur Entfaltung, und so ist es auch mit dem Paradies: Zwar ist es voll mit geistigen Wesen, doch es bietet ihnen weiten Raum zur Entfaltung.
Als weitere Vergleich biete Ephraim dann noch den Platz, den die Enge des Menschenherzens einer unendliche Fülle von Gedanken bietet – und doch seien die Gedanken so grob, daß sie nie an die sublime Substanz der Bewohner des Paradieses heranreichten. Auch wenn die Ausdrucksweise den Mitteleuropäer des 21. Jh. befremden mag: Man versteht, was der Mann aus Nisibisi damit sagen will, und wenn auch das Wort zur Bezeichnung verschiedener „Existenzebenen“ seiner Zeit noch unbekannt gewesen sein mag – mit dem Begriff konnte er umgehen. Und das in einer Weise, die auch uns heutigen noch den Zugang zu Wahrheiten erleichtern, die die reine Ratio überfordern.