Durandus von Mende über den Sonntag Septuagesima
17. Februar 2025

Der Introitus: Circumdederunt me dolores mortis...
Ausgehend vom aus dem Psalm 17 genommenen Introitus „Circumdederunt me“ des Sonntags Septuagesima erklärt Durandus von Mende (1230 – 1296) die Bedeutung der Tagesliturgie und letztlich der ganzen Vorbereitungszeit auf Ostern unter Bezug auf die Heilsgeschichte des Alten Bundes. Zur Begründung verweist er darauf, daß an Septuagesima im Stundengebet ein neuer Lesungszyklus mit dem Buch Genesis und der Erschaffung der Welt einsetzt. Das ist in zweifacher Weise typisch für die frühe Literatur zur Liturgierklärung: Sie nimmt die ganze Liturgie in ihrer Einheit von Stundengebet und Messliturgie in den Blick, und ebenso betrachtet sie auch in Allegorie und Assoziation die ganze heilige Schrift des alten und des neuen Bundes als Einheit. Und so beginnt das 25. Kapitel seines 6. Buches der Liturgierklärung folgendermaßen:
Siebenzig Jahre lang dienten die Kinder Israels dem König von Babylon, dann wurden sie erlöst und kehrten nach Jerusalem zurück. Ebenso müssen wir selbst dieses ganze Leben lang dienen, entweder als Strafe für unsere Fehler oder zumindest aus Notwendigkeit. Aus diesem Grund hält die Kirche, die sozusagen in der Knechtschaft Babylons, also in dieser Welt, gefangen ist und Buße tun möchte, damit sie eines Tages freigelassen werden und in das himmlische Jerusalem kommen kann, die siebzig Tage der Septuagesima ein. Deshalb beginnt Sie mit der Lesung der fünf Bücher Mose, in denen Schritt für Schritt der Nutzen der Buße wie folgt dargelegt wird.
Das erste Buch, nämlich Genesis, unterweist uns in den ersten Phasen der Buße, nämlich im Glauben und in der Furcht des Herrn – sie sind das Wesen der Buße, durch sie wird der Grund für die Bußgesinnung gelegt. Es unterweist uns im Glauben auf die gleiche Weise wie das Glaubensbekenntnis, denn was dort gesagt wird, „von den sichtbaren und unsichtbaren Dingen“, wird auch hier gesagt: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“, das heißt den empirischen Himmel und die Dinge, die darin sind, die unsichtbar sind, und die Erde, das heißt alle diese sichtbaren Dinge. So wie im Glaubensbekenntnis die Personen des Vaters und des Sohnes erwähnt werden, so schuf auch in der Genesis „Im Anfang“ (das heißt im Sohn) Gott (das heißt der Vater) Himmel und Erde. Danach wird auch die Person des Heiligen Geistes genannt, wenn es heißt: „Und der Geist des Herrn schwebte über den Wassern “, also der Heilige Geist, der alles erschaffen hat und über alles herrscht.
Es unterweist uns auch im Glauben an die Menschwerdung und das Leiden, damit wir glauben können, daß Christus insofern gelitten hat, als er ein Mensch ist, und nicht insofern, als er Gott ist; Dies wird versinnbildlicht durch Isaak, der nicht geopfert wurde, sondern ein Widder an seiner Stelle. Wiederum lehrt es uns zu glauben, daß Christus aus Gnade gegeben wurde und nicht um unserer Verdienste willen, wie Isaak (Abraham aus Gnade gegeben wurde). Es lehrt uns auch den Glauben an die Auferstehung und Himmelfahrt und die Aussendung des Heiligen Geistes durch die Gestalt Josefs, der nach seinem Verkauf in Ägypten erhöht wurde und Weizen im ganzen Land verteilte. Ebenso wurde auch Christus nach dem Verkauf (für 30 Silberlinge) in der Welt erhöht und verteilte den Weizen, nämlich das das Wort Gottes durch seine Prediger in der ganzen Welt – und auch dessen Ursache war die Auferstehung, die Himmelfahrt und die Aussendung des Heiligen Geistes.
Die Furcht des Herrn erfahren wir in der Gestalt Adams, nämlich daß wir durch das Laster der Völlerei oder durch Ungehorsam aus dem geistigen Paradies vertrieben werden, so wie er aus dem irdischen Paradies vertrieben wurde. In der Gestalt Kains erfahren wir die Mahnung, uns vor Mord zu hüten; in dem Strafgericht über die Städte, die völlig zerstört wurden, sich vom Laster Sodoms fernzuhalten; und in der Großen Flut, sich aller Laster zu enthalten. Die Gestalt von Esau lehrt uns, das Laster der Völlerei zu meiden, da er aus Gier sein Erstgeburtsrecht gegen ein Linsengericht an Jakob verkaufte.
Und so lesen wir das Buch Genesis, in dem es um die Vertreibung der Stammeltern aus dem Paradies geht, weil es uns an an das Elend erinnert, das uns wegen der Sünden unserer Eltern widerfährt. Um zu erfassen, wie groß unser Elend ist, lesen und singen wir zunächst (in den Responsorien) über die Würde des Menschen, nämlich daß er nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen wurde, daß er ins Paradies gesetzt wurde, daß ihm eine Gefährtin geschaffen wurde und daß er weder den Tod noch eine andere Strafe erleiden mußte – es sei denn, sie gründe in eigener Schuld.
Der Introitus der Messe lautet nun „Das Stöhnen des Todes hat mich umgeben“, darin bekennt die Kirche, daß sie wegen der Sünden Not und Bedrängnisse erleidet, als da sind: Hungersnot, Dürre, Hitze, Kälte, Erschöpfung, Siechtum und sogar Tod. Bosheit, Bitterkeit, Gestank und Finsternis – das sind die Übel der Hölle. Doch damit dieser Jammer in uns nicht Trägheit oder Traurigkeit bewirkt, die zum (geistlichen) Tod führten, spricht sie in dem Vers vom Trost: „Ich werde dich lieben, o Herr, meine Stärke.“ …
Man beachte, daß diese Worte (des Introitus) auch die Stimme der Frühen Kirche im Gebet mit dem vorbildhaften Proto-Martyrer Abel ist, dessen Blut von der Erde zum Herrn schrie, worauf dieser seinen Mund auftat und ihn (als Opfer) aus der Hand seines Bruders Kain aufnahm. Aus diesem Grund wird die Statio am Grab des heiligen Laurentius begangen, dessen kostbarer Tod durch ein neues und beispielloses Leiden zum Himmel schrie und in der ganzen Welt gehört wurde, so daß die römische Kirche vor allen anderen durch ihre Märtyrer beglaubigt ist.
(Text: Gulielmus Durandus, Rationale Divinorum Officiorum, 6, 25, 1-4; eigene Übersetzung unter Zuhilfenahme der Wiedergabe auf New Liturgical Movement.)
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Die Abbildung aus dem Graduale von Einsiedeln (Codex 121, 2. Hälfte 10. Jh.) zeigt den Anfang des Introitus „Circumdederunt me“ vom Sonntag Septuagesima in einer mit Neumen zur ungefähren Angabe der Melodie versehenen Handschrift. Nähere Ausführungen zur Neumenschrift speziell für diese Antiphon finden sich in diesem Artikel (in französischer Sprache).
Quellenangabe zum Bild: Stiftsbibliothek Einsiedeln, Codex 121(1151), S. 81 – Graduale – Notkeri Sequentiae.