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Von der Kultur zur Antikultur

Bild: http://www.undiscoveredscotland.co.uk/lindisfarne/Die „Option Benedikt“ - II

Rod Drehers „Option Benedikt“ reagiert darauf, daß viele, vermutlich eine Mehrheit, der heute in den „westlichen Ländern“ lebenden Menschen, ihre Gesellschaft als in rapidem Wandel begriffen erfahren. Ein Teil der Menschen betrachtet diesen Wandel als unausweichlich und findet positive Seiten daran, andere begrüßen ihn geradezu enthusiastisch. Ein anderer, mindestens gleich großer Teil, beobachtet ihn skeptisch mit Befürchtungen und teilweise sogar panikartigen Reaktionen. Eine Verständigung zwischen Enthusiasten und Skeptikern findet immer weniger statt. Wo die Enthusiasten über politisch/mediale Mehrheiten verfügen, gehen sie immer entschiedener daran, die Skeptiker aus dem Rahmen des sozialen Konsens auszuschließen. Besonders entschieden gehen sie dabei gegen Gruppen und Personen vor, die sich unter Berufung auf die überlieferten Glaubens- und Lehrinhalte des Christentums der umfassenden Neudefinition aller sozialen Verhältnisse widersetzen. Das kann auch gar nicht anders sein, denn die Neue Gesellschaft ist Ausdruck einer fundamentalen Abwendung vom Christentum und eines Wandels hin zu einer neu-heidnischen Weltanschauung.

Es trifft zu, daß dieser Wandel erst etwa seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts eine derartige Form und derartige Geschwindigkeit angenommen hat., daß er für größere Teile der Gesellschaft erkennbar geworden ist. Tatsächlich hat er jedoch bereits sehr viel früher eingesetzt und lediglich in den letzten Jahrzehnten eine enorme Beschleunigung erfahren.
Rod Dreher gibt dazu (S. 23) eine Zeittafel:

  • Im 14. Jahrhundert der Verlust der integralen Verbindung zwischen Gott und Schöpfung – philosophisch ausgedrückt zwischen transzendenter und materieller Realität.
  • Der Zusammenbruch von Glaubenseinheit und Religionsautorität in der protestantischen Reformation des 16. Jahrhunderts.
  • Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts, die das Christentum durch den Kult der Vernunft ersetzte, das religiöse Leben zur Privatsache erklärte und das Zeitalter der Demokratie einleitete.
  • Die industrielle Revolution (ca. 1760 – 1840) und das Erstarken des Kapitalismus im 19. und 20. Jahrhundert.
  • Die sexuelle Revolution (1960-Gegenwart).

Auf den 25 folgenden Seiten gibt der Autor eine notwendigerweise sehr geraffte Übersicht der Inhalte dieser Entwicklung. Dabei ist dieses mit „Die Wurzeln der Krise“ überschriebene Kapitel eines der wichtigsten Kapitel des Buches, dessen Lektüre allein schon die Anschaffung lohnt.

Der mittelalterliche Mensch lebte in einem Kosmos, in dem nicht nur alles mit allem zusammenhing, sondern auch alles seine Existenz und seinen Sinn von Gott dem allmächtigen Schöpfer bezog. Dieser Bezug zu Gott war die eigentliche Realität aller materiellen und gesellschaftlichen Erscheinungen – alles andere hatte bestenfalls sekundäre Bedeutung. Den Höhepunkt dieses Denkens verortet Dreher im „metaphysischen Realismus“ der scholastischen Philosophie des Thomas von Aquin.

Die große Herausforderung dieses Denkens sieht Dreher im Nominalismus des William von Ockham in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Wo die Hochscholastik davon ausging, daß die Dinge in sich gut sind, weil sie von Gott herkommen (und entsprechend nicht gut, wenn sie von ihm gelöst sind), erblickte William eine Begrenzung der Allmacht Gottes und forderte, daß es vom souveränen und unbeschränkten Willen Gottes abhänge, etwas für gut oder für schlecht zu befinden – wenn er das wolle, auch heute so und morgen anders. Damit verlor die Schöpfung ihren unmittelbaren Sinnzusammenhang. Die mittelalterliche Metaphysik glaubte, daß alles von Gott abhänge und sein Wesen widerspiegele und von daher erkennbar sei – der Nominalismus geht davon aus, daß die Dinge ihren Wert und ihren Sinn von außen erhalten und dem Menschen nur durch den Glauben an das, was Gott befiehlt, zugänglich sei.

