„Was früheren Generationen heilig war, bleibt auch uns heilig und groß; es kann nicht plötzlich rundum verboten oder gar schädlich sein.“
Papst Benedikt XVI. 2007 zu Summorum Pontificum.

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Von Gideon und Joshua zu Anna und Simeon

Bild: Apers Jozef, Wikimedia Commons, CCASA 4.0Der Eintrag im Martyrologium Romanum zum 1. September ist einer der längsten, denen wir bisher begegnet sind. Er enthält eine große Zahl von Märtyrern und Märtyrerinnen der Verfolgungszeit aus vielen Provinzen des römischen Reiches von Kleinasien bis Spanien. Aus „Aquas Duras in Constantiensi Germaniae territorio“ (Heute Bad Zurzach, etwa mittig zwischen Konstanz und Basel auf der schweizer Seite der Grenze), ist die heilige Einsiedlerin Verena (Feiertag in den Bistümern Basel und Freiburg) genannt. Sie soll, so will es die Überlieferung, im Tross der weitgehend aus Christen bestehenden Thebäischen Legion aus ihrer ägyptischen Heimat nach Gallien gekommen und nach deren Abschlachtung in der Christenverfolgung Diokletians mit den Resten der Legion in Alemannien „untergetaucht“ sein. Sie widmete sich dort der Pflege von Verwundeten und Kranken und gewann durch ihren frommen Lebenswandel und Wunderheilungen das Vertrauen der noch heidnischen Alemannen, an deren schließlicher Bekehrung ihr maßgeblicher Anteil zugeschrieben wird.

Doch nicht diese bemerkenswerte Frauengestalt – über die selbst man wenig mehr als das oben Angeführte mit einiger Sicherheit aussagen kann – findet unsere besondere Aufmerksamkeit, sondern der knappe Zweizeiler:

In Palaestina sanctorum Josue et Gedeonis; Hierosolymis beatae Annae Prophetissa, cujus sanctitatem sermo Evangelicus prodit.

Die Prophetin Anna von Jerusalem ist natürlich keine andere als die fromme „Witwe von 84 Jahren“, von der das Lukasevangelium (2, 36 – 38) berichtet, die seit langem im Tempel lebte und bei der Darbringung des Jesuskindes hinzukam und „Gott lobte und von ihm zu allen redete, die auf die Erlösung Israels warteten“. Der bei der gleichen Gelegenheit auftretende „Greis Simeon“ (Lukas i2, 25 – 34), dem die Kirche das „Nunc dimmitis“ verdankt, wird in unserem Martyrologium am 8. Oktober genannt. Bei beiden gelten die angeführten Tage in der Überlieferung als „dies natalis“ – als Tag des Weggangs von der Erde und Hinübergeburt in die ewige Herrlichkeit.

Hier geht es weiterAußer bei Lukas, der den „Zeugen des Übergangs“ (neben Anna und Simeon natürlich die Gottesmutter selbst und ihre Eltern Elisabeth und Zacharias, Johannes der Täufer und schließlich der „guten Schächer“) besondere Aufmerksamkeit widmet, sind Simeon und Anna in den kanonischen Schriften nirgendwo erwähnt; ihre Todestage stammen aus der viel später entstandenen erbaulichen Apokryphenliteratur. Trotzdem gibt es keinen Grund, ihre Historizität in Frage zu stellen. Moderne Fassungen des Martyrologiums weisen ihnen als gemeinsamen Feiertag den 3. Februar zu – entsprechend dem 40. Tag nach der Geburt, wie man aus den Vorschriften des Gesetzes in Leviticus (12, 2 – 4) ableiten kann. Das passt alles gut zusammen.

Von den beiden andere Gestalten – Gideon und Joshua – die dem Alten Testament angehören, kann man das so nicht sagen. Nach der traditionellen jüdischen Datierung hätte Joshua im 15. vorchristlichen Jahrhundert gelebt, und das ist eine Zeit, über die wir außerhalb dessen, was das Alte Testament selbst sagt, sehr wenig wissen – und die Bibel ist nun einmal kein Geschichtsbuch in dem Sinne, wie wir es heute gerne hätten. Nach den Büchern des Pentateuch war Joshua ein enger Diener, Vertrauter und Mitstreiter des Mose. Das dem Pentateuch unmittelbar folgende Buch Joshua beschreibt, wie er dann als Nachfolger Moses– der auf Grund seiner Zweifel das gelobte Land selbst nicht betreten durfte – das Volk nach den langen Jahren der Wüstenwanderung endlich in dieses Land hineinführt, seine Könige besiegt und seine Städte erobert.

Einerseits ist Joshua eine Erlösergestalt, fast noch bedeutender als der Befreier und Gesetzgeber Moses. Er führt im Prinzip den gleichen Namen wie später Jesus – das eine ist die hebräische, das andere die gräzisierte Form für „jehosua“ – „Jahwe ist der Retter“. Auf der anderen Seite ist Joshua ein bronzezeitlicher Stammesführer mit durchaus bronzezeitlichen Sitten und Gewohnheiten. Das gilt besonders auch hinsichtlich der Kriegführung, die unter dem Grundsatz des hêrem stand – der völligen Austilgung des Gegners und „Reinigung“ des Landes – und die das auch noch als „praktische Liturgie“ (man denke an die Trompetenprozession von Jericho!“ und „Gottesdienst“ im Sinne des Wortes wahrnahm.

