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Das Marienleben des Dichters

Zu Assumptio Mariæ, V

Der hier mehrfach erwähnte und zitierte Transitus Mariæ ist nicht die einzige antike Schrift, die versucht, die Heilige Schrift, die zu diesem Thema nur wenig zu sagen hat, zu „ergänzen“. Frühzeitig entwickelte sich eine umfangreiche Leben-Mariä-Literatur, die nicht nur das Leben der Gottesmutter, sondern auch das ihrer Eltern in umfangreichen Einzelheiten ausbreitete. Diese Schriften geben keine verläßliche Auskunft über das historische Geschehen, instruktiver sind sie hinsichtlich dessen, was in frühester Zeit im frommen Volk, auch in den gebildeten Kreisen, geglaubt worden ist. Dabei stehen die Inhalte dieses Glaubens in der Regel nicht im Widerspruch zu tatsächlichen Glaubenswahrheiten, und sie haben auch viel Plausibilität als Erzählungen über das Leben frommer Juden in der Zeit um oder kurz nach der Zeitenwende. Sie sind deshalb keinesfalls wertlos, aber als historische Quellen kann man sie nicht oder höchstens sehr eingeschränkt betrachten. Sie sind Literatur.

Zum Tod Mariens stimmen die frühen Schriften, das wurde hier bereits erwähnt, darin überein, daß Maria wie alle Menschen gestorben sei. Ihr Tod habe jedoch nichts von Schmerz und Not an sich gehabt, sondern sie sei in der sehnsüchtigen Gewissheit, endlich wieder den geliebten Sohn in die Arme schließen zu dürfen, entschlafen und Christus habe ihre Seele unmittelbar aufgenommen. Zur ersten Schicht der frommen Überlieferungen gehört, daß ein Engel Maria mitgeteilt habe, daß ihr Wunsch, Jesus wieder zu sehen, bald erfüllt werde. Daraufhin hätten sich die Apostel von nah und fern in ihr Haus begeben, um Abschied zu nehmen. Später kam dann noch die Ausschmückung dazu, alle Apostel seien bei ihrem Dahingang anwesend gewesen, außer jenem Thomas, der schon die erste Begegnung des Auferstandenen mit seinen Jüngern verpasst hatte. Dieser sei verspätet hinzugekommen, und als auf seinen Wunsch das Grab noch einmal geöffnet worden wäre, habe man nichts als Blumen vorgefunden. Auch von einem Testament wird dann gesprochen, das ein letzter Ausdruck der fürsorglichen Liebe der Gottesmutter für die Christengemeinde gewesen sei. Eine weitere Schicht, die man angesichts der Saulus/Paulus-Überlieferung nicht als „frühen christlichen Antisemitismus“ abtun kann, sondern als Ausfluß realer Lebenswirklichkeiten anerkennen muß, berichtet von der Bestrafung und wunderbaren Heilung eines jüdischen Würdenträgers, der sich am Trauerzug vergangen hatte. Erst später kamen dann auch die Ausschmückungen der „Himmelfahrt“ hinzu, deren barocke Spätform wir bei Martin von Kochem lesen können.

Alles in allem also ein Thema, bei dem sich das aufgeklärte westliche Bewußtsein mit Grausen abwendet und das breite kirchliche Kreise, erfüllt von Scham über und Abscheu vor dem, was frühere Jahrhunderten hoch und heilig war, seit langem unüberhörbar beschweigen.

Umso größer also das Staunen, ausgerechnet dieses Marienleben der Legende in einem großen Gedichtzyklus des 1926 gestorbenen expressionistischen Dichters Rainer Maria Rilke wiederzufinden, der – unserer überaus bescheidenen Kenntnis seines Lebenslaufes nach zu urteilen – nicht gerade zu den (wenigen) Frommen seiner Generation gehört hat. In der Annahme, damit keine Schutzrechte zu verletzen, soll hier der letzte Abschnitt (von 15!) des Zyklus vollständig wiedergegeben werden.

Wir entnehmen dem Text einer Ausgabe im Insel-Verlag, der den Dichter zuverlässig betreut. Und wir verweisen für diejenigen, die seine Musik schätzen, auf eine Vertonung des Marienlebens von Paul Hindemith, die bei Youtube in mehreren Versionen anzuhören ist.

