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Revolution und Liturgie

Bild: Wikimedia, gemeinfreiWenn als Grund für die Notwendigkeit von Reformen der Liturgie der beklagenswerte Stand des liturgischen Lebens im 19. Jahrhundert angeführt wird, ist das kaum von der Hand zu weisen. Für viele Gläubige war die stille Messe oder ein aus dieser abgeleitetes „gesungenes Amt“ für den Sonntag die einzige Form der Messe, die sie jemals erlebten. Da kann es nicht wundern, daß sie sich – im günstigeren Fall – privaten Frömmigkeitsübungen wie dem oft kritisierten Rosenkranzgebet zuwandten. Selten wird nach den historischen Bedingungen gefragt, die diese formale und inhaltliche Verarmung des liturgischen Lebens hervorgebracht haben.

Denn um eine Verarmung handelt es sich. Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein war das liturgische Leben und die Teilnahme des gläubigen Volkes weitaus reichhaltiger, als das heute bewußt ist – wenn auch der Reichtum der mittelalterlichen Liturgie schon seit Anbruch der Neuzeit vielerorts im Rückgang begriffen war. Dennoch muß man (mindestens) bei der spätmittelalterlichen Liturgie ansetzen, um ermessen zu können, wie eine wahrhafte „Volksliturgie“ aussehen kann – und was seitdem verloren gegangen ist.

Diese Zeit kannte noch keine Trennung zwischen Leben und Arbeit, Natur und Übernatur, wie sie heute selbstverständlich ist. Der Tag begann mit dem Sonnenaufgang und endete mit dem Sonnenuntergang – im Sommer war er 16 Stunden lang, im Winter nur 8, aber was machte das schon, wenn man keine Uhr hatte. Seit dem 14. Jahrhundert wurde der Tag durch das Angelus-Läuten am Morgen und am Abend strukturiert, später kam noch die Mittagsglocke dazu – und jeder, der die Glocke hörte, sah sich aufgefordert, den Angelus oder ein Gesetz des Rosenkranzes zu beten. Wie der Tag, so war auch das Jahr durch Gottesdienste gegliedert, und beileibe nicht nur durch den Sonntag. Es gab noch einmal mindestens ebenso viele Feiertage, an denen nicht gearbeitet wurde, und an denen jeder zur Teilnahme am Gottesdienst aufgefordert war – und zumindest aus Gewohnheit oder aufgrund familiären/sozialen Drucks auch tatsächlich teilnahm. 

Doch solchen Druck brauchte es kaum - was waren das oft für Gottesdienste! Hier geht es weiter Die feierlich begangene Messe zur Kirchweihe oder zum Jahrestag eines der Handelsgilde wohlgesonnenen Heiligen bildete den natürlichen Auftakt zu einem Festtag, der ein ganzes Dorf oder eine ganze Stadt erfasste. Kein Wunder, daß Volksfeste wie Kirmes oder Kerwe, Jahrmärkte oder „Messen“ ihre Bezeichnungen von solchen Messen ableiteten Doch auch die Grenze zwischen Frömmigkeit und Vergnügung (bis hin zur Lasterhaftigkeit) war noch nicht so fest etabliert: Nach der Messe mit Prozession und oft genug schon vor der Vesper gings erst zum Festmahl, und dann wurde zum Tanz aufgespielt oder des „Teufels Gebetbuch“ (das Kartenspiel) aufgeschlagen, Wein und Bier flossen in Strömen – oder auch nicht, wenn es mal wieder eine Mißernte gegeben hatte: Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen.

Nicht jedes Dorf und nicht jeder Weiler hatte seine eigene Kirche oder seine eigene „Pfarrei“ - die „seelsorgerische“ Infrastruktur sah gänzlich anders aus als die nach Trient angestrebte und kurzfristig im 19. Jahrhundert verwirklichte. In der Stadt gab es mehr Kirchen, als wir uns heute im Zeitalter der Bedarfskalkulationen und Kosten-Nutzen-Analysen vorstellen können, die Landbewohner sahen sich vielfach darauf verwiesen, zum Kirchgang in die nächstgelegene Stadt oder in ein Kloster zu wandern – auch wenn der Weg ein paar Stunden dauerte.

