Der Streit um das Konzil
Joseph Ratzinger 1988 vor den Bischöfen Chiles.
9. 2. 2009
Joseph Ratzinger Anfang der 90er Jahre
Wir müssen die Dimension des Heiligen in der Liturgie zurückerobern
Als erstes möchte ich Ihnen von ganzem Herzen für Ihre liebenswürdige Einladung danken, Ihr Land zu besuchen, und auch für diese Gelegenheit zu brüderlicher Begegnung und Dialog. Ich mache mir keine Illusionen, ein Land während eines Aufenthalts von einigen wenigen Tagen kennenlernen zu können, aber dennoch ist es mir sehr wichtig, die Gelegenheit zu haben, die Orte zu sehen, wo Sie arbeiten, und in gewissem Maße selbst die Atmosphäre des kirchlichen Lebens hier zu erfahren.
Ich möchte Ihnen mit diesen Worten den Dialog sehr ans Herz legen, den wir miteinander führen wollen. Ich nutze im allgemeinen die Gelegenheit einer solchen Begegnung, um kurz einige der wichtigsten Fragen der Arbeit der Kongregation zu erläutern. Doch das durch die Bischofsweihen vom 30.Juni offensichtliche Schisma bewegt mich dazu, dieses Mal mit dieser Gewohnheit zu brechen. Heute möchte ich einfach einige Dinge kommentieren, die den Fall Mgr. Lefebvres betreffen. Statt mich bei den Ereignissen aufzuhalten, scheint es mir von größerer Tragweite und Wichtigkeit, die Lehren, die die Kirche aus den gesamten Geschehnissen für heute und für morgen ziehen kann, zu beurteilen. Zu diesem Zweck möchte ich zuerst einige Bemerkungen zu der Haltung des Heiligen Stuhls während der Gespräche mit Mgr. Lefebvre voranschicken, und danach möchte ich dann auf die allgemeinen Ursachen näher eingehen, die zu dieser Situation geführt haben und die, über den besonderen Fall hinaus, uns alle betreffen.
I. Die Haltung des Heiligen Stuhls in den Gesprächen mit Lefebvre
In dem aufrichtigen Bemühen darum, einen angemessenen Lebensraum für seine Bewegung innerhalb der Kirche zu schaffen, haben wir in den letzten Monaten viel Arbeit in das Problem von Lefebvre investiert. Der Heilige Stuhl ist aus diesem Grunde von vielen Seiten kritisiert worden. Man sagte, der Heilige Stuhl habe dem Druck des Schismas nachgegeben; der Heilige Stuhl habe das Zweite Vatikanische Konzil nicht mit der angemessenen Kraft verteidigt; während der Heilige Stuhl mit großer Härte gegen die progressistischen Bewegungen vorgehe, zeige er zu viel Verständnis für die konservative Rebellion. Die spätere Entwicklung der Ereignisse hat diese Behauptungen deutlich genug widerlegt. Der Mythos der Härte des Vatikans angesichts der progressistischen Vergehen ist letzten Endes ein leeres Hirngespinst.
Bisher hat man vor allem Ermahnungen ausgesprochen und in keinem Falle kanonische Strafen im eigentlichen Sinne verhängt. Die Tatsache, daß Lefebvre zum Schluß den unterschriebenen Vertrag gekündigt hat, zeigt, daß der Heilige Stuhl trotz der wirklich weitgehenden Konzessionen ihm nicht die umfassende Freiheit gewahrt hat, die er wollte. Im grundlegenden Teil der Übereinkünfte hatte Lefebvre anerkannt, daß er das Zweite Vatikanum und die Aussagen des postkonziliaren Lehramtes akzeptieren muß, und zwar mit der Autorität, die dem jeweiligen Dokument zukommt. Es ist widersinnig, daß gerade diejenigen, die keine Gelegenheit ausgelassen haben, um vor aller Welt ihren Ungehorsam - gegenüber dem Papst und den Aussagen des Lehramtes in den letzten 20 Jahren - zu verkünden, gerade diejenigen sind, die diese Haltung als zu lau verurteilen und fordern, einen totalen Gehorsam gegenüber dem Zweiten Vatikanum zu verlangen. Man hat auch behauptet, daß der Vatikan Lefebvre ein Recht auf Uneinigkeit zugestanden habe, was man den Komponenten progressistischer Tendenz dauernd verweigere.
