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Zwischen Armenbibel, Allegorese
und „Deutschem Messbuch“

05. April 2024

1 Liturgie

Blick auf den Altar während der Messe
Eine typische Doppelseite aus Flurheyms Messbuch von 1529

Das relativ hohe Alter der in unserem Beitrag vom 3. April erwähnten volkssprachlichen „Meßandachten“ auf der Grundlage allegorischer Betrachtung (Franz v. Sales zu Beginn des 17. Jh., Martin v. Cochem Ende des 17. Jh.) kann zu der Annahme führen, daß solche Andachtsbücher zur Messfeier ein Vorläufer der „richtigen“ deutschen Messbücher gewesen wären. Diese treten erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in größerem Umfang in Erscheinung, oft auch in zweisprachiger Ausführung lateinisch-deutsch und galten seit der Liturgischen Bewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vielfach als der ideale, wenn nicht als der einzig zulässige Begleiter des katholischen Messbesuchers. Die Annahme einer fortschreitenden Entwicklung von der Messerklärung zum volkssprachlichen Missale ist jedoch historisch wohl kaum haltbar, und ein Rückblick auf die sehr unterschiedliche Geschichte von Messbüchern und Messerklärungen informiert nicht nur über Vergangenes, sondern wirft auch Licht auf einige Probleme des Mittvollzugs der Liturgie, die bis in die Gegenwart weiter bestehen. Probleme, die auch durch den Nachvollzug der Heiligen Handlung durch Verwendung eines muttersprachlichen Missales (oder letztlich durch den Übergang der Liturgie zur Volkssprache insgesamt) nicht aus der Welt geschafft werden konnten.

Für den deutschen Sprachraum ist der 1884 in erster Auflage erschienene „Schott“ ist das bekannteste Beispiel eines solcher „richtigen“ Messbücher für das Volk, aber nicht das älteste. Schon 1877 war das „Messbuch für das katholische Pfarrkind“ von P. Georg Michael Pachtler S.J. erschienen, ebenfalls zweisprachig. Noch ein gutes Stück früher, nämlich 1851, das einsprachige „Missale – Meßbuch für das katholische Kirchenjahr und die Feier des christlichen Morgens“ von dem auch als Übersetzer und Kommentator der hl. Schrift hervorgetretenen Theologen Wilhelm Karl Reischl. Allerdings war die Ver­breitung dieser mehr oder weniger eng dem offizielen Missale folgenden Ausgaben – insbesondere der zweisprachigen – weitgehend auf das „gebildete Bürgertum“ einge­schränkt. Im „einfachen Volk“ blieben bis ins 20. Jahrhundert hinein die „Meßandach­ten“ deutlich weiter verbreitet. Die letzten Auflagen der besonders beliebten „Meßerklä­rungen und Meßandachten“ des Martin von Cochem erschienen noch in den 50er Jahren, doch da hatten „Schott“ und „Bomm“ schon längts die Führung, zumindest die Marktführung, übernommen und die vorher führenden Andachtsbücher zurückge­drängt.

Allerdings reicht die Geschichte der dem Missale Romanum folgenden „Deutschen Meßbücher“ insgesamt noch deutlich vor die Zeit der populären „Meßerklärungen und -Andachten“ zurück. Tatsächlich sogar noch vor die Zeit der Reformatoren, die dann später den Gottesdienst in der Volkssprache geradezu zum Markenzeichen und einer der Haupttriebkräfte der Verbreitung ihrer Lehren machen sollten. Erste Bücher, die man mit einigen Einschränkungen als Messbücher in deutscher Sprache bezeichnen kann, waren die sogenannten „Plenare“ mit den vollständig übersetzten Proprien der Sonn- und Feiertage. Sie wurden noch vor der Erfindung des Buchdrucks als Handschriften zu Papier/Pergament gebracht und waren je nach Abfassungsort in einem Deutsch geschrieben, das man schon hundert Kilometer entfernt kaum noch hätte verstehen können – wenn die wertvollen Handschriften denn überhaupt so weit gewandert wären. Älteste Exemplare solcher „Plenare“ gehen bis in die späten Jahre des 14. Jahrhunderts (ab etwa 1375) zurück – ein gutes Jahrhundert vor Luthers Predigten und seiner „Deutschen Messe“.

Die Illustration zur allegorischen Meßerklärung versteht auch das lange analphabetisch gebliebene „einfache Volk“.

Die Abfassung dieser Messbücher als Handschriften gibt einen klaren Hinweis darauf, für welchen Leserkreis diese Bücher bestimmt waren: Es waren Adlige, und dort vor allem die Damen, die die Mittel besaßen, solche Bücher in Auftrag zu geben oder abschreiben und zur Not auch noch vorlesen zu lassen, und die das Bedürfnis empfanden, der Messe – der sie oft täglich beiwohnten – auch inhaltlich und über das in der Predigt gesagte hinaus zu folgen. Adlige waren denn auch zunächst Auftraggeber und Zielgruppe für die die ersten etwa hundert Jahre später für den Druck (Gutenberg-Bibel: 1454) erstellten und tatsächlich auch verbreiteten deutschen Messbücher. Sie fanden schon erste Interessenten und Käufer im gut betuchten Bürgertum, zumal sie nicht wie in Klöstern, Kathedralen und Schlössern üblich im zentnerschweren Folio-Format herauskamen, sondern in einem dem heutigen Schott ganz ähnlichen „Duodez-Format“. So konnte man sie auch tatsächlich beim sonntäglichen Kirchgang mitnehmen, wie einer der Verleger ausdrücklich feststellte. Bekanntester Vertreter dieser Art ist Flurheyms Deutsches Messbuch, das 1529 unter dem schönen Titel erschienen ist:

