Ein Psalm für das Leben
20. September 2024
Das in Psalm 138 ausgedrückte Wissen bewahrte Israel nicht davor, zeitweise dem Moloch-Kult seiner Nachbarn zu verfallen und die eigenen Söhne und Töchter zu Opfern. So überliefert in Ps. 107: 37.
Am Samstag den 21. finden in Köln und Berlin die diesjähren Demonstrationen von Marsch für das Leben statt. Das Lebensrecht der Ungeborenen war für Kirche und Gesellschaft in Europa lange eine Selbstverständlichkeit, die keiner besonderen Begründung zu bedürfen schien – damit ist es seit einigen Jahrzehnten vorbei. Abtreibung ist heute in Deutschland nicht nur straffrei, sondern wird zunehmend als gesellschaftlich zu garantierendes Freiheitsrecht dargestellt und auch angesehen. Die neue „Menschenrechtsreligion“, die in den Ländern des Wertewestens immer intoleranter die Achtung und Einhaltung ihrer Dogmen einklagt, betrachtet den Mord am ungeborenen Kind geradezu als eines ihrer Anti-Sakramente; den Vollzug einer Handlung, die in sinnfälligster Weise den absoluten Herrschaftsanspruch eines Menschen über „seinen“ Körper und die Zurückweisung jedes dem übergeordneten göttlichen Schöpferrechts gleichzeitig vollzieht und zum Ausdruck bringt.
Wer sich dem damit angesprochenen Thema von Seiten des Christlichen Glaubens (und dessen Vorformen im Alten Testament) nähern will, findet eine wertvolle Stütze in Psalm 138, moderne Zählweise 139, für den wir hier auf eine brauchbare deutsche Übersetzung verweisen können.
Das Thema dieses Psalms ist – ganz im Gegensatz zum Selbst-Herrschaftsanspruch des modernen Menschen, die absolute Schöpfermacht Gottes und die daraus agzuleitende natur-notwendige Gottergebenheit des Menschen.
Der Psalm wird gemeinhin und mit guten Gründen in vier Strophen zu je sechs Versen eingeteilt. Thema der ersten Strophe ist die Allgegenwart Gottes, und das nicht in einem abstrakten Sinne, sondern direkt bezogen auf den Beter und jeden anderen Menschen ebenso: Für jeden Menschen ist Gott stets gegenwärtig, alle sind in seiner Hand. Das wird zunächst einmal ohne Wertung oder Kommentar als Tatsache festgestellt, um dann in der zweiten Strophe unter dem Aspekt der Unentrinnbarkeit weiter verstärkt zu werden: Nichts, was der Mensch unternimmt, kann ihn vor dieser Gegenwart, dieser Kenntnis, und wie man vermuten darf auch vor dem Zugriff des Herrn frei machen.
Die dritte Strophe erweitert die örtliche Allgegenwart und Unentrinnbarkeit der göttichen Präsenz um die zeitliche Dimension: „Du hast mich gewoben im Schoß meiner Mutter … meine Tage waren schon gebildet, als noch keiner von ihnen da war.“ Es fällt schwer, das anders zu lesen als eine Anerkennung des Person-Charakters der Ungebornen vom Tag der Empfängnis an, und wie die jüdische Gläubige, die in ihrer Mehrheit wohl ein mehr oder weniger weitgehendes „Recht auf Abtreibung“ anerkennen, ihre Haltung mit diesen Psalmversen vereinbaren, müssen sie selbst klären. Aus christlicher Sicht scheint es angesichts dieser überaus unzweideutigen Aussage kaum einen Interpretationsspielraum zu geben. Hier die 3. Strophe ganz:
13 Du selbst hast mein Innerstes geschaffen, hast mich gewoben im Schoß meiner Mutter.
14 Ich danke dir, dass ich so staunenswert und wunderbar gestaltet bin. Ich weiß es genau:
Wunderbar sind deine Werke.
15 Dir waren meine Glieder nicht verborgen, als ich gemacht
wurde im Verborgenen, gewirkt in den Tiefen der Erde.
16 Als ich noch gestaltlos war,
sahen mich bereits deine Augen. In deinem Buch sind sie alle verzeichnet: die Tage, die schon
geformt waren, als noch keiner von ihnen da war.
Mit der über vier Verse ausgebreiteten liebevollen Beschreibung des Werdens eines neuen Menschen im Mutterleib und der Vorausschau Gottes auf dessen kommenden Tage „als noch keiner von ihnen da war“, ist die Personalität des Embryos und dessen Kontinuität mit dem geborenen Kind überaus klar ausgesprochen. Zwar kann man in den Versen auch einen gewissen Widerspruch finden, wenn in Vers 13 als Ort des Geschehens der Schoß der Mutter angesprochen wird, während in Vers 15 vom „Dunkel in den Tiefen der Erde“ die Rede ist. Aber der Widerspruch ist keiner: Soviel Freiheit für den poetischen Ausdruck muß schon sein, zumal nach dem ebenfalls in Bildern sprechenden Schöpfungsbericht Adam Erdensohn ja ebenfalls aus „Lehm“, d.h. aus der formbaren Materie der Erde geschaffen wurde.
Zwei folgende Verse fassen den Inhalt dieser und der vorangehenden Strophen in einem Satz zusammen, der sowohl das Staunen über die Geheimnisse Gottes als auch die Bereitschaft zu deren Anerkennung – auch da, wo sie noch unbekannt sind – zum Ausdruck bringt:
17 Wie kostbar sind mir Deine Gedanken, Gott! Wie gewaltig ist ihre Summe!
18 Wollte ich
sie zählen, sie sind zahlreicher als der Sand. Ich erwache und noch immer bin ich bei Dir.
Der kleinere zweite Teil des Psalms (V. 19 – 24) verläßt den Rahmen dieser Gedanken und geht dann in einer charakteristisch alt-testamentlichen Weise zu der Bitte, ja der Forderung an den Herrn über, er möge der soeben zum Ausdruck gebrachten Einsicht auch verbindlichen Nachdruck verleihen und die „Frevler“ die die Oberheit Gottes nicht anerkennen und den Frommen so viel Leid zufügen, aus der Welt schaffen. Die weitergehende Einsicht, daß der Herr die Anerkennung seiner Oberheit eben nicht durch unwiderstehlichen Zwang, sondern aus innerer Einsicht sehen will, und daß das den „Frommen“ widerfahrende Leid und der nicht endende Kampf gegen das Böse mit ihren Platz in seinem Plan haben, ist den Psalmendichtern vor der Vollendung der Offenbarung in Christus noch weitgehend unzugänglich.
Weitergehende Ausführungen zu diesem und den anderen Psalmen finden Sie auf dem Psalterium.
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