In Wahrheit war das Einzige, was man in der Übereinkunft - entsprechend Lumen Gentium Nr. 25 - bestätigte, die einfache Tatsache, daß nicht alle Dokumente des Konzils den gleichen Rang haben. Im Vertrag wurde außerdem explizit vorgesehen, daß die öffentliche Polemik vermieden werden muß, und es wurde eine positive Haltung der Achtung gegenüber den Maßnahmen und öffentlichen Erklärungen gefordert. Man hat jedoch der Priesterbruderschaft ebenso das Recht eingeräumt, dem Heiligen Stuhl - wobei dessen Entscheidungsbefugnis unangetastet bleibt - Schwierigkeiten in Fragen der Interpretation und der Reformen im juristischen und liturgischen Bereich darzulegen. Dies alles zeigt sicher ausreichend, daß Rom in diesem schwierigen Dialog die Großzügigkeit in allem, worüber sich sprechen läßt, mit der Festigkeit im Wesentlichen vereint hat. Die Erklärung, die Mgr. Lefebvre selbst für die Zurücknahme seiner Zustimmung gab, ist sehr aufschlußreich. Er erklärte, er habe nun begriffen, daß der unterzeichnete Vertrag nur darauf abziele, sein Werk in die 'Kirche des Konzils' zu integrieren. Die Katholische Kirche in der Einheit mit dem Papst ist für ihn die 'Kirche des Konzils', die sich ihrer eigenen Vergangenheit entäußert hat. Es scheint, als könne er nicht mehr sehen, daß es sich einfach um die Katholische Kirche mit der Gesamtheit der Tradition, zu der auch das Zweite Vatikanische Konzil gehört, handelt.
II. Überlegungen über die tieferen Ursachen des Falls Lefebvre
Das Problem, das uns Lefebvre vorgelegt hat, endet aber nicht mit dem Bruch vom 30. Juni. Es wäre zu bequem, in eine Art Triumphalismus zu verfallen und zu denken, das Problem existiere nicht mehr von dem Augenblick an, da die Bewegung Lefebvres sich klar von der Kirche getrennt hat. Ein Christ kann und darf sich über eine (Kirchen-)Spaltung niemals freuen. Auch wenn die Schuld mit Sicherheit nicht dem Heiligen Stuhl zuzuweisen ist, haben wir dennoch die Pflicht, uns zu fragen, welche Fehler wir gemacht haben, welche Fehler wir (noch immer) machen. Die Normen, mit denen man seit der Erscheinung des Dekrets über den Ökumenismus im Zweiten Vatikanum die Vergangenheit bewertet, müssen logischerweise auch in der Gegenwart Gültigkeit haben. Eine der fundamentalen Entdeckungen der ökumenischen Theologie ist, daß Schismen nur dann entstehen können, wenn in der Kirche einige Wahrheiten und einige Werte des christlichen Glaubens nicht mehr gelebt und geliebt werden. Die an den Rand gedrängte Wahrheit verselbständigt sich, und von der Ganzheit der kirchlichen Struktur entwurzelt, bildet sich in ihrem Umfeld dann die neue Bewegung.
Die Tatsache, daß nicht wenige Menschen außerhalb des engen Kreises der Mitglieder der Priesterbruderschaft Lefebvres in diesem Mann eine Art Leitbild oder zumindest nützlichen Lehrer sehen, muß uns zu denken geben. Es reicht nicht, sich auf politische Motive oder auf Nostalgie und andere sekundäre Gründe kultureller Art zu berufen. Diese Gründe würden nicht ausreichen, um auch und besonders junge Menschen anzuziehen, die aus sehr verschiedenen Ländern mit den unterschiedlichsten politischen oder kulturellen Voraussetzungen stammen. Sicher bemerkt man überall die engstirnige, einseitige Betrachtungsweise. Trotzdem wäre das Phänomen insgesamt nicht denkbar, wenn es nicht auch eine Reihe positiver Elemente gäbe, die in der heutigen Kirche im allgemeinen nicht den erforderlichen Lebensraum finden. Aus allen diesen Gründen sollten wir diese Situation vor allem als einen Anlaß zur Gewissensprüfung betrachten. Wir müssen uns ernsthaft zu den Mängeln in unserer Seelsorge befragen lassen, auf die alle diese Ereignisse hinweisen. So werden wir denen einen Platz bieten können, die innerhalb der Kirche fragen und suchen, und so wird es uns gelingen, das Schisma aus dem Innern der Kirche selbst heraus überflüssig zu machen. Ich möchte gerne drei Aspekte nennen, die meiner Meinung nach in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielen.
