„Liturgiefähigkeit“ - modern oder vormodern?
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- 21. Oktober 2020
Der Brief Romano Guardinis an Johannes Wagner anläßlich des 3. liturgischen Kongresses in Mainz (April 1964), den wir hier anhand einer Kritik Peter Kwasniewskis thematisiert hatten, liegt uns jetzt in authentischer Form auf Deutsch vor. Er ist, wenn wir uns auf die Google-Suche verlassen können, in deutscher Sprache nicht im Internet veröffentlicht, sondern nur gedruckt im Band „Liturgie und Liturgische Bildung“ der Werkausgabe bei Grünewald/Schöningh nachzulesen. Und er entfaltet tatsächlich, wie von Kwasniewski anhand der englischen Übersetzung kritisiert, einen durchaus bedenklichen Begriff von „Liturgie“, der von den Anhängern der Liturgiereform auch heute noch – nachdem ihr Scheitern doch unübersehbar geworden sein sollte – mit einigem Recht als Stütze ihrer Vorstellungen in Anspruch genommen wird.
Schlüsselbegriff ist dabei die Frage nach der Fähigkeit oder Unfähigkeit des modernen Menschen zum „liturgischen Akt“ - die oft zu lesende Formulierung als Frage nach der „Liturgiefähigkeit“ ist eine Verkürzung, die den eigentlichen Inhalt der Überlegungen Guardinis nicht voll zum Ausdruck bringt. In der Rede von der „Liturgiefähigkeit“ bleibt unbestimmt, wie das Verhältnis des „modernen Menschen“ zur Liturgie gedacht ist und woran es wohl liege, daß er nicht (mehr) in der Lage sei, an der Liturgie auf rechte Weise teilzunehmen. In der Formulierung vom „liturgischen Akt“ klingt unüberhörbar als Unterton die „participatio actuosa“ an – und das in einer ziemlich radikalen Spielart dieser an Auslegungsvarianten reichhaltigen Begrifflichkeit, wie Guardini in seinen Versuchen, den „liturgischen Akt“ zu beschreiben, deutlich macht.
Der „liturgische Akt“ ist eine Hervorbringung der versammelten Gemeinde, der die Individualitäten der Gottesdienstteilnehmer überwindet und übersteigt und die so entstandene Gemeinschaft zum eigentlichen „Akteur“ des liturgischen Geschehens macht. Tatsächlich ist in dem ganzen nicht sonderlich langen (8 Druckseiten) Brief kein einziges Mal vom Gnadenhandeln Gottes an den Menschen in der Liturgie die Rede. Tatsächlich kommt Gott in diesen acht Seiten nur ein einziges Mal vor, wenn im Zusammenhang mit der von Guardini propagierten Gabenprozession ausgesagt wird, diese Aktion sei „selbst ‚Gebet‘, Bereitschaft gegen Gott, Mitvollzug der Gabenbereitung“.
Nun muß man bei einem solchen quantitativen Herangehen berücksichtigen, daß der Brief eben nur ein Brief ist – noch nicht einmal der Ansatz zu einer ausgearbeiteten theologischen Abhandlung. Man müßte auch mit einbeziehen, was der Verfasser in anderen liturgischen Werken – namentlich in den Büchern über den Geist der Liturgie und von den Heiligen Zeichen – zu diesen Zusammenhängen gesagt hat. Das soll hier zunächst un-untersucht bleiben. Zumal die Übersteigerung der Rolle der Gemeinschaft ein typisches Merkmal der gesamten späteren liturgischen Bewegung ist, das Guardini mit anderen Reformern seiner Generation gemeinsam hat. Kollektivismus gehörte seit den Katastrophen des 1. Weltkrieges zum Geist der Zeit, und die Attraktivität kollektivistischer Vorstellungen blieb auch nach der Niederlage des Faschismus als eines der Kulminationspunkte dieser Denkweise noch lange erhalten – bis die kollektivistische Verirrung durch die gegenwärtig herrschende ebenso verhängnisvolle Übersteigerung des Individualismus abgelöst wurde.
Dagegen erfordert ein anderer Punkt in dem Brief durchaus genaueres kritisches Hinsehen. Schon in der Einleitung des Briefes spricht der Autor davon, daß der Mensch des 19. Jahrhunderts „nicht mehr“ zum liturgischen Akt fähig sei – im Unterschied zu früheren Zeiten, in denen das durchaus der Fall gewesen sei. Diese Voraussetzung erscheint Guardini so evident und wird in der gesamten Diskussion über „Liturgiefähigkeit“ so selbstverständlich übernommen, daß gar nicht auffällt, daß Guardini diese These an keiner Stelle auch nur andeutungsweise begründet und daß schließlich ein großer Teil der Liturgiereformer davon ausging und heute noch ausgeht, es habe während langer Jahrhunderte des Mittelalters und der früheren Neuzeit keine wirklich dem Menschen und der Gottesverehrung gemäße Liturgie gegeben. Um nur einige der Stichworte anzuführen, in denen sich diese Ansicht manifestiert: Unbildung und Aberglaube des Volkes; mangelndes Verständnis der Texte bei den Mitfeiernden, aber auch bei den Priestern selbst; Teilnahme an Gottesdiensten nicht aus innerem Bedürfnis, sondern aus sozialen Zwängen...