Das eine – die erlösende Beendigung des Wüstenzuges und die Namensgleichheit mit dem Messias – macht die Aufnahme dieses Helden der Vorzeit in das Verzeichnis der Heiligen, die ihr ganzes Leben der Verwirklichung von Gottes Willen weihten, geradezu zwangsläufig. Das andere jagt uns kalte Schauer über den Rücken. Joshua mag in gewisser Weise eine Vorgestalt Jesu gewesen sein – das Vorbild war er sicher nicht. In anderthalbtausend Jahre währender „Erziehungsarbeit“ nach Joshua hat dann der Herr sein Volk oder zumindest dessen beste Vertreter auf eine Ebene emporgehoben, die sicher noch keinen Endzustand der Geschichte markierte, aber doch weit über die bronzezeitlichen Rohheiten hinausragte. Joshua weist auf Jesus hin – aber Jesus ist auch in fast allem sehr anders.

Mit diesem Entwicklungsprinzip und den darin aufscheinenden Widersprüchlichkeiten müssen wir leben. Es schamhaft unsichtbar zu machen, indem wir Joshua und Co aus dem Martyrologium und dem Gedächtnis streichen hilft da nicht nur keinen Schritt weiter – es beraubt uns auch wertvoller Erkenntnismöglichkeiten. Haben wir denn irgendeinen Grund zu der Annahme, heute schon am Endpunkt des göttlichen Erziehungsprozesses angelangt zu sein? Oder gar in die Erzieherrolle selbst überwechseln zu können? Neue Gebote zu erfinden und alte Gebote zu verwerfen?

Zur Historizität Gideons, des zweiten alttestamentarischen Heiligen des Tages, gilt das Gleiche wie bei Joshua. Historische Erinnerung und mythische Elemente greifen hier unentwirrbar ineinander, und letztlich interessiert uns ja auch nicht die kaum greifbare konkrete Person des 14. vorchristlichen Jahrhunderts, sondern die Gestalt, die unter diesem Namen im ersten Buch der Richter gezeichnet wird.

Danach war Gideon der erste der sogenannten „Richter“ Israels – eine Art „Reichsverweser“, die im Auftrag und an Stelle des eigentlichen Gottkönigs Jahweh das auserwählte Volk leiteten und regierten. Bei „Richter“ darf man also nicht an einen Juristen im heutigen Verständnis denken, der hinter Gesetzbüchern sitzt und Urteile fällt. Die Richter Israels waren die „Richtigmacher“, die alles, was irgendwie krumm und schief war, wieder „richteten“ und das, was ihnen als Gottes Wille erschien, mit aller Macht durchsetzten. Dabei war Gideon in erster Linie der Fortsetzer des von Joshua begonnenen Werkes der Eroberung und Reinigung des gelobten Landes. Als Eroberer besiegte er – mit Gottes Hilfe und auf wunderbare Weise, wie ausführlich geschildert wird – die midianitischen Fürsten im Südosten des Landes. Im Wissen darum, daß er den Sieg allein Jahweh zu verdanken hatte, lehnte er die ihm vom Volk angebotene Königswürde ab – nicht freilich die damit verbundene Machtstellung.

Als „Reiniger“ zerstörte Gideon die Tempel und Götzenbilder des Baalskultes – doch aus dem im Krieg erbeuteten Gold ließ er ein Objekt schaffen, das – wenn nicht von ihm selbst, dann doch im Volk – als Gottesbild angesehen und angebetet wurde. Das Buch der Richter berichtet dazu lakonisch „Und ganz Israel trieb dort damit Abgötterei. Das brachte Gideon und sein Haus zu Fall“ (Ri 8,27). Die Gottesliebe des Gideon war grenzenlos – aber doch auch im höchsten Maße unvollkommen. Selbst als Zerstörer der Baals-Bilder hatte er offenbar nicht wirklich verstanden, was das Gebot Jahwehs bedeutete: Du sollst dir kein Bildnis machen und keine anderen Götter neben mir haben.

Diese Grenzenlosigkeit auf der einen und Unvollkommenheit auf der anderen Seite ist geradezu das Kennzeichen der Heiligen des Alten Bundes. Wenn die Kirche sie ausweislich des älteren Martyologiums unter die Heiligen zählt, dann nicht, um sie uneingeschränkt als Vorbilder zu empfehlen. Das tut sie tatsächlich bei keinem ihrer Heiligen. Aber sie würdigt die Rolle, die solche Gestalten – im Rahmen ihrer schwachen Möglichkeiten – im Vollzug der Heilsgeschichte gespielt haben, bis sie mit anderen Gestalten wie Anna und Simeon ihrer Erfüllung nahekam.

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