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Ist das „Zinsverbot abgeschafft“?

Bild: Wikimedia, gemeinfreiWenn es um die Frage geht, ob die Kirche grundlegende Moralvorschriften ändern oder abschaffen könne, wird gerne das alttestamentarische „Zinsverbot“ angeführt: Auch diesen Zopf habe die Kirche abgeschnitten, als er in modernen Zeiten nicht mehr zu halten war. In schlichter Aufdringlichkeit vertrat diese Ansicht die Kasseler Theologin Ilse Müllner kürzlich auf katholisch.de, wo sie in ihrem Artikel „An keiner Stelle verurteilt die Bibel Homosexualität“ eher beiläufig schreibt: „Es gibt auch ein Zinsverbot in der Bibel bei Lev 25 oder bei Dtn 23, das übrigens auch kirchlich immer wieder praktiziert wurde. Biblische Worte und Texte werden gerne als verpflichtend angesehen, wenn sie das bestätigen, was man selbst für gut hält. Tun sie das nicht, werden sie als Zeugnisse einer vergangenen Lebenswelt abgebucht.“

Der Rede vom „aufgehobenen Zinsverbot“ liegt eine Annahme zu grunde, die der alles in allem recht kenntnisreich geschriebene Artikel in Wikipedia zum Stichwort Zinsverbot so ausdrückt: „Innerhalb der katholischen Kirche wurde das Zinsverbot von Papst Pius VIII.formal in einem Schreiben vom 18. August 1830 an den Bischof von Rennesaufgehoben.“ Bei näherer Betrachtung bleiben allerdings sowohl von einem absoluten Zinsverbot als auch von dessen Abschaffung durch Pius VIII. wenig bis nichts übrig – ein Vergleich mit der sowohl im alten wie im neuen Testament aufs in starken Worten verurteilte homosexuellen Betätigung ist gänzlich unangebracht.

Das Zinsverbot des alten Testaments versteht sich nicht absolut, sondern gilt für die Angehörigen des Volkes Israel: „Von ihren Brüdern sollen sie keinen Zins und Wucher nehmen“ heißt es an beiden Stellen, und im 5. Buch Mose steht sogar ausdrücklich dabei: „Von einem Ausländer darfst du Zins nehmen“. Das alttestamentarische Zinsverbot stellt also kein allgemeines Sittengesetz auf, sondern eine soziale Norm, die auf solidarisches Verhalten innerhalb der – horribile dictu – Volksgemeinschaft abzielt. Außerhalb hatte dieses Gebot keine Wirkung.

Tatsächlich war wohl auch innergesellschaftlich die Wirkung begrenzt. Im Neuen Testament ist mehrfach völlig neutral von Zinsen als einer im Alltag anzutreffenden Erscheinung die Rede. Tatsächlich macht Jesus im Gleichnis von dem guten und dem schlechten Diener demjenigen, der das anvertraute Silber vergraben und nicht vermehrt hat, sogar Vorhaltungen: Du hättest mein Geld zu den Geldverleihern bringen müssen, dann hätte ich es bei meiner Rückkehr mit Zinsen zurückerhalten. Und dabei verwendet die griechische Urfassung bzw. die Vulgata Ausdrücke, die heute verdächtig nach Wucherei klingen. Nun kann man aus diesem Gleichnis nicht herauslesen, daß Jesus den Wucher gutgeheißen habe – die Tische der Wechsler im Tempel hat er sogar demonstrativ umgestürzt – aber sehr wohl, daß das Nehmen von Zinsen zu seiner Zeit bei den „Kindern dieser Welt“ gang und gäbe war und auch keinen besonderen Anstoß erregte. Nicht das Verleihen von Geld unter Handelsleuten war anstößig, sondern die Ausnutzung einer Notlage zur Ausbeutung von Ärmeren.