a) Das Heilige und das Profane
Es gibt viele Gründe, die dazu geführt haben können, daß viele Menschen Zuflucht in der alten Liturgie suchen. Ein erster und wichtiger Grund liegt in der Bewahrung der Würde und des Heiligen. Nach dem Konzil haben viele absichtlich die "Entsakralisierung" zum Programm erhoben, indem sie erklärten, daß das Neue Testament den Tempelkult abgeschafft habe: Der Vorhang des Tempels, der im Augenblick des Kreuztodes Christi zerriß, bedeute - ihrer Meinung nach - das Ende des Heiligen. Der Tod Jesu außerhalb der Mauern, d.h. vor aller Augen, ist nun der wahre Kult. Der Kult, wenn er überhaupt existiert, besteht in der Nicht-Sakralität des täglichen Lebens, in der gelebten Liebe. Von diesen Überlegungen getrieben, hat man die priesterlichen Gewänder beiseite gelegt; man befreite die Kirchen weitestgehend vom Glanz, der an das Heilige erinnert; und wo dies möglich war, reduzierte man die Liturgie durch Grüße, gemeinsame Zeichen der Freundschaft und ähnliche Dinge auf die Sprache und Gesten des normalen Lebens.
Dennoch verkannte man mit diesen Theorien und dieser Praxis völlig den wahren Zusammenhang zwischen dem Alten und dem Neuen Testament; man hatte vergessen, daß diese Welt noch nicht das Königreich Gottes ist und daß "der Heilige Gottes" (Joh. 6,69) weiterhin noch im Gegensatz zur Welt steht; daß wir der Läuterung bedürfen, um uns Ihm zu nähern; daß das Profane auch nach dem Tod und der Auferstehung Jesu nicht zum Heiligen geworden ist. Der Auferstandene ist nur denjenigen erschienen, deren Herz sich Ihm, dem Heiligen, öffnete: er hat sich nicht jedem gezeigt. Aus dieser Welt hat man den neuen Raum des Kultes geöffnet, auf den wir uns alle beziehen; auf diesen Kult, der darin besteht, sich der Gemeinschaft mit dem Auferstandenen zu nähern, zu dessen Füßen sich die Frauen niederwarfen und den sie anbeteten (Mt.28,9). Ich will jetzt nicht weiter auf diesen Punkt eingehen, sondern direkt die Schlußfolgerung ziehen: Wir müssen die Dimension des Heiligen in der Liturgie zurückerobern.
Die Liturgie ist kein Festspiel, kein gemütliches Zusammensein. Es ist vollkommen unwichtig, ob es dem Priester gelingt, seine eindrucksvollen Ideen oder phantasievollen Nachtgedanken zu verwirklichen. Die Liturgie bedeutet, den dreimal heiligen Gott unter uns zu vergegenwärtigen, sie ist der brennende Dornbusch und die Verbindung Gottes mit dem Menschen in Jesus Christus, dem Toten und dem Auferstandenen. Die Größe der Liturgie besteht nicht darin, eine interessante Unterhaltung zu bieten, sondern darin, daß uns der Völlig-Andere berührt, den wir nicht herbeiholen könnten. Er kommt, weil Er will. Mit anderen Worten, das Wesentliche der Liturgie ist das Geheimnis, das im gemeinsamen Ritus der Kirche begangen wird; alles andere ist Nebensache. Die Menschen spüren dies im Innern und fühlen sich betrogen, wenn das Mysterium in Unterhaltung verwandelt wird, wenn der Hauptdarsteller in der Liturgie nicht mehr der lebendige Gott ist, sondern der Priester oder liturgische Animateur.
b) Der nicht der Willkür unterliegende Glaube und seine Fortdauer.
Das Zweite Vatikanische Konzil gegen Mgr. Lefebvre als Wertvolles und Verbindendes der Kirche zu verteidigen ist und bleibt eine Notwendigkeit. Aber es gibt eine einengende Haltung, die das Zweite Vatikanum isoliert und die Opposition hervorgerufen hat. Viele Ausführungen vermitteln den Eindruck, daß nach dem Vatikanum II jetzt alles anders ist und das Frühere alles keine Gültigkeit mehr haben kann, oder, in den meisten Fällen, diese nur noch im Lichte des Vatikanum II hat. Das Zweite Vatikanische Konzil behandelt man nicht als Teil der lebendigen Tradition der Kirche, sondern direkt als Ende der Tradition und so, als fange man ganz bei Null an. Die Wahrheit ist, daß das Konzil selbst kein Dogma definiert hat und sich bewußt in einem niedrigeren Rang als reines Pastoralkonzil ausdrücken wollte; trotzdem interpretieren es viele, als wäre es fast das Superdogma, das allen anderen die Bedeutung nimmt.