Das mag zu Beginn noch besonders fromm und gottesfürchtig geklungen haben – im Ergebnis bereitete es den Weg zu einer Entwicklung, in der die Menschheit ihren Blick immer mehr von Gott abwandte und sich schließlich selbst als Singeber (und noch später als ‚Neuschöpfer‘) an die Stelle Gottes zu setzen begann. (S. 28) Einen ersten Höhepunkt fand diese Tendenz in der Kultur der Renaissance, die unter Rückgriff auf das Denken der Antike den Humanismus hervorbrachte. Auch der zunächst durchaus nicht in offener Abwendung von Gott – aber doch immer nachdrücklicher konzentriert auf den Menschen, und seine Fähigkeit als Erforscher und Erschaffer seiner eigenen Welt und damit als Träger einer „Würde“ die immer mehr als erworben und weniger als verliehen betrachtet werden konnte.

Den nächsten Entwicklungsschritt markiert die protestantische Reformation, die die zuvor zumindest an der Oberfläche noch bestehende Einheitlichkeit des Weltbildes endgültig aufbrach und die Deutung dessen, was wahr und falsch, gut und böse sein sollte, endgültig weltlicher Autorität unterwarf. Mit dem 30-jährigen Krieg, der halb Europa in Trümmer legte, als einem ihrer spektakulärsten Ergebnisse. Und mit der paradoxerweise etwa gleichzeitigen wissenschaftlichen Revolution, die – sehr verkürzt gesprochen – das Instrumentarium bereitstellte, mit der die Menschen sich anschließend wieder am eigenen Schopf aus dem selbst bereiteten Sumpf herauszog. Die technisch-wissenschaftliche Gesellschaft und die ihr entsprechende Denkweise konnte ihren Siegeszug beginnen – die metaphysische Denkweise hatte ausgedient. In den anschließenden Jahrhunderten der „Aufklärung“ wurde nur noch das als Maßstab akzeptiert, was sich vor dem Richterstuhl einer durch und durch diesseitigen Rationalität rechtfertigen konnte. Damit brachte die ‚Aufklärung‘ den entscheidenden Bruch mit dem christlichen Erbe des Westens (35). Wenn überhaupt noch von Gott die Rede war, dann nicht mehr vom Gott des alten und des neuen Testaments, sondern von einer weitgehend eigenschaftslosen Wesenheit im Sinne des Deismus. Schon damals wurde erkenntlich, daß eine von daher begründete Gesellschaftsordnung auf Voraussetzungen beruht, die sie aus eigener Kraft weder geschaffen hat noch erhalten kann, wie Dreher mit einem Rückgriff auf einen Brief des Gründervaters John Adams von 1798 (also im Jahre 5 nach der großen französischen Revolution!) darlegt (S. 36).

Die technologischen Durchbrüche des 19. Jahrhunderts und ihre wahrhaft umstürzenden sozialen Folgen waren die unvermeidlichen Ergebnisse. Sie führten nicht nur zur säkularen Erlösungslehre des Marxismus, sondern auch zur Gegenbewegung der Romantik – beide trotz aller Unterschiede in anderen Elementen gegenüber dem Christentum feindlich eingestellt. So bis hin zum „Gott ist tot – und wir haben ihn getötet“ von Friedrich Nietzsche (1880)
Diese geistesgeschichtliche Abriß ist schon bei Dreher sehr holzschnittartig und wird in der gerafften Form noch angreifbarer – trotzdem öffnet er den Blick auf wichtige Grundlagen der Entwicklung des modernen Denkens. Was in diesem Bild bis ins 19. Jahrhundert hinein ganz fehlt, sind die Gegenbewegungen – zumindest die Gegenreformation wäre es wert, hier mit in die Darstellung einbezogen zu werden. Die Gegenbewegungen tauchen bei Dreher erst mit den verschiedenen viktorianischen Formen des Christentums auf, denen er Popularität, eine hochstehende Moral und tätiges soziales Bewußtsein bescheinigt. In letzterem sieht er allerdings gleichzeitig ein Einfallstor für den Säkularismus.

Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts scheint Dreher davon auszugehen, daß die dargestellten geistigen Strömungen in den Auswirkungen eher auf die Eliten begrenzt waren, während große Teile der Bevölkerung entweder ganz ungebildet blieben oder in voraufklärerischen Denkmustern verharrten. Das änderte sich dann mit den Erschütterungen des 1. Weltkriegs und der weltweiten Wirtschaftskrise , die dann in den 2. Weltkrieg einmündeten. Ein halbes Jahrhundert unglaublicher Schrecken – und nichts davon im geringsten behindert oder gemildert durch die zuvor so hoch gepriesene Aufklärung und Modernität.

Für die dann folgende zweite Jahrhunderthälfte konstatiert Dreher ohne weitere Ableitung oder Erklärung den Übergang von der klassischen „festen Moderne“ zur neuen Form der „flüssigen Moderne“ - er lehnt sich dabei an Begriffe von Zygmunt Bauman an, hätte aber wohl genauso gut jedoch auch auf Habermas‘ „neue Unübersichtlichkeit“ rekurrieren können: Die Moderne emanzipiert sich von jeder Linearität und bald dann auch Rationalität, springt vor und zurück und propagiert den Wechsel umso unnachgiebiger, je weniger sie seine Folgen zu prognostizieren weiß. Das versucht Dreher dadurch in den Griff zu bekommen, daß er – für die entwickelten westlichen Industriestaaten, versteht sich – den massenweisen Übergang zur Existenzform des „Psychologischen Menschen“ konstatiert, der den „religiösen Menschen“ ablöst. Den Unterschied erklärt er mit dem Nietzsche Interpreten Philip Rieff so: „Der Religiöse Mensch ist auf Erden, um erlöst zu werden. Der psychologische Mensch lebt zu seinem Vergnügen.“

Das würde jedenfalls – zusammen mit der flächendeckenden Umsetzung der Konsumgesellschaft mit Fernsehen und Unterhaltungselektronik sowie einer ebenso flächendeckenden „sexuellen Befreiung“ durch die völlig korrekt so benannte „Anti-Baby-Pille“ erklären können, wie sich das „Leben zu seinem Vergnügen“ zu einer Lebensdevise entwickeln konnte, die sich mit unglaublicher Geschwindigkeit und Konsequenz in die Gesellschaft hinein ausbreitete. Widerstandskräfte waren praktisch nicht erkennbar, da dir sog. „kulturellen Eliten“ auf diesem Weg längst vorausgegangen waren. Wobei die Kirchen (von denen Dreher in diesem Zusammenhang bemerkenswerterweise gar nicht spricht), es versäumt hatten, ausreichend Antikörper zu bilden – sie signalisierten auf verschiedene Weise Kompromiss- oder Kapitulationsbereitschaft.

In den zusammenfassenden Worten Drehers:

Die jüdisch-christliche Kultur des Westens ging zugrunde, weil sie nicht länger an eine geheiligte Ordnung des Christentums mit ihren „Du-Sollst-Nichts“ glaubte und auch keine Mittel hatte, sich auf (andere) „Du-Sollst-Nichts“ zu verständigen, deren jede Kultur bedarf, um die individuellen Leidenschaften zu zügeln und auf gesellschaftlich erwünschte Ziele hin zu lenken. (…) Zum ersten Mal in der Geschichte versuchte der Westen, eine Kultur ohne jeden Glauben an eine höhere Ordnung , die Gehorsam verlangt, zu errichten. In anderen Worten: Wir schufen eine Anti-Kultur, die es unmöglich macht, die Fundamente für eine stabile Kultur aufzubauen.

Diese auf wenige Seiten reduzierte Darstellung einer auch im Buch selbst extrem komprimierten Zusammenschau mag einen ungefähren Eindruck davon vermitteln, wie Rod Dreher den gegenwärtigen Status des Christentums im „Westen“ beurteilt. Sie bildet den Hintergrund, vor dem er seine Vision der Option Benedikt entwickelt – und gibt denen, die sich vielleicht noch Illusionen über den Stand der Dinge machen, reichlich Anstöße, ihre Position zu überprüfen.

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