Hier geht es weiter In diesem Sinne übernahmen auch die Christen eine – nennen wir es mal – sehr reservierte Einstellung gegenüber dem Zins, prägnant ausgedrückt bei Lukas 35: Liebet eure Feinde und tut Gutes und verleiht, ohne etwas dafür zu erhoffen. Das ist jedoch kein allgemeines Zinsverbot, sondern eine Aufforderung zu tugendhaftem Verhalten. Durchaus zu Recht wurde diese Stelle als Mißbilligung des Zinsnehmens aufgefasst, für Kleriker, an deren tugendhaftes Verhalten besonders hohe Anforderungen gestellt wurde, leitete man daraus ein tatsächliches Verbot des Verleihens gegen Zinsen ab. Die objektive Schwierigkeit, zwischen gerechtfertigtem Zins und wucherischer Ausbeutung zu unterscheiden, führte im Mittelalter zu unterschiedlichen Formen des Umgangs mit dem Zinsproblem in der Lehre der Kirche.

In der Praxis hat es während des ganzen Mittelalters und bis weit in die Neuzeit hinein – auch ohne Berücksichtigung der Sonderrolle der Juden, denen ganz offiziell seitens kirchlicher, weltlicher und talmudischer Autoritäten das Verleihen von Geld erlaubt war – Formen der Ausleihe „gegen Interesse“ gegeben. Deren komplizierte Gestaltung war jedoch mit der Entwicklung einer modernen Wirtschaftsordnung immer schwerer zu vereinbaren – die Bildung von Kapital, die Einrichtung von Banken und der Betrieb von Aktiengesellschaften sind ohne Zinsen und Dividenden nicht vorstellbar. Weder die Kirche noch andere gesellschaftliche Kräfte waren in der Lage, dieser Entwicklung etwas entgegen zu setzen. Ein letzter Versuch von Papst Benedikt XIV zur Mitte des 18. Jh. ein Zinsverbot in der strengen Form zur Geltung zu bringen (Enzyklika Vix pervenit von 1745, hier in Deutsch), blieb praktisch wirkungslos.

Allerdings war die damals einsetzende und anscheinend durch nichts aufzuhaltende Bildung von Kapital mit einer enormen Ausweitung des Massenelends verbunden, die zu Recht auch als „Ausbeutung“ wahrgenommen wurde. Da die schon im alten Testament vorgeschriebene und vom neuen Bund übernommene Zielsetzung eines Schutzes der ökonomisch schwachen Mitglieder einer „Volksgemeinschaft“ vor wirtschaftlicher Übervorteilung unter Bedingungen des Kapitalismus mit einem „Zinsverbot“ in gar keiner Weise mehr zu verwirklichen war, hielten auch Theologen Ausschau nach weiteren (nicht unbedingt neuen) Mitteln zur Verwirklichung dieses Ziels. Diese Entwicklung setzte fast gleichzeitig mit der Ausarbeitung theoretischer Grundlagen einer „sozialen Bewegung“ (seit etwa 1800 die sog. „Frühsozialisten“) ein. Frühe prominente Zeugnisse dieser Beschäftigung in Deutschland sind die Adventspredigten des Mainzer Bischofs von Ketteler aus dem Revolutionsjahr 1848 über „Die großen sozialen Fragen der Gegenwart“.

In Frankreich hatte diese Debatte nach den Wirren der Revolution und der napoleonischen Zwischenspiele bereits früher Fahrt aufgenommen, zumal im dortigen Zentralstaat die wirtschaftliche Entwicklung beeits weiter vorangeschritten war. In diesem Zusammenhang hatte Erzbischof Claude Louis des Lesquen von Rennes 1830 eine detaillierte Anfrage an Papst Pius VIII. gerichtet. Im Zentrum die „pastorale“ Frage, wie die Beichtväter mit den sich in der Lebenspraxis zuspitzenden Problemen umgehen sollten:

[Die Beichtväter sind unterschiedlicher Auffassung] über den Gewinn, der aus Geld erzielt wurde, das Geschäftsleuten leihweise gegeben wurde, damit sie sich dadurch bereichern. Über den Sinn der Enzyklika Vix pervenit (von Papst Benedikt IV. veröffentlicht 1745) wird heftig gestritten. Von beiden Seiten werden Gründe angeführt, um die jeweils gutgeheißene Auffassung, solchen Gewinn befürwortend oder ablehnend, zu stützen. Daher rühren Streitereien, Auseinandersetzungen, die Verweigerung der Sakramente für die meisten Geschäftsleute, die auf diese Weise der Bereicherung bedacht sind, und unzählige Schäden für die Seelen. (...)

