Liturgiereform im 14. Jahrhundert
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- 25. Juni 2018
Der „Überlieferte Ritus“, wie er nach dem Konzil von Trient kodifiziert wurde, geht bekanntlich auf das Missale der päpstlichen Palastkapelle zurück, das an der Kurie seit dem frühen 13. Jahrhundert gebräuchlich war. Eine erste gedruckte Fassung dieses Missale secundum consuetudinem curiae romanae erschien wenige Jahrzehnte nach Erfindung des Buchdrucks 1474 in Mailand. Es bildete die wenig veränderte Grundlage für das Missale, das Papst Pius V. nach dem Konzil von Trient 1570 promulgierte und das innerhalb von etwa 150 Jahren die Fülle der bis dahin gebräuchlichen Riten und Usus der römischen Kirche verdrängte oder zumindest marginalisierte. Wie eine solche Verdrängung - auch wo sich nicht von tiefergehende theologische Absichten motiviert war - schon aus praktischen Gründen und wegen der Schwerkraft der menschlichen Bequemlichkeit vor sich geht, konnten wir ja in den letzten Jahrzehnten am Absterben des Conon Romanus beobachten.
Im Unterschied zu den Ordines Romani, die verschiedene Aspekte der öffentlichen Zeremonien am Sitz des Papstes beschreiben und Material enthalten, das für die Messliturgie bis auf die Zeit vor Papst Gregor d. Großen zurückgeht, war das Missale der Kurie eine schlichte Zusammenstellung der Texte für die Feier der Messe durch die Kleriker des Hofes – quasi das Minimalprogramm ohne besonderes Zeremoniell. Dieses Rumpfmissale, das zunächst auch noch keinerlei Rubriken enthielt, entsprach dem praktischen Bedürfnis der beamteten Geistlichkeit nach einer Vorlage für die im wesentlichen „private“ Zelebration. Eine seiner wesentlichen Quellen war das seit Ende des 12. Jahrhunderts im Franziskanerorden entstandene Messbuch für die wandernden Bettelmönche – erst durch diese war überhaupt das Bedürfnis entstanden, die vorher auf verschiedene „Rollenbücher“ aufgeteilten Texte (Evangeliar, Graduale, Ordo, Canon(tafeln) usw.) erstens in einem „Messbuch“ zusammenzufassen und das zweitens auch noch in tragbarer Form.
Eine parallele Entwicklung gab es im Bereich des Tagesgebetes, das bei den Bettelbrüdern – und nach deren Vorbild auch bei der Kurie – in der Form des vielfach gekürzten „Breviariums“ zusammengefasst wurde. Der tägliche Gottesdienst, das Officium, in dem es in der praktischen Handhabung keinen besonderen Unterschied zwischen dem Stundengebet und der Messfeier gab, wurde im frühen 13. Jahrhundert in Rom in mehreren durchaus unterschiedlichen Formen gehalten: Der auf die frühere Praxis zurückgehenden Vollform für die öffentlichen Zeremonien des Papstes, in der Form des umfassenden Offiziums mit Stundengebet und feierlicher Konventsmesse, die in den einzelnen Basiliken oder Klosterkirchen oft nach Sonderbräuchen entsprechend der Tradition der einzelnen Gemeinschaften und Kapitel zelebriert wurde, und schließlich in der sowohl für das Stundengebet als auch für die Messfeier deutlich reduzierten Form am päpstlichen Palast.
Dieser Ritenpluralismus wurde Ende des 13. Jahrhunderts unter Papst Nicholas III. eingeschränkt, als dieser, vormals Generalprotektor des Franziskanerordens, anordnete, in sämtlichen Kirchen der Stadt nur noch die seit einigen Jahrzehnten an der Kurie gebräuchlichen Bücher der Franziskaner zu verwenden. Diese Anordnung blieb nicht ohne Widerspruch und wurde in der Praxis oft nur teilweise oder gar nicht befolgt. In der Folge entwickelte sich im 14. Jahrhundert eine offenbar überaus streitbar geführte Diskussion zwischen den Anhängern der überlieferten (d.h. vor-franziskanischen) Liturgie und den Verfechtern des von Nicholas III. (damals freilich nur für die römischen Kirchen) angeordneten „Novus Ordo“.
Der Kirchenrechtler und Liturgiker Radulph von Rivo, * 1350 im heute niederländischen Breda, † 1403 im heute belgischen Tongeren), in den letzten Jahren des 14. Jahrhunderts unter anderem Rektor der gerade (1388) gegründeten Kölner Universität, hat sich in seinen letzten Lebensjahren Jahren mit seinem Liber de canonum observantia als entschiedener Vertreter der Tradition in diesen Streit eingemischt. Der Blog Canticum Salomonis hat jetzt das 22. Kapitel dieser Streitschrift erstmals in englischer Sprache veröffentlicht. In seiner Kritik an der durch die damalig Reform herbeigeführten Unordnung des Kalenders, an der Tilgung von Heiligenlegenden im Brevier und im Verlust der althergebrachten Notastion und Praxis der Gregorianik liest es sich überraschend aktuell.
Bei oberflächlicher Kenntnisnahme könnte man daraus schließen, daß man eine zunächst erbittert und mit durchaus akzeptablen Argumenten bekämpfte Reform nur lange genug praktizieren müsse, um sie ihrerseits zur Tradition werden zu lassen. Da ist etwas dran. Auf der anderen Seite ist zu bedenken, daß diese Anordnung des 13. Jahrhunderts zunächst nur für die Stadt Rom gelten sollte. Und selbst in den Rubriken des universalkirchlich ausgerichteten nachtridentinischen Missales blieben besondere Rubriken für das levitierte Hochamt erhalten. Zusammen mit der fortdauernden Praxis und Kodifizierung der bischöflichen und päpstlichen Pontifikalämter blieben damit wesentliche Formelemente des alten römischen Ritus lebendig. Dadurch wurde verhindert oder zumindest für Jahrhunderte aufgehalten, daß die in der Tat unter dem Einfluß frühmoderner Nützlichkeitserwägungen entstandene Alltagsform der Liturgie sich im Bruch nicht nur von den Formen, sondern auch von den Inhalten des Ursprungs entfernte.