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Das falsche Super-Dogma muß fallen!

Wikimedia, Henning Schlottmann, CC BY-SA 4.0Martin Mosebach hat gestern in der NZZ einen überaus lesenswerten Artikel veröffentlicht, der geeignet ist, den Abwehrkampf gegen Traditionis Custodes sowie die Reformation 2.0 des synodalen Weges aus den Engführungen zu befreien, in die sie gelegentlich zu geraten drohen. Gegen die Anmaßung aus Rom, den seit anderthalb Jahrtausenden gültigen Ritus der Kirche des Westens „abschaffen“ zu wollen, helfen keine feingesponnenen rechtlichen Erwägungen, wenn Papst und Kurie das Recht so sehr verachten, daß sie sich noch nicht einmal die Mühe geben, es zu kennen. Und gegen den unter dem Deckmantel des „Kampfes gegen den Mißbrauch“ vorgetragenen Angriff der vom kirchlichen Apparat lebenden Funktionärskaste, eine ihren Interessen als Arbeitnehmer und Politiker besser entsprechende Pseudokirche zu schaffen, hilft keine mahnende Erinnerung an die Dogmen des Glaubens.

Das einzige, was weiterhelfen kann, ist die Einsicht in die Tiefe der Krise, die in beidem zum Ausdruck kommt, und die schonungslose Analyse der Gründe und Ursachen. Mosebach hat dazu einen wichtigen Beitrag geleistet, indem er sich über ein Tabu hinwegsetzt, das allzuvielen der für die Bewahrung von Kirche und Glauben eintretenden Katholiken bisher Zunge und Schreibhand lähmt: Die Übersteigerung des Konzils aus dem vergangenen Jahrhundert und seiner Texte, Geister und Gespenster zu einem Superdogma, vor dem alles, was in der Vergangenheit war, sein Recht verliert, und in der Gegenwart jeder Widerspruch verstummen muß.

Was für die Propheten des Konzilsgeistes besonders schmerzlich ist: Ausgerechnet das von ihnen so einträglich bewirtschaftete Phänomen des Mißbrauchs führt Mosebach nicht ausschließlich, aber doch in wesentlichem Umfang auf die irrlichternden Deklarationen des Konzils und deren Aufnahme und Umsetzung in weiten Bereichen der westlich geprägten Kirche zurück. Er schreibt:

Das Zweite Vatikanische Konzil, das vor sechzig Jahren beendet wurde, hat zwar die äussere Form der Hierarchie, die Leitung der Kirche durch den Papst und die Bischöfe, ebenso wie den überlieferten Glauben der Kirche bestätigt, es hat zugleich aber eine Entwicklung ins Rollen gebracht, die tatsächlich «keinen Stein auf dem andern liess» – das Gesicht der Kirche hat sich in diesen sechzig Jahren bis zur Unkenntlichkeit verändert. Und diese Veränderungen sind nicht abgeschlossen – es ist in Wahrheit so, dass dieser Prozess längst unbeherrschbar geworden ist, da die Gehorsamsstrukturen der nachkonziliären Kirche weitgehend zusammengebrochen sind.

Hier geht es weiter Mosebach konstatiert, daß ein hoher Anteil der nun „aufzuarbeitenden“ Mißbrauchsfälle in den Jahrzehnten nach dem Konzil aufgetreten ist, und stellt einen doppelten Zusammenhang her zu der damals einsetzenden „sexuellen Befreiung“, die alle hergebrachten Ordnungen aufhob, und zur Kampfansage an jede Autorität in Gesellschaft und Kirche.

Die Aushebelung jeder Autorität und die sexuelle Revolution trafen auf eine Priesterschaft, der alle Elemente zur Wahrung ihrer Disziplin genommen worden waren. Buchstäblich von einem auf den andern Tag wurde die Ordnung, die bis dahin das tägliche Leben eines Priesters geprägt hatte, über den Haufen geworfen.

Soutane und Priesterkragen verschwanden – der Priester wurde in der Öffentlichkeit unsichtbar. Die Verpflichtung, täglich die heilige Messe zu zelebrieren, entfiel – nur wer mit der katholischen Tradition vertraut ist, vermag zu ermessen, welch disziplinierenden Halt diese tägliche Übung, verbunden mit der Pflicht zu häufiger Beichte, zu gewähren imstande ist. In der Theologie und in der Priesterausbildung wurde der sakramentale Charakter des Priestertums wenn nicht geradezu geleugnet, so doch infrage gestellt. Das «Depositum Fidei», die eigentliche Glaubensüberlieferung, wurde ohnehin zerfleddert. Verbindlichkeiten galten als überholt.

Die Liturgiereform, so Mosebach weiter, war dann „nur“ noch Ausläufer und verstärkendes Element dieser Fehlentwicklung – was ihre unglückselige Bedeutung in keiner Weise schmälert. Der Bruch, den das zweite Vatikanum in Geschichte und Selbstverständnis der Kirche bewirkte, kann daher nur in einem weiteren Zusammenhang in seiner ganzen Tragweite erkannt werden.

Dass angesichts der gehäuften Missbrauchsfälle der Ruf nach einer Reform der Kirche laut wird, kann nicht überraschen. Nur darf dabei nicht vergessen werden, was der in der Kirchengeschichte wohlverankerte Begriff «Reform» bis zum Zweiten Vatikanum bedeutet hat: nämlich eine Wiederherstellung der Disziplin, ein Anziehen der Zügel, eine Beendigung der Verschluderung und eine Rückkehr zur überlieferten Ordnung.

Die «Reformen» des Zweiten Vatikanums sind die ersten der gesamten Kirchengeschichte, die von dieser Auffassung abwichen; sie trauten der Überlieferung nicht mehr zu, die Menschen der Gegenwart zu erreichen, und setzten deshalb auf eine allgemeine Aufweichung von Praxis und Lehre, allerdings ohne durch diesen pastoralen Relativismus zu erreichen, die Menschen in der Kirche zu halten.

Und er schließt:

Nun, da das «Reform»-Desaster in sechzig nachkonziliären Jahren in seinem ganzen schändlichen Ausmass vor aller Augen dasteht, fällt dem Papst und vielen Bischöfen, vor allem den deutschen, nichts anderes ein, als dass man im radikalen Abbau des katholischen Propriums eben immer noch nicht weit genug gegangen sei – das erinnert an den kurzsichtigen Schneider, der eine missratene Hose betrachtet, den Kopf wiegt und sich wundert: «Dreimal abgeschnitten und immer noch zu kurz.»

Es hilft nichts: Das Konzil, seine geistigen Grundlagen und seine zeitgeistige Umsetzung müssen auf den Prüfstand. Es ist unumgänglich, emotions- und rücksichtslos das zu vergleichen, was (vielleicht) gewollt war, mit dem was (sicher und nachweisbar) erreicht oder verfehlt worden ist. Und wenn das niemals offiziell erklärte, aber desto wütender verteidigte Dogma vom „Superkonzil, das alles Vorherige in eine neues Licht stellt“ in der Folge dieses Vergleiches und dieser Prüfung fallen muß, dann muß es eben fallen.

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