Der Papst antwortete darauf mit einem kanppen: „Non esse inquietandos - Sie sind nicht zu beunruhigen“. Anfrage und Antwort sind nachzulesen bei Denzinger-Hünermann, #2725.

Auf den ersten Blick sieht das sehr wie eine bergoglianische Indifferenz aus, am Ende gar wie ein „Wer bin ich, um zu urteilen“. Auf den zweiten Blick erschließen sich bedeutende Unterschiede. Die Frage ist in der Bibel wie auch nach der Tradition bei weitem nicht so klar entschieden, wie das ersceinen mag, wenn man sich nur auf die Enzyklika Benedikts IV. stützt. Allerdings war sie unter dem Eindruck des mit der ursprünglichen Akkumulation von Kapital einhergehenden Massenelends in den seitdem vergangenen fast 80 Jahren um vieles dringlicher geworden. Anscheinend hatte der eine oder andere der Berater Pius VIII. schon eine Ahnung davon, welche tiefgreifende Revolutionierung des menschlichen Wirtschaftens sich da vollzogen hatte – und das, da kann man Karl Marx in Grenzen folgen, zum guten Teil hinter dem Rücken und ohne bewußte Steuerungsmöglichkeit der menschlichen Agenten. Hätte man Einzelne mit der Verantwortung für diese Entwicklung belasten sollen? Denn eine Belastung für ihr Gewissen sahen offenbar viele darin, daß das Leihen und Verleihen von Kapital unter den neuen Verhältnissen zu einer anscheinend unausweichlichen Notwendigkeit zur Teilnahme an der Wirtschaft geworden war. Wären Katholiken im Gewissen verpflichtet, nicht an der neuen wirtschaftlichen Entwicklung teilzunehmen ? – unter Berufung auf ein biblisches Gebot, das erkennbar nicht für alle und unter allen Umständen Gültigkeit beanspruchte, wenn es auch von der Kirche zu Zeiten, wo in der Gesellschaft nur ein einheitliches Gottesvolk bestand, oft dahingehend interpretiert worden war.

Dieser Gemengelage versuchte Pius VIII. mit seiner das Gewissen der Gewissenhaften schonenden Antwort „irgendwie“ gerecht zu werden – aber eine „Abschaffung“ des vereinfachend so genannten „Zinsverbotes“ ist darin sicher nicht zu sehen. Im Gegenteil: Das Bestreben der Kirche, dem ursprünglichen Zweck der Einschränkung des Verleihens auf Zinsen, nämlich den Schutz vor Ausbeutung in der Gesellschaft, weiterhin hohen Rang zuzuerkennen, führte in den anschließenden Jahren zur Ausbildung einer eigenständigen Soziallehre, die Ende des 19. Jh. mit der Enzyklika Rerum Novarum von Papst Leo XIII. eine erste lehramtliche Ausformulierung erfuhr. Insoweit gibt der Gegenstand durchaus ein Vorbild dafür, wie die Kirche ihre Lehre entwickelt und neuen „Lebenswirklichkeiten“ anpasst, ohne ihre Tradition zu verlassen und ohne dem Text der Heiligen Schrift Gewalt anzutun.

Das Thema ist zweifellos weiterer historischer, wirtschaftswissenschaftlicher und theologischer Untersuchungen wert. Eine so nie erfolgte „Abschaffung des Zinsverbots“ als Begründung dafür heranzuziehen, die Kirche könne auch göttliche und naturrechtliche Gebote „abschaffen“, wenn die Zeitläufte das opportun erscheinen lassen, zeugt nur von dem Willen, sich auf derartige seriöse Untersuchungen erst gar nicht einzulassen.

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