Es begint ein Zitat

„Alle Kirchen Gesänge und Gebeet des gantzen Jars / von der hailigen Christenlichen Kirchen angenommen / und bißher in löblichem brauch erhalten / Vom Introit der Mess bis auf die Complent. Darneben die Benedeyung der Liechter / der Palmen / des Feüers / des Osterstocks / der Tauff / und der Kreütter.“

Auf mehr als 1000 Seiten – die Seitenzahlen waren noch nicht erfunden, die Ordnung war im großen Ganzen kalendarisch – enthält es die größtenteils auch heute noch leicht wiedererkennbaren Proprien des vor-tridentinischen Gebrauchs und einige Gebete – Stichwort: Tauff – zu Sakramente und Sakramentalien.

Das schönste an Flurheyms Gebetbuch ist jedoch, daß 1965 der Verlag Ars Liturgica in Maria Laach davon einen solide gebundenen und gut lesbaren Faksimile-Nachdruck in schwarz-weiß anfertigen ließ, der im Antiquariatshandel zu Preisen zwischen 30 und 50 Euro zu bekommen ist. S. Abbildung oben.

Wieviel ein solches Buch wohl in der ersten Hälfte des 16. Jh. gekostet haben mag, war nicht zu ermitteln, aber offenbar war genug zahlungskräftige Nachfrage vorhanden, daß im Lauf des 16. Jh. mehrere derartige „Volksmissales“ erschienen und in größeren Auflagen verbreitet wurden. In einigen Regionen spielten sie eine wichtige Rolle bei der Verteidigung des Glaubens gegen reformatorische Irrlehren und später bei der Gegenre­form. Den Bedürfnissen ihrer Käufer und Benutzer, die zwar einigermaßen lesefähig waren, aber über keine besondere Bildung verfügten – die gebildete Welt verständigte sich nach wie vor auf Latein – kamen zumindest die Verleger des Flurheymschen Meßbuchs dadurch entgegen, daß sie das Missale in einem ganz ungewöhnlichen Ausmaß grafisch gestalteten: Sie machten im Text viele Überschriften, verwandten viele kurze Sätze und viele Absätze – alles in der Zeit der Handschriften und frühen Drucke äußerst unüblich. Und vor allem: Zu jedem Evangelium, aber auch zu besonderen Festen und Jahresabschnitten, spendierten Sie den Betern fast ganzseitige Illustrationen, die denen, die beim Lesen Schwierigkeiten haben mochten, auf die Sprünge halfen.

Seite aus einer spanischen Armenbibel des 15. Jh.

Mit diesen Illustrationen konnten sie am Konzept der „Armenbibel“ anknüpfen, mit dem ganze Generationen von pflichtbewußten Pastoren in der Zeit vor Buchdruck und „Plenarien“ ihren in der Regel analphabetischen Pfarrkindern die Haupterzählungen der Heiligen Schrift und die Grundsätze des Glaubens nähergebracht hatten. Insofern also ein außerordentlich glücklicher Kompromiß – wenn es nicht eben doch um die Lesefähigkeit des überwiegenden Teils der Bevölkerung gar so schlecht bestellt gewesen wäre. Für sie blieb es bei der „Armenbibel“ und ähnlichen Konzepten, die dann auch zur Verbreitung der allegorischen Meßerklärung bei den Schichten eingesetzt wurden, deren Lesefähigkeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nicht zur Verwendung eines muttersprachlichen Messbuchs ausgereicht hätte. Die „bessergestellten“ und vor allem „bessergebildeten“ freundeten sich demgegenüber fortschreitend mit dem Konzept des Mitlesens und Mitbetens der authentischen Messtexte an – für ehemalige Schüler des altsprachlichen Gymnasiums vorzugsweise zweisprachig.

Im gleichen Maß, wie der möglichst wörtliche Text an Bedeutung zulegte, scheint dann der Stellenwert der anschaulichen Elemente – Illustrationen, Vignetten, Schmuckleisten – geringer geworden zu sein. Ein Schott aus den 30er Jahren und dann ein „reformierter“ aus den 90ern - nur noch reine Bleiwüste. Oder beim „Gotteslob“ alles voller Notenbilder – und das für Messteilnehmer, die zu 95% keine Noten lesen können. Abstrakt und verfremdet bis zum geht nicht mehr – aber in Volkssprache! Wären da nicht vielleicht doch die anspruchslosen Zeichnungen vom unten gezeigten Blatt mit den Messallegorien erfolgversprechender?

Blick auf den Altar während der Messe
Seite aus einer spanischen Armenbibel des 15. Jh.

Hier scheint etwas ganz gewaltig schief gegangen zu sein, und ein wenig beschleicht einen der Verdacht, die „Gebildeten“, im Umgang mit Text und Sprache Geschulteren und auch ganz allgemein „Bessergestellten“ in der Gemeinde der Frommen hätten ihre unter diesen glücklichen Umständen am Text geschulte „Spiritualität“ so verabsolutiert, daß sie glaubten, diese auch den weniger begünstigten auferlegen zu müssen. Und mit der Liturgiereform und deren anschließender gewaltsamer Durchsetzung auch auferlegt haben. Als ob es nur eine einzige Spiritualität und einen einzigen Zugang zu den Geheimnissen des Messopfers geben könnte – und als ob alle Kirchenwände weiß gekalkt, alle Bewegungen streng normiert und alle Texte in Futura mager gesetzt werden müßten.

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