Ordo Missæ VI: Die Fürbitten
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- 30. Oktober 2020
Zur Ordnung der Liturgie und ihrer „organischen“ Entwicklung gehört es auch, daß einzelne Elemente, die nicht zu ihrem wesentlichen Kern gehören, sondern die ihre Existenz überwiegend „praktischen“ Gründen verdanken, verändert oder ganz aufgegeben werden können, wenn die Praxis sich ändert. Generell sind solche Elemente – soweit man ihrer heute überhaupt noch habhaft werden kann – für das Verständnis der eigentlichen Liturgie von geringerer Bedeutung, auch wenn sie durchaus aufschlußreiches Licht auf einzelne Züge des Gemeindelebens früherer Zeiten werfen können. Am Übergang vom Wort- und Predigtgottesdienst der Vormesse zur eigentlichen Opfermesse verlangt nun ein solches „ausgestorbenes“ Element Aufmerksamkeit, weil es durch die Liturgiereform neu belebt und wieder in den Ritus eingeführt worden ist: Die Fürbitten oder das „allgemeine Gebet“ der Gläubigen.
Daß es ein solches Fürbittgebet an dieser Stelle gegeben hat, ist aus den ältesten Quellen belegt. Gebetstexte sind keine erhalten, aber aus verschiedenen Bemerkungen geht hervor, daß hier für die Kirche insgesamt, für die geistliche und weltliche Obrigkeit, für Wohlfahrt und Frieden der Gemeinde und wohl auch für die Verstorbenen gebetet wurde. Den stärksten Grund für ein solches Gebet gerade an dieser Stelle sehen Jungmann uns andere in der mit diesem Einschnitt erfolgenden Entlassung der Katechumenen und der öffentlichen Büßer. Tatsächlich wurde diese Entlassung vielfach feierlich und ausführlich mit Segnungen und Anrufungen verbunden – man kann sich das gut als den Abschluß des öffentlichen ersten Teils der Messfeier vorstellen. Am längsten erhalten haben sich solche feierlichen Segnungen und Anrufungen im Rahmen der österlichen Liturgien, in denen Katechumenen, also erwachsene Taufbewerber, auch dann noch eine sichtbare Rolle spielten, als die Kirche generell schon längst zur Kindertaufe übergegangen war. Von daher ist es einleuchtend, in den großen Fürbitten der Karfreitagsliturgie – in denen übrigens besondere Fürbitten auch ausdrücklich den Katechumenen und den Sündern/Büßern gewidmet sind – nach Baumstarks Gesetz von der „Erhaltung des Alten in liturgisch hochwertiger Zeit“ einen erhalten gebliebenen Rest der alten „allgemeinen Fürbitten“ zu sehen.
Gleichzeitig wird es von daher verständlich, daß diese „Unterbrechung“ des Gottesdiensts ihre Plausibilität verlor, als es in den Gottesdiensten keine Katechumenen oder öffentlichen Büßer mehr gab, die man hätte feierlich entlassen müssen. Spätestens seit der Festigung der Form des Canon Romanus, der im Te igitur und dem Memento Domine einen eigenen Satz von Fürbitten für die Kirche, den Klerus und die Gläubigen sowie in älteren Varianten auch für den weltlichen Herrscher enthält, konnten die Fürbitten des „allgemeinen Gebets“ als entbehrlich erscheinen. Sie wurden nie amtlich „abgeschafft“, sondern kamen einfach außer Gebrauch. Sie sind auf wirklich „organische“ Weise abgestorben – an dem einen Ort schneller und vollständig, an anderen langsamer und in Etappen. In den alten Kulturräumen von Aquitanien und Hochburgund, den Zentren der gallikanischen Liturgieentwicklung, blieben ihnen verwandte Formen am längsten erhalten; in einigen französischsprachigen Gebieten bis ins 19. Jahrhundert. Dort allerdings dann als eine Art Anhängsel zur Predigt und damit außerhalb der eigentlichen Liturgie und des Missales.
