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Narzissmus und liturgischer Missbrauch

Ein Hinweis von Fr. Ray Blake führte uns zu einem schon etwas älteren (2007), aber immer noch sehr aktuellen Artikel der beiden Psychologen Paul Vitz und Daniel C. Vitz mit dem bemerkenswerten Titel „Messing with the Mass: The Problem of priestly narcissm today.“ Die dort beschriebenen Muster treten sicher nicht nur bei der Feier der hl. Messe nach dem Novus Ordo auf – manches davon kommt einem durchaus bekannt vor als Beschreibung „klerikalistischer“ Verhaltensweisen ganz allgemein. Besonders fruchtbar erscheint der von den Autoren hergestellte Zusammenhang zwischen der „anthropologischen Wende“ der Zeit nach dem Konzil und dem Phänomen priesterlichen Narzismus. In der Einleitung, die für Nicht-Psychologen vielleicht der interessanteste Teil ist, schreiben sie (teilweise unter Bezug auf andere Autoren):

Lasch betonte den Niedergang des Sensoriums für die „historische Zeit“. Die Verhaltensmuster des Narzismus entstehen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene umso leichter, wenn die Verbindung zur Vergangenheit abreißt. Die Vergangenheit stellt das Bezugssystem, innerhalb dessen wir gegenwärtiges Verhalten als gut oder schlecht, angemessen oder unangemessen, traditionell oder modern einordnen. Die Vergangenheit mit ihren Helden und Lehrstücken verbindet den Menschen mit familiären und gesellschaftlichen Traditionen und bestimmt die Normen des Verhaltens und die moralischen Grenzen. Lasch macht deutlich, daß in dem Maß, in dem die Vergangenheit aus dem amerikanischen Bewußtsein geschwunden ist, die Bereitschaft zu narzistischer Selbstherrlichkeit gestiegen ist.

Er bemerkte ebenfalls, daß die amerikanische Gesellschaft ihr Vertrauen in die Zukunft verloren hat – was übrigens auf Europa noch mehr zutrifft. Diese Abwendung von der Zukunft verbreitete sich rasant in den 60er Jahren mit der Angst vor drohender globaler Überbevölkerung. Viele forderten ein Nullwachstum bei der Bevölkerung und vertraten die Ansicht, es wäre besser für die Zukunft der Welt, wenn es weniger Menschen gäbe. Die Hoffnung auf die Zukunft der Menschheit und der traditionellen Sozialstrukturen wurde aufgegeben. Die gesamte westliche Kultur wurde von dieser Erscheinung erfasst. (…) Eine entsprechende kritische Haltung entwickelte sich auch gegenüber der Religion. Wissenschaft, Technik und „modernes Leben“ galten generell als unumgänglich und wünschenswert, aber die Religion als Teil der verachteten traditionellen Kultur des Westens hätte gefälligst zu verschwinden. … So haben wir uns von der Vergangenheit abgewandt und das Vertrauen in die Zukunft verloren – und damit wird der gerade aktuelle Augenblick zum beherrschenden Bewußtseinselement.

Zahllose Beispiele zeugen davon, wie diese einseitige Hinwendung zum „Jetzt“ die Erfahrungen der Vergangenheit und die Hinwendung zur Zukunft verdrängt haben. Die Konsumgesellschaft mit ihrem Konsumwahn und ihrer Bereitschaft, sich auf Kosten der Zukunft zu verschulden ist vielleicht das offensichtlichste. Die Verherrlichung kurzzeitiger sexueller Genüsse und sinnlicher Freuden ist ein weiterer Schwerpunkt dieser allgemeinen Überbetonung des Gegenwärtigen. Die Unterhaltungsindustrie nährt diese – und nährt sich von dieser – Tendenz der Konzentration auf den Augenblick. Diese Denk- und Verhaltensweisen begünstigen den Narzismus, denn wer fest in seiner Vergangenheit verwurzelt und auf das Zukünftige bedacht lebt, haben starke Abwehrkräfte gegen Selbstherrlichkeit und Genuß-Sofort-Denken.“

Man sieht – die Analyse geht in sozialpsychologischer Hinsicht tiefer, als man zunächst beim Thema „liturgische Missbräuche“ erwarten würde, und sie trifft ins Zentrum der übermächtig erscheinenden Tendenz zur Verweltlichung in Glaube und Kirche. Sie bezeichnet die allgemeine Ursache sowohl für das Verhalten des einzelnen Priesters, der die Texte des Missales nach seinem pastoralen Bauchgefühl und den „Sensibilitäten“ seiner Gemeinde frei umdichtet, als auch ganzer Bischofskonferenzen und Zentralkomitees, die Tradition und Zukunft gleicherweise aus dem Blick verloren haben und nur noch hinter dem herjagen, was heute und jetzt ein Erfolgserlebnis verspricht. Hier noch einmal der Link zum ganzen Text.

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