In vielen Fällen erwartete sie dort auch an ganz normalen Sonntagen ein feierlicher Gottesdienst mit aller Prachtentfaltung, zu der der lateinische Ritus fähig war, und das beileibe nicht nur in Bischofsstädten. Viele städtische Kirchen waren Kapitels-, Stifts- oder Schulkirchen, an denen eine große Zahl von Priestern wirkte, die im Idealfall viele Stunden des Tages beim Chorgebet und der Messfeier zubrachten. Ein Mönchschor oder eine Schola gehörten selbstverständlich dazu. Die Sonntagsmessen in diesen Kirchen boten ein frommes Schauspiel, dessen Faszination sich die mit visuellen Reizen nicht übersättigten Menschen kaum entziehen konnten. An Feiertagen erfuhren diese Eindrücke eine weitere Steigerung. Predigten, die auch mal eine Stunde oder länger dauern konnten, vermittelten auch Analphabeten über die Jahre hinweg grundlegende Einsichten in das, was sich vor ihren Augen abspielte – sie sahen, was sie glaubten, und glaubten, was sie sahen.

Das war, ganz ohne Mitwirkung von Lai*innen im Allerheiligsten und auch wenn es in vielem den Ansprüchen moderner Liturgologen kaum genügt haben dürfte, eine wahrhafte Volksliturgie, in vielem gar nicht so unähnlich der „Lebenswirklichkeitt“ des jüdischen Volkes zur Zeit Christi, als das ganze Leben fraglos dem Gesetz des Tempels, seinem Festkalender und der Heiligung des Sabbats unterworfen war.
Diese in jeder Hinsicht vor-säkularistische Welt Kontinentaleuropas ist (diverse geistige Erdbeben hatten es schon vorher angekündigt) im Lauf des 18 Jahrhunderts zerbrochen – als Meilensteine kann man die Erfindung der Dampfmaschine (1712), die aus der Volonté Générale (1775) begründete Enthauptung des Königs von Gottes Gnaden Ludwigs XVI. (1793) und die im Gefolge der Grande Revolution einsetzende europaweite Zerschlagung der Klöster, Stifte und Kapitel.

Die als Befreiung aus geistiger Unmündigkeit und mittelalterlicher Leibeigenschaft daherkommende grundlegende Revolutionierung des Bildungswewsens und der Arbeitswelt zersetzte in kürzester Zeit das bis dahin von großen Teilen der Menschen noch noch bewahrte Ineins von Natur und Übernatur. Die Zerschlagung der überkommenen kirchlichen Struktur und der Raub ihree Besitztümer einschließlich der brutalen Reduzierung der Möglichkeit, ein Leben nicht der „Produktivität“, sondern dem Gottesdienst und frommen Studien zu widmen, erzwangen eine Reduzierung des kirchlichen Personals und auch des liturgischen Lebens auf das blanke Minimum. Soweit nicht selbst dieses durch staatliche Verfolgung in Frage gestellt wurde. Der blutige Terror der Revolution in Frankreich und der aufgeklärte österreichische Josephinismus unterscheiden sich insoweit nur in Äußerlichkeiten. Innerhalb weniger Jahre verlor die Kirche ihre Stellung als sinngebende Instanz – und dann ihre Schulen und Spitäler. In der Folge der skizzierten Entwicklungen verarmte auch die Liturgie der Kirche in einer Weise, die kaum ein historisches Vorbild hat – und sie verlor damit fast vollständig das Potential, der geistigen Säkularisierung breiter Volksschichten etwas entgegen zu setzen. Predigen kann man viel – wenn man nichts davon sinnfällig und auch die emotionale Seite des Menschen berührend vor Augen führen kann, bleibt es bei hohlen Worten, die keine Glaubwürdigkeit haben.

Wie die Kirche diesem mit der umfassenden Säkularisierung einhergehenden Verlust der Einbettung in die Gesellschaft entgegen wirken könne, ist eine bis heute unbeantwortete Problemstellung – nicht nur in der Liturgie, sondern in allen kirchlichen Lebensäußerungen. Der von den meisten Liturgiereformen für ihren Bereich gewählte Weg, die von außen aufgezwungene Verarmung quasi zu verinnerlichen und zur Richtlinie für einen „Neuanfang“ zu machen, muß jedenfalls aus heutiger Sicht als Irrweg betrachtet werden, der das Problem nur verschärft hat.

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