Allerseelen-Tag und Tag des Gerichts
02. November 2024
„Dies iræ, dies illa“
Ein Jahrtausend lang sang die Kirche zur „Totenmesse“ die große Sequenz des Dies iræ, die in ihrer heutigen Form wohl auf Thomas v. Celano (1190 - 1260) zurückgeht, tatsächlich aber noch ältere Wurzeln hat. Diese Sequenz zeichnet ein erschütterndes Bild vom Gericht, das jedem Menschen und der ganzen Welt bei ihrem Ende bevorsteht — und vermittelt und begründet gleichzeitig die erwartungsfrohe Hoffnung, daß der Erlöser all die, die an ihn glauben und und ihm auch in ihrem Handeln folgen, vor dem ewigen Untergang bewahren wird, tatsächlich schon bewahrt hat.
Eine Kirche, die sich immer mehr der Welt und immer weniger dem Überweltlichen zuneigt, kann die darin liegende Wahrheit und den darin liegenden Trost kaum noch wahrnehmen. Im irreleitenden Bestreben, ihren Mitgliedern jede Beunruhigung durch die „letzten Dinge“ zu ersparen, hat sie in der nachkonziliaren Liturgiereform neben vielen anderen Elemente ihrer Fürbitte und ihres Totengedenkens auch diese große Dichtung aus der offiziellen Liturgie gestrichen - einer der größten Veluste, den sie ihrem Gottesdien und ihren Gläubigen zufügen konnte, überhaupt.
„Verboten“ hat sie dieses Lied entgegen anderslautenden Gerüchten jedoch nicht, hätte wohl auch kaum dazu die Vollmacht. Als „Sequenz“ nach der Epistel darf sie bei Befolgung des offiziellen Ritus nicht mehr gebraucht werden, aber als „ein anderes geeignetes Lied“ kann sie auch in der Messfeier nach dem Novus Ordo an jeder Stelle eingefügt werden, an dem die Variantenwillkür dieses „Ordo“ das zuläßt - und davon gibt es mehr als genug.
Hier die Sequenz in einer traditionellen Übersetzung, die unter anderem durch den
vorkonziliaren „Schott“ große Verbreitung gefunden hat. Lateinisch und (in den am Fuß der Seite
angelinkten Scholien) in einer ungereimten, aber wörtlicheren Übersetzungen auf dem
Hymnarium. Die traditionelle Version:
Dies iræ, dies illa
Tag des Zornes, Tag der Sünden,
Wird das Weltall sich entzünden,
Wie Sibyll und David künden.
Welch ein Graus wird sein und Zagen,
Wenn der Richter kommt, mit Fragen
Streng zu prüfen alle Klagen!
Laut wird die Posaune klingen,
Durch der Erde Gräber dringen,
Alle hin zum Throne zwingen.
Schaudernd sehen Tod und Leben
Sich die Kreatur erheben,
Rechenschaft dem Herrn zu geben.
Und ein Buch wird aufgeschlagen,
Treu darin ist eingetragen
Jede Schuld aus Erdentagen.
Sitzt der Richter dann zu richten,
Wird sich das Verborgne lichten;
Nichts kann vor der Strafe flüchten.
Weh! Was werd ich Armer sagen?
Welchen Anwalt mir erfragen,
Wenn Gerechte selbst verzagen?
König schrecklicher Gewalten,
Frei ist Deiner Gnade Schalten:
Gnadenquell, lass Gnade walten!
Milder Jesus, wollst erwägen,
Dass Du kamest meinetwegen,
Schleudre mir nicht Fluch entgegen.
Bist mich suchend müd gegangen,
Mir zum Heil am Kreuz gehangen,
Mög dies Mühn zum Ziel gelangen.
Richter Du gerechter Rache,
Nachsicht üb in meiner Sache
Eh ich zum Gericht erwache.
Seufzend steh ich schuldbefangen,
Schamrot glühen meine Wangen,
Lass mein Bitten Gnad erlangen.
Hast vergeben einst Marien,
Hast dem Schächer dann verziehen,
Hast auch Hoffnung mir verliehen.
Wenig gilt vor Dir mein Flehen;
Doch aus Gnade lass geschehen,
Dass ich mög der Höll entgehen.
Bei den Schafen gib mir Weide,
Von der Böcke Schar mich scheide,
Stell mich auf die rechte Seite.
Wird die Hölle ohne Schonung
Den Verdammten zur Belohnung,
Ruf mich zu der Sel'gen Wohnung.
Schuldgebeugt zu Dir ich schreie,
Tief zerknirscht in Herzensreue,
Sel’ges Ende mir verleihe.
Tag der Tränen, Tag der Wehen,
Da vom Grabe wird erstehen
Zum Gericht der Mensch voll Sünden;
Lass ihn, Gott, Erbarmen finden.
Milder Jesus, Herrscher Du,
Schenk den Toten ew’ge Ruh.
Amen
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