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Brief des Papstes an einen Kardinal

Eines der bemerkenswertesten Kennzeichen aller Irrlehrer ist ihre Einfallslosigkeit: Viele Häresien werden alle hundert Jahre in nur leicht abgewandelter Verkleidung als „neueste Erkenntnis der Wissenschaft“ neu aufgebracht - einige davon seit weit über tausend Jahren. Auch die aktuellen Irrlehrer sind alles andere als einfallsreich. Ende des 19. Jahrhunderts gab es insbesondere in der amerikanischen Theologie eine starke Strömung, die eine Modernisierung von Lehre und Disziploin der Kirche forderte, um sie so in der „Lebenswelt der Menschen“ leichter verständlich zu machen. Der Erzbischof von Baltimore, James Cardinal Gibbons, stellte sich damals diesen Tendenzen mit Entschiedenheit entgegen, und Papst Leo XIII, stärkte ihm mit dem Lehrschreiben Testem Benevolentiae Nostrae von 1899 mit Nachdruck den Rücken.

Wir haben die ersten Abschnitte - etwa ein Drittel - dieses Textes übersetzt, die einen guten Eindruck von der Natur der damaligen Auseinandersetzung geben. Und man sollte sich durch den manchmal schwer lesbaren Kurialstil dieses  natürlich ursprünglich in klassischem Latein verfassten Textes nicht täuschen lassen: Inhaltlich ist fast alles gerade so auch heute noch von höchster Aktualität.

Es beginnt ein langes ZitatAuf der Grundlage unseres apostolischen Amtes und in der Pflicht, die Unversehrtheit des Glaubens und die Sicherheit der Gläubigen zu wahren, wollen wir Euch in dieser Angelegenheit ausführlicher schreiben.

Grundlegendes Prinzip der neuen Ideen ist, daß die Kirche ihre Lehre mehr dem Zeitgeist entsprechend gestalten, etwas von ihrer alten Strenge ablegen und sich neueren Vorstellungen öffnen sollte, um für die, welche ihr fernstehen, attraktiver zu werden. Viele glauben, daß dieses Entgegenkommen sich nicht nur auf die äußere Lebensweise erstrecken sollte, sondern auch auf Inhalte der Lehre, die zum Bestand des Glaubens gehören. Sie halten es für geboten, im Werben um diese Fernstehenden einige Punkte der Lehre von geringerer Bedeutung wegfallen zu lassen und das Gewicht, das die Kirche ihnen stets beigelegt hat, zu verringern. Es bedarf nicht vieler Worte, geliebter Sohn, um das Irrige dieser Ideen nachzuweisen, sobald man sich Wesen und Ursprung der von der Kirche vorgelegten Lehre ins Bewußtsein ruft. Das Vatikanische Konzil hat in dieser Sache gesagt: Die Lehre des Glaubens, die Gott geoffenbart hat, ist keine Vorschlag wie eine philosophische These, die durch menschliche Geisteskraft weiter entwickelt werden kann, sondern sie wurde als göttlicher Auftrag an die Braut Christi erteilt, um unfehlbar verkünde und glaubenstreu eingehalten zu werden. Daher ist der Inhalt der heiligen Dogmen, die unsere heilige Mutter Kirche in der Vergangenheit erklärt hat, für alle Zeit zu erhalten, und man darf von diesem Inhalt auch nicht unter dem Vorwand oder der Vorgabe eines vertieften Verständnisses abgehen.

Wir können auch nicht das Schweigen entschuldigen, das gewollt dazu führt, einige Prinzipien der christlichen Lehre zu vernachlässigen, denn alle diese Prinzipien gehen zurück auf den gleichen Herrn und Urheber, „den Einzigen, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht“. (Joh 1, 18). Sie gelten für alle Zeiten und alle Völker, wie aus dem Wort unseres Herrn an seine Apostel zu ersehen ist: „Darum geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe.Und siehe, ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt. (Mat 28, 19-20) In dieser Sache hat das Vatikanische Konzil erklärt: „Alles, was im Wort Gottes enthalten ist, sei es in der Schrift oder in der Überlieferung, und was die Kirche entweder durch feierliche Erklärung oder durch ihr ordentliches und universelles Lehramt als göttlich offenbart zu glauben vorgelegt hat, ist im göttlichen und katholischen Glauben für wahr zu halten.“ (Constitutio de fide, III)

Es sei einem jeden fern, aus irgend einem Grund eine der auf uns gekommenen Lehren aufzuheben. Derartiges Vorgehen würde eher dazu beitragen, Katholiken der Kirche zu entfremden, als Fernstehende anzuziehen. Nichts liegt uns mehr am Hezen als diejenigen, die von der Herde Christi getrennt sind, wieder heranzuführen – aber auf keinem anderen Wege als dem von Christus gewiesenen.