Diese Mißstände sind ja nicht herbeiphantasiert, sondern haben ihre reale Grundlage, wenn das auch nicht dazu führen darf, das religiöse Leben dieser weniger erleuchteten Epochen rundum abzuwerten und die damals entstandenen liturgischen Formen abzuwerten. Vor der Frage, ob der moderne Mensch noch liturgiefähig sei, wäre also zu klären, inwieweit und in welcher Beziehung die „vormodernen“ Menschen dazu besser imstande gewesen wären – und dann die Gründe für ein „Nicht-Mehr“ zu untersuchen und Maßnahmen zur Abhilfe zu entwerfen. Guardinis Kosntrukt eines „vormodernen liturgiefähigen Menschen“ entbehrt jeder liturgiehistorischen oder sozialwissenschaftlichen Fundierung. Anscheinend war das auch vielen Liturgiereformern durchaus bewußt, und deshalb verlegten sie das goldene Zeitalter der Liturgie, auf dessen Wiederherstellung sie angeblich mit ihren Unternehmungen abzielten, sicherheitshalber weit zurück in die Vergangenheit – nämlich in die Zeit vor der Konstantinischen Tolerierung des Christentums, über deren Liturgie und Frömmigkeit man wenig weiß und die deshalb ideal dafür geeignet ist, den Hintergrund für durchaus zeitbedingte Projektionen aus der modernen Gegenwart abzugeben.
Dieser Versuchung hat Guardini nicht nur im Brief an Johannes Wagner widerstanden – der ideologische Archäologismus vieler Reformer, der sich bis auf den heutigen Tag weigert, tatsächliche archäologische Erkenntnisse zu akzeptieren, ist ihm fremd. Allerdings teilt er mit den Archäologisten die Bereitschaft, im Namen einer (vermeintlichen) Anpassung an gewandelte Erfordernisse buchstäblich alles zur Disposition zu stellen, was die bisherige organische Entwicklung der Liturgie hervorgebracht hat. Im Brief an Wagner: „Sollte man, statt von Erneuerung zu reden, nicht lieber überlegen, in welcher Weise die heiligen Geheimnisse zu feiern seien, damit dieser heutige Mensch mit seiner Wahrheit in ihnen stehen könne?“ Damit geht er weit über die Richtung eines Pius Parsch hinaus, der die Menschen liturgiefähig machen wollte, und nähert sich denen, die eine „menschengerechten Gottesdienst“ (Winfried Blasig) konstruieren wollen.
Die eigentliche Schlüsselfrage aber bleibt, ob es jemals eine Zeit und historische Umstände gegeben hat, in der der Mensch quasi „von sich aus“ eine größere „Fähigkeit zum liturgischen Akt“ besessen habe. Eher ist es wohl so, daß jede Zeit ihre in der konkreten gesellschaftlichen Situation liegenden Hindernisse für die rechte Teilnahme der Menschen an der Liturgie hat – und daß es zu keiner Zeit möglich war, Liturgie so zu „gestalten“, daß sie allen aus der Gesellschaft an sie herangetragenen Bedürfnissen gerecht wurde. Daß diese Schwierigkeiten umso größer sein dürften, je säkularer diese Gesellschaft ist, bildet einen realen Kern in der These Guardinis, die in ihrer Verallgemeinerung allerdings problematische Konsequenzen hat.
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Burg Rothenfels im Spessart war in den 20er und 30er Jahren ein wichtiger Tagungs- und Bildungsort der katholischen Jugendbewegung, dem Romano Guardini auf vielfache Weise verbunden war. Die Burg wurde 1939 von den Nazis übernommen, konnte jedoch nach dem Krieg ihre Tätigkeit zunächst im alten Geist wieder aufnehmen. Im Zuge der allgemeinen Säkularisierung hat sich ihr Profil seitdem der gesamtgesellschaftlichen Situation angeglichen - im aktuellen Webauftritt von „Jugendherberge und Tagungshaus Burg Rothenfels“ spielt die katholische Vergangenheit bestenfalls eine Rolle am Rande. Der „Quickborn Arbeitskreis“ als Träger der entsprechenden Veranstaltungen formuliert sein Selbstverständnis so:
Wir sind eine Gemeinschaft aller Generationen, die als Christinnen und Christen einen selbstständigen Weg zur Gestaltung des eigenen Lebens und der Gesellschaft suchen.
In der Mehrheit bekennen wir uns zum christlichen Glauben katholischer Konfession. Bei unseren Gottesdiensten wissen wir uns von Christus eingeladen. Deshalb erproben wir in unseren Eucharistiefeiern die eucharistische Gastfreundschaft. In der Ökumene und dem Dialog mit Menschen anderer Glaubensüberzeugungen und Lebenseinstellungen sehen wir Zukunft für die christliche Kirche.