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Der Bann ist gebrochen

„Parrhesia“ - wörtlich „Reden ohne (falsche) Rücksichtnahme/freimütiges Sprechen“ gehört zu den Lieblingsbegriffen von Papst Franziskus und gleichzeitig zu seinen liebsten Aktivitäten. Das scheint ansteckend zu wirken, gerade auch auf die der Tradition verbundenen Katholiken: Noch nie haben sie so offen über die Krisen und Mißstände in der Kirche von der Spitze in Rom bis zur Pfarrei in Hintertupfing gesprochen wie seit vielleicht einem Jahr. Freilich gab es auch in modernen Zeiten soviel Gründe und Anlässe dazu. Tatsache ist jedenfalls, daß immer mehr Denk- und Redeverbote abgeräumt werden – der Bann der „ecclesial correctness“ scheint gebrochen.

Ein wichtiges Beispiel dafür hat dieser Tage Josef Shaw, Vorsitzender der Latin Mass Society von England und Wales geboten, der in einem Blogbeitrag der Frage nachgeht „Welche Messe wollte das 2. Vatikanische Konzil?“. Shaws Lektüre der entsprechenden Dokumente führt zu einem Ergebnis, das wir zwar schon immer geahnt, aber selten so ungeschönt ausgesprochen gehörthaben: Diese Dokumente geben in ihre Widersprüchlichkeit – Shaw führt frappierende Beispiele an – keinerlei verbindliche Richtschnur. Und selbst da, wo sie die Tradition zu bekräftigen scheinen, geben sie keinen Hebel, die in den vergangenen 50 Jahren vorgenommenen umstürzenden Veränderungen deswegen als unzulässig zu kritisieren: In ihrer ganzen Grundanlage lassen die Dokumente und die sie begleitenden Aussagen insbesondere von Papst Paul VI. wenig Zweifel daran, daß nicht die Tradition der Jahrtausende, sondern die (als pastoral behaupteten) Bedürfnisse des Tages Richtschnur der Liturgiereform sein sollen.

Shaws Fazit ist eindeutig:

Ich möchte an die Autoren aus dem „Reform der Reform“-Lager und auch an die Progressisten von Pray Tell und anderswo appellieren: Hört auf, euch gegenseitig widersprüchliche Dokumente und die „wirklichen“ Prinzipien des 2. Vatikanums vorzuhalten. Argumente „aus der Autorität“ bringen uns hier nicht weiter.
Die einzige Möglichkeit, hinsichtlich der Liturgie mit der Kirche zu denken ist der, auf das zu schauen, was die Kirche getan hat – nicht während einiger weniger Jahrzehnte, sondern über die Jahrtausende. Und allein schon dieser Vorschlag steht im Gegensatz zu dem Anspruch, alles, was vor 1965 war, für schlecht zu erklären. Und es ist exakt diese Vorstellung, mehr jedenfalls als eine ehrliche Würdigung der modernen liturgischen Dokumente, die die Lehre, daß die Kirche vor Irrtum geschützt ist, in Frage stellt: Wenn die Kirche sich bis 1965 geirrt hat – warum sollte man sich dann um das scheren, was sie seitdem gesagt hat?“

Die Frage trifft mitten ins Zentrum der aktuellen Auseinandersetzungen. Neu ist sie freilich nicht, - schon 1996 schrieb der damalige Kardinal Joseph Ratzinger:

Eine Gemeinschaft, die das, was ihr bisher das Heiligste und Höchste war, plötzlich als strikt verboten erklärt und das Verlangen danach geradezu als unanständig erscheinen läßt, stellt sich selbst in Frage. Denn was soll man ihr eigentlich noch glauben? Wird sie nicht morgen wieder verbieten, was sie heute vorschreibt?"

Das bezog sich damals zwar „nur“ auf die Liturgie, aber es kann und muß zweifellos auch auf alle anderen Dogmen des Glaubens und Grundaussagen der Sittenlehre übertragen werden. Mit erheblichen Auswirkungen auf das Verständnis von Dokumenten, Interviews oder Gerüchten aus dem aktuellen Pontifikat, in denen Bekäftigungen dessen, was schon immer galt, in bunter Mischung mit Sätzen vorkommen, die dem tatsächlich oder dem Anschein nach widersprechen: Sie können nicht Aussage des Lehramtes sein. Wo es darum geht, Verwirrung zu verringern und nicht noch größer werden zu lassen, ist ihnen, bei allem gebotenen Respekt, mit Freimut zu widersprechen. 

Der Bann der „ecclesial correctness“ ist in der Tat gebrochen - der Parrhesia sei Dank.

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