Vom Tode Mariae

(Drei Stücke)

Derselbe große Engel, welcher einst
ihr der Gebärung Botschaft niederbrachte,
stand da, abwartend daß sie ihn beachte,
und sprach Jetzt wird es Zeit, daß du erscheinst.
Und sie erschrak wie damals und erwies
sich wieder als die Magd, ihn tief bejahend.
Er aber strahlte und, unendlich nahend,
schwand er wie in ihr Angesicht - und hieß
die weithin ausgegangenen Bekehrer
zusammenkommen in das Haus am Hang,
das Haus des Abendmahls. Sie kamen schwerer
und traten bange ein: Da lag, entlang
die schmale Bettstatt, die in Untergang
und Auserwählung rätselhaft Getauchte,
ganz unversehrt, wie eine Ungebrauchte,
und achtete auf englischen Gesang.
Nun da sie alle hinter ihren Kerzen
abwarten sah, riß sie vom Übermaß
der Stimmen sich und schenkte noch von Herzen
die beiden Kleider fort, die sie besaß,
und hob ihr Antlitz auf zu dem und dem...
(O Ursprung namenloser Tränen-Bäche).

Sie aber legte sich in ihre Schwäche
und zog die Himmel an Jerusalem
so nah heran, daß ihre Seele nur,
austretend, sich ein wenig strecken mußte:
schon hob er sie, der alles von ihr wußte,
hinein in ihre göttliche Natur.
 
 
II
 
Wer hat bedacht, daß bis zu ihrem Kommen
der viele Himmel unvollständig war?
Der Auferstandne hatte Platz genommen,
doch neben ihm, durch vierundzwanzig Jahr,
war leer der Sitz. Und sie begannen schon
sich an die reine Lücke zu gewöhnen,
die wie verheilt war, denn mit seinem schöne
Hinüberscheinen füllte sie der Sohn.

So ging auch sie, die in die Himmel trat,
nicht auf ihn zu, so sehr es sie verlangte;
dort war kein Platz, nur Er war dort und prangte
mit einer Strahlung, die ihr wehe tat.
Doch da sie jetzt, die rührende Gestalt,
sich zu den neuen Seligen gesellte
und unauffällig, licht zu licht, sich stellte,
da brach aus ihrem Sein ein Hinterhalt
von solchem Glanz, daß der von ihr erhellte
Engel geblendet aufschrie: Wer ist die?
Ein Staunen war. Dann sahn sie alle, wie
Gott-Vater oben unsern Herrn verhielt,
so daß, von milder Dämmerung umspielt,
die leere Stelle wie ein wenig Leid
sich zeigte, eine Spur von Einsamkeit,
wie etwas, was er noch ertrug, ein Rest
irdischer Zeit, ein trockenes Gebrest -.
Man sah nach ihr; sie schaute ängstlich hin,
weit vorgeneigt, als fühlte sie: ich bin
sein längster Schmerz -: und stürzte plötzlich vor.
Die Engel aber nahmen sie zu sich
und stützten sie und sangen seliglich
und trugen sie das letzte Stück empor.
 
 
III
 
Doch vor dem Apostel Thomas, der
kam, da es zu spät war, trat der schnelle
längst darauf gefaßte Engel her
und befahl an der Begräbnisstelle:

Dräng den Stein beiseite. Willst du wissen,
wo die ist, die dir das Herz bewegt:
Sieh: sie ward wie ein Lavendelkissen
eine Weile da hineingelegt,

daß die Erde künftig nach ihr rieche
in den Falten wie ein feines Tuch.
Alles Tote (fühlst du), alles Sieche
ist betäubt von ihrem Wohl-Geruch.

Schau den Leinwand: wo ist eine Bleiche,
wo er blendend wird und geht nicht ein?
Dieses Licht aus dieser reinen Leiche
war ihm klärender als Sonnenschein.

Staunst du nicht, wie sanft sie ihm entging?
Fast als wär sie's noch, nichts ist verschoben.
Doch die Himmel sind erschüttert oben:
Mann, knie hin und sieh mir nach und sing.

*

Bemerkenswert unter vielem, daß Rilke hier auch das Staunen der Engel aufnimmt, das über das Zitat aus dem Hohen Lied in die Erzählung von der Ankunft Mariens im himmlischen Hof gekommen und tatsächlich zu deren festen Bestand geworden ist: „Sagt an, wer ist doch diese, die auf am Himmel geht...“ (Textversion von 1865 mit kritischen Anmerkungen zum neukatholisch bereinigten Text im ‚Gotteslob‘ hier) Einige Apokryphen bzw. frühe literarische Ausformungen alttestamentarischer Stoffe wissen nämlich zu berichten, daß gerade Maria und ihre Gottesmutterschaft die Streitpunkte gewesen seien, denen die gefallenen Engel die Anerkennung verweigerten und die sie zur Abkehr von Gott aufstachelten. Das ist natürlich nichts als Spekulation – aber doch auch eine Facette des verbürgten Glaubens, daß die Engel Wesen großen Wissens und hohen Verständnisses sind. Und sie wussten von Anfang an, wer diese war.

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