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Der Kampf um die Tradition - seit 1900 Jahren

Beim Blick in die Kirchengeschichte kann man immer wieder erstaunt feststellen, daß die Irrtümer und Irrlehren, die der Kirche auf ihrem Weg durch die Zeit zu schaffen machen, sich auf ganz wenige Grundtypen zurückführen lassen. Doch so gering sie an Zahl sind, so sind sie doch äußerst zählebig und tauchen alle paar Jahrhunderte wieder auf. Mit neuen Protagonisten und meistens auch unter neuem Namen - aber im Grunde die selben alten Missverständnisse, der selbe alte Unglaube, der von den glaubenstreuen Theologen schon vielfach widerlegt und von der Kirche schon vielfach verurteilt worden ist.

Ein bemerkenswertes Beispiel bietet die gerade wieder einmal aktuelle Debatte um die Bindungskraft der Tradition, die derzeit mit Macht bestritten wird - und das nicht nur von Sektierern am Rande, sondern von Bischöfen und Kardinälen im Zentrum der Kirche. Schaut man genauer hin, sieht man, daß der Angriff aus zwei Richtungen und mit zwei Argumentationslinien erfolgt. Die eine, die neuere, die sich bis auf Ignatius von Loyola im 16. Jahrhundert zurückführen läßt, argumentiert mit einem verabsolutierten Begriff päpstlicher Autorität. Ihre Vertreter sehen in Auftreten und Äußerungen des gegenwärtigen Papstes Anzeichen für die Bereitschaft, die traditionelle Lehre - etwa hinsichtlich des Eheverständnisses - grundlegend zu verändern, und zwar in Richtung des von ihnen Gewollten. Das greifen sie begeistert auf und erklären schon einmal vorbeugend alle zu Feinden der Kirche und Verrätern am Papsttum, die ihren Ideen unter Hinweis auf die Tradition von Glauben und Lehre widersprechen.

Die andere Argumentationslinie gibt sich als Vertreterin eines „aufgeklärten“ Christentums, möchte daher auch die Autorität des Papstes nicht über Gebühr bemühen, sondern verweist eher auf Vernunft und Ratio, die eine „Reform“ von heute schwer vermittelbaren Lehrinhalten verlangten, um diese wieder in Übereinstimmung mit der „Lebenswirklichkeit“ zu bringen. Ihre Anhänger könnten, wenn Sie sich denn überhaupt mit der Tradition der Kirche befassen wollten, auf den frühchristlichen Schriftsteller Tertullian (†220) stützen. In einem seiner späteren Werke schreibt er: 

Unser Herr Jesus Christus hat sich die Wahrheit, nicht die Gewohnheit genannt“, und führt dann näher aus: „Die Häresien werden nicht so sehr durch ihre Neuheit, als vielmehr durch die Ahrheit widerlegt. Alles was gegen die Wahrheit verstößt, das ist Häresie, und wenn es auch eine alte Gewohnheit ist“.

Der Theologiehistoriker Karl Federer hat dargelegt, daß Tertullian dabei einen durchaus modernen Begriff von Wahrheit anwendet:

Diese Wahrheit ist dasselbe, was Tertullian ... mit ratio bezeichnet, der Grund, die innere Richtigkeit, welche unter dem Beistand des Parakleten aus Vernunft oder Heiliger Schrift gewonnen wird. Diese Einsicht, die unter dem Einfluss des Parakleten in der Kirche im Lauf der Zeiten stetig wächst und tiefer wird, kann zeigen, daß ein bisher als berechtigtg anerkanntes Verhalten keine Berechtigung habe und deshalb unterdrückt werrden müsse; und umgekehrt, daß ein Verhalten, das bisher nicht üblich war, im Sinne der Wahrheit liege, von ihr gefordert werde und daher einzuführen sei. (...) Tertullian spricht so unterschiedslos und absolut dem Primat der Vernunft das Wort, daß er nicht bloß das Ansehen einer einzelnen, sondern der Überlieferung überhaupt trifft.“

Trotz dieser bemerkenswerten Übereinstimmung werden die heutigen Kritiker der Tradition kaum bereit sein, Tertullian als Zeugen anzurufen. Obwohl seine etwa 30 überlieferten Schriften teilweise von größter Bedetung für die Kenntnis von Glaube und Lehre der alten Kirche sind, wird der Vernunft-Apostel Tertullian doch nicht unter die Kirchenlehrer gezählt. Seine Geringschätzung der Tradition und Verabsolutierung dessen, was er als vom heiligen Geist eingegebene höchsteigene „Vernunft“ betrachtete, führte ihn schließlich selbst ins Abseits und in den Umkreis der herätischen Gruppe der Montanisten, er starb als von der Kirche getrennter Sektenprediger.

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