Die Lebensregel für Katholiken ist nicht von der Art, daß sie sich nicht den Besonderheiten verschiedener Zeiten und Orte anpassen könnte. Die Kirche hat, von ihrem göttlichen Herrn geleitet, eine menschenfreundliche und barmherzige Einstellung und ist daher von Anfang an so, wie es der hl. Paulus von sich selbst gesagt hat: Ich bin allen alles geworden um alle zu retten“.

Die Geschichte zeigt klar, daß der apostolische Stuhl, dem die Aufgabe anvertraut ist, die Kirche nicht nur zu leiten, sondern auch zu regieren, dem stets „in ein- und derselben Lehre, ein- und demselben Sinne und ein- und demselben Urteil“ nachgekommen ist. (Const. De fide, IV). Freilich hat sie sich in Bezug auf verschiedene Lebensweisen stets so flexibel gezeigt, daß sie es unter Beibehaltung der moralischen Prinzipien nicht versäumte, sich dem Charakter und dem Genius der in ihr zusammengefassten Völker anzupassen.

Wer könnte bezweifeln, daß sie auch weiterhin in diesem Geist handeln wird, wo das Heil der Seelen es erfordert? In diesen Dingen ist jedoch die Kirche der Richter, nicht Privatleute, die sich oft von dem was als recht erscheint, täuschen lassen. Dem müssen alle beipflichten, die der Verurteilung durch unseren Vorgänger Pius VI. entgehen wollen. Dieser hatte es als Verstoß gegen das Gesetz der Kirche und den Geist Gottes verurteilt, entsprechend der Forderung I-28 der Synode von Pistoia „die von der Kirche gegebene und gebilligte Disziplin daraufhin zu untersuchen, ob die Kirche darin nutzlose oder für die menschliche Freiheit unerträgliche Vorschriften erlassen“ habe.

In dieser Angelegenheit, geliebter Sohn, liegt gegenwärtig in den Ansichten der Neuerungsfreunde eine noch größere Gefahr und noch grundsätzlichere Gegnerschaft zur katholischen Lehre und Disziplin, denn sie verlangen, die Kirche solle eine derartige Freiheit einräumen, daß sie ihre Aufsicht und Wachsamkeit in bestimmten Fällen verringere und es den Gläubigen gestatte, ein jeder möge in größerer Freiheit seinem eigenen Sinn und dem Zuge seines eigenen Verhaltens folgen. Sie behaupten, nur das entspreche den neuerdings gewährtenbürgerlichen Freiheitsrechten, wie sie nun das Gesetz und die Grundlage fast jeden weltlichen Staates bilden. In den apostolischen Lehrschreiben zur Rechtsordnung der Staaten, die wir an die Bischöfe der ganzen Kirche gerichtet haben, haben wir dieses Argument breit angesprochen und auf die Unterschiede hingewiesen, die zwischen der Kirche bestehen, die eine göttliche Gemeinschaft ist, und allen anderen menschlichen gesellschaftlichen Organisationen, die einfach vom freien Willen und der Wahl des Menschen abhängen.

Es ist behauptet worden, daß nun nach der Bekräftigung der Unfehlbarkeit des römisches Pontifex nichts mehr zu tun ist, um weitere Sicherheit zu gewährleisten, und daß damit, nachdem das festgestellt ist, sich für jedermann ein größeres Feld des Denkens und Handelns geöffnet habe. Aber diese Argumentation ist offensichtlich verfehlt, denn wenn wir irgendwelche Schlüsse aus der der unfehlbaren Lehrautorität der Kirche ziehen können, dann müssen sie darin bestehen, daß niemand wünschen könne, von dieser Autorität abzuweichen und dadurch, daß alle von dieser Autorität durchdrungen und geleitet werden, sich alle größere Sicherheit vor privaten Irrtümern erfreuen könnten. Auch scheinen alle, die die vorgenannte Argumentation unterstützen, ernstlich von der allherrschenden Weisheit des Allerhöchsten abzuweichen, die, indem sie in feierlichster Form die Autorität und die Lehre des apostolischsten Stuhles bekräftigte, gerade darauf abzielte, den Geist der Kinder der Kirche vor den Gefahren des gegenwärtigen Zeitalters zu beschützen.

Diese Gefahren, insbesondere die Verwechslung von Willkür und Freiheit, die Leidenschaft, jeden möglichen Gegenstand zu diskutieren und mit Verachtung zu überhäufen, die Anmaßung, zu jedem beliebigen Gegenstand jede beliebige Meinung haben zu können und sie in gedruckter Form in der Welt zu verbreiten, haben die Geister so sehr verdunkelt, daß nun für das Lehramt der Kirche noch größere Notwendigkeit als je zuvor besteht, damit die Gläubigen nicht das Bewußtsein dafür verlieren, was das Gewissen und was die Pflicht verlangen.

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