Teile der liturgischen Bewegung haben das „allgemeine Kirchengebet“ früh wiederentdeckt und als Zeugnis einer von der „Klerikerliturgie“ unterdrückten „participatio actuosa“ der Gemeinde interpretiert. Die dünnen historischen Befunde sprechen allerdings eher dafür, daß auch das „Allgemeine Gebet“ vom Priester oder Diakon angeführt wurde und die Gemeinde lediglich mit einem „te rogamus, audi nos“ oder dem im ganzen Mittelalter beliebten „Kyrieleis“ respondierte. Jedenfalls haben viele Vertreter der liturgischen Bewegung nachdrücklich für die Restaurierung dieses Gebetes plädiert. Auch Klaus Gamber hat sich in seiner Abhandlung über die „Liturgie übermorgen“ für eine solche Wiederherstellung ausgesprochen, bei ihm steht allerdings weniger die von ihm auch so gar nicht betonte participatio actuosa im Vordergrund, sondern das Bestreben, möglichst viel vom Ritus der Ostkirchen in die von ihm angestrebte zukünftige „ökumenische Liturgie“ zu übernehmen. Wieder andere stützten sich für diese Forderung auf eher „archäologistische“ Argumente: Zurück zu den Alten! (Auch wenn wir gar nicht so genau wissen, wie die es gehalten haben). Allgemein wird angenommen, daß der bekannte Satz aus Abschnitt 50 der Konzilskonstitution Sacrosanctum Concilium: „Einiges dagegen, was durch die Ungunst der Zeit verlorengegangen ist, soll, soweit es angebracht oder nötig erscheint, nach der altehrwürdigen Norm der Väter wiederhergestellt werden.“ vor allem auf die Wiederherstellung des allgemeinen Kirchengebet abzielt.
Und so ist es dann auch geschehen. Das mußte an sich kein Unglück sein, selbst wenn keine der angeführten Motivationen für die angestrebte Änderung jenen „wirklichen und sicher zu erhoffender Nutzen für die Kirche“ versprechen konnte, den Abschnitt 23 der Konstitution zur Bedingung für Änderungen macht. In der Praxis der Reformliturgie ist es allerdings sehr ungünstig ausgeschlagen, daß es zwar drei ideologische, aber kein im Leben der Gemeinden lebendiges geistliches Motiv für die Wiederbelebung dieses Elements gab, das seinen „Platz im Leben“ schon vor weit über tausend Jahren verloren hatte und auch nicht – wie andere „überlebte“ Elemente – eine erbauliche symbolische oder allegorische Deutung entwickeln konnte. In der Praxis hat sich der Aspekt der „participatio actuosa“ als einziger durchgesetzt.
Schon die Vorbereitung der Fürbitten ist in vielen Gemeinden Tummelplatz für die in Liturgieausschüssen gebündelten Ambitionen von Vereinsvertretern und Wichtigtuern, und der Vortrag selbst – oft gleichstellungspolitisch aufgeteilt unter verschiedene Liturgie-Darsteller – wird zum Jahrmarkt der Eitelkeiten. Das wäre vielleicht noch zu ertragen, wenn nicht der Inhalt der Fürbitten in einigen unlängst berichteten Fällen eher dem Wunschkatalog eines Parteitags entstammen würde als dem frommen Glaubenssinn des katholischen Volkes und der Lehre der Kirche. Ein krasses Beispiel hier von der Kolpinggemeinde; auch nicht schlecht ist der aktuelle Fürbittenvorschlag des Bistums Trier, dem wir auch unser Bild verdanken. Mission im Sinne des Evangeliums kommt da zum Missionssonntag überhaupt nicht vor! Hier ist deutlich zu sehen, wie sich die Fürbitten in einigen Gemeinden zu einer Art Koreferat zur Predigt und der Platform für die Verkündigung eines neuen Zeitgeist-Evangeliums entwickelt haben. Sollte das wirklich die Intention der Reformer gewesen sein?
Wirklich überraschend ist diese Entwicklung nicht. Gerade weil die Liturgie kein Museum ist, sondern mit dem Leben der Kirche und der Gemeinden eng verbunden ist, kann man sich im Allgemeinen wenig Gutes davon versprechen, „organisch abgestorbene“ Elemente künstlich wiederzubeleben. Wo der alte „Platz im Leben“ nicht mehr trägt, bieten sich die Zeitgeister an, die Leere zu füllen.