Dieser Eindruck wird besonders durch Ereignisse des täglichen Lebens verstärkt. Was früher als das Heiligste galt - die überlieferte Form der Liturgie - scheint plötzlich als das Verbotenste und das Einzige, was man mit Sicherheit ablehnen muß. Man duldet keine Kritik an den Maßnahmen der nachkonziliaren Zeit; wo aber die alten Normen oder die großen Glaubenswahrheiten - zum Beispiel die leibliche Jungfräulichkeit Marias, die körperliche Auferstehung Jesu, die Unsterblichkeit der Seele etc. - im Spiel sind, da reagiert man entweder überhaupt nicht, oder nur in extrem abgeschwächter Form. Ich selbst habe als Professor sehen können, wie selbst der Bischof, der vor dem Konzil einen einwandfreien Professor wegen seiner etwas ungehobelten Reden ablehnte, sich nach dem Konzil nicht in der Lage sah, einen anderen Professor abzulehnen, der offen einige fundamentale Glaubenswahrheiten leugnete. Das führt bei vielen Menschen dazu, daß sie sich fragen, ob die Kirche von heute wirklich noch die gleiche ist wie gestern, oder ob man sie nicht ohne Warnung gegen eine andere ausgetauscht hat. Der einzige Weg, das Vatikanum II glaubwürdig zu machen, besteht darin, es klar als das darzustellen, was es ist: ein Teil der ganzen und einzigen Tradition der Kirche und ihres Glaubens.
c) Die Einzigkeit der Wahrheit
Abgesehen von den liturgischen Fragen, die wir jetzt beiseite lassen, sind die zentralen Konfliktpunkte gegenwärtig der Angriff gegen das Dekret über die Religionsfreiheit und den sogenannten Geist von Assisi. Hier zieht Lefebvre die Grenzen zwischen seiner Position und derjenigen der Katholischen Kirche von heute. Es ist nicht nötig, ausdrücklich hinzuzufügen, daß seine Aussagen in diesem Bereich nicht akzeptiert werden können. Aber wir werden uns hier nicht mit seinen Irrtümern beschäftigen, sondern wir wollen uns fragen, wo es in uns selbst an Klarheit mangelt.
Für Lefebvre handelt es sich um einen Kampf gegen den ideologischen Liberalismus, gegen die Relativierung der Wahrheit. Natürlich teilen wir nicht seine Meinung, daß der Text des Konzils über die Religionsfreiheit oder das Gebet von Assisi nach der gewollten Intention des Papstes Relativierungen sind. Aber die Wahrheit ist, daß in der spirituellen Bewegung der nachkonziliaren Zeit oft die Frage der Wahrheit vergessen, ja sogar unterdrückt wurde; vielleicht liegt hier das Kernproblem der heutigen Theologie und Seelsorge. Die "Wahrheit" erschien plötzlich ein zu hoher Anspruch, ein "Triumphalismus", den man sich jetzt nicht mehr erlauben konnte. Dieser Prozeß zeigt sich klar in der Krise, in die das Ideal und die Praxis der Mission geraten sind. Wenn wir nicht die Wahrheit aufzeigen, wenn wir unseren Glauben verkünden und wenn diese Wahrheit nicht mehr unbedingt zur Rettung des Menschen erforderlich ist, dann verlieren die Missionen ihren Sinn. Als Folge davon zog und zieht man die Schlußfolgerung, daß man sich in Zukunft nur noch darum bemühen muß, daß die Christen gute Christen sind, die Moslems gute Moslems, die Hindus gute Hindus etc.
Aber wie kann man wissen, wann jemand ein "guter" Christ oder "guter" Moslem ist? Der Gedanke, daß alle religiösen Ausdrucksweisen eigentlich nur Symbole des letzten Endes Unverstehbaren sind, gewinnt auch in der Theologie rasch an Boden und dringt bereits tief in die liturgische Praxis ein. Dort, wo dieses Phänomen auftritt, wird der Glaube an sich verlassen, denn er besteht ja gerade darin, mich der Wahrheit, soweit ich sie erkannt habe, anzuvertrauen. So haben wir sicher alle Veranlassung, auch in diesem Bereich auf den richtigen Weg zurückzukehren. Wenn es uns gelingt, wieder die Gesamtheit des Katholischen in diesen Punkten zu zeigen und zu leben, dann können wir damit rechnen, daß das Schisma von Lefebvre nicht von langer Dauer sein wird.
Diese Rede hielt Kardinal Ratzinger dreizehn Tage nach den unerlaubten Bischofsweihen von Erzbischof Marcel Lefebvre. Sie erschien in der chilenischen Zeitschrift der Bewegung "Comunione e Liberazione". Private Übertragung aus dem Spanischen von Elke Zdarsky.
Diese Rede hielt der damalige Kardinal Josef Ratzinger am 13. Juli 1988 - wenige Tage nach dem Scheitern des Versuches, Erzbischof Lefebvre von den unerlaubten Priesterweihen abzuhalten und die Abspaltung der Piusbruderschaft zu verhindern.
Wir übernehmen den deutschen Text nach der Wiedergabe auf der hervorragenden Dokumentations- und Diskussionsseite kath-info.de.