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Der heilige Pilatus?

Bild: WikimediaDie Berichte von der Passion Christi haben zwei negative Hauptfiguren – den Verräter Judas und den Zauderer Pilatus. Andere handelnde Personen, vor allem der (von den Römern eingesetzte) Hohepriester Kaiphas, finden dagegen weniger Beachtung. Judas und Pilatus dagegen haben die Verfasser der Apokryphen und später der Heiligenlegenden immer stark beschäftigt. Dabei bietet Judas, dessen Schicksal in Matthäus (27) sehr eindringlich beschrieben ist, der Spekulation eher wenig Anhaltspunkte. Erst die gnostische Literatur stellt sich die Frage, ob Judas nicht als der eigentliche Erfüller des göttlichen Heilsplans anzusehen ist, und markiert den Beginn einer in Teilen des christlichen Orients anzutreffenden Denkrichtung, die Judas sogar als Heiligen verehrt. Diese betont anti-rechtgläubige Denkrichtung ist auch in der Gegenwart wieder attraktiv geworden – damit müssen wir uns hier und heute nicht weiter befassen.

Interessanter für die Gegenwart erscheint Pilatus, der Machtmensch, der Opportunist, der Zweifler, der mit seiner im Johannesevangelium (18) überlieferten Frage „Was ist Wahrheit“ den Nerv dieser Gegenwart zu treffen scheint. Und dann ist da noch die Frau im Hintergrund, die nach dem Bericht des Matthäus auf Grund eines Traumes ihrem Mann die Warnung zukommen läßt, sich nicht auf den Tod „dieses Gerechten“ einzulassen. Das alles übrigens ist weitgehend auch außerhalb der Evangelien historisch belegt. Pontius Pilatus war von 26-36 Gouverneur von Judäa und Samaria. Er war ein übler Despot und Leuteschinder, effektiv im Amt, aber gewissenlos, und da die Gouverneure seit Augustus auch ihre Frauen an ihren Dienstort nachkommen lassen durften, hätte Claudia Procula – der Name ist belegt – zumindest die Möglichkeit gehabt, sich in der einen oder anderen dienstlichen Angelegenheit an ihn zu wenden. Über das Schicksal des Pilatus nach seiner Dienstzeit in Palästina ist nichts sicheres bekannt. Es gibt Hinweise darauf, daß seine Politik der harten Hand in Rom auf Widerspruch gestoßen war und er deshalb abberufen wurde. Von einem Prozess ist nichts bekannt.

Um dieses doch recht dürre Faktengerüst hat sich schon früh ein vielfarbiger Legendenkranz gelegt. Zwei Punkte sollen daraus herausgegriffen werden. Das eine ist die Jugendgeschichte, die er mit den Legenden um Judas gemeinsam hat und die unverkennbar Anleihen bei der Kindheitsgeschichte des Moses macht: Judas und Pilatus als Antitypen des Propheten, der seinem Volk das Gesetz übermittelte. Danach wurden Judas/Pilatus von der Mutter wegen einer unheilkündenden Prophezeiung als Säuglinge ausgesetzt und in einem Korb einem Fluß übergeben, der sie bei einer mitleidigen Dame von hohem Stand ans Ufer spülte. Dort wurden sie aufgenommen und wie eigene Kinder aufgezogen. Doch beide vergalten die ihnen entgegengebrachte Liebe schlecht. Als junge Männer töteten sie jeweils aus Neid den wahren Sohn des Hauses und flohen in die Welt, wo sie Karriere machten: Der Judas als Geheimagent des Herodes, der Pilatus als Statthalter.

Dem finsteren Beginn beider Lebensläufe entspricht nach der im Westen verbreiteten Erzählung auch bei Pilatus das schwarze Ende: Pilatus habe sich selbst umgebracht – bei den einen aus Verzweiflung wegen der vom Kaiser verfügten Absetzung und Degradierung, bei den anderen – immerhin – aus Reue über den als Fehlurteil erkannten Schuldspruch Jesu.

Noch betonter als bei Judas nehmen viele im Orient verbreitete Versionen der Pilatuslegende eine andere Wendung. Das beginnt schon bei dem hier bereits zu Dismas und Longinus zitierten apokryphen „Evangelium des Nikodemus“ aus der Zeit Kaiser Konstantins. Den ersten Teil dieses Textes bilden die sogannnaten „Pilatusakten“, die der Autor – zweifellos unberechtigt – als Übersetzung hebräischer Originalschriften ausgibt. Hier wird der Kampf der besseren Seite des Pilatus gegen die dunkle Seite ausführlich dargestellt, auch die Warnung seiner Frau findet breiten Raum, und über weite Strecken erscheint Pilatus mehr als Verteidiger denn als Richter des Angeklagten. Beim Prozess treten viele Zeugen von Jesus Wundertaten auf, auch der geheilte Gichtbrüchige und die Frau, die an Blutfluss gelitten hatte, loben Jesu Wundertaten. Unbeirrt fordern die Pharisäer das Todesurteil – und die Erzählung fährt fort:

Da wurde Pilatus zornig und sprach zu den Juden: Ein undankbares und aufsässiges Volk seid ihr! Immer erhebt ihr euch gegen eure Wohltäter! Fragten die Juden ihn: Gegen welche Wohltäter? Und Pilatus sprach: Einst hat euch euer Gott aus der harten Knechtschaft befreit in Ägyptenland und euch wohlbehalten durch das Meer geführt, als ob es trockenes Land wäre. Und in der Wüste ernährte er euch mit Manna und Wachteln und hat euch Wasser aus dem Felsen verschafft und euch das Gesetz gegeben. Und dennoch habt ihr euren Gott erzürnt und ließet euch ein goldenes Kalb machen....

Nach der Kreuzigung aber heißt es:

Der Hauptmann ging hin und sagte dem Landpfleger alles wieder, was geschehen war. Und als Pilatus und seine Frau das hörten wurden sie traurig und fasteten den ganzen Tag.

Im Evangelium des Nikodemus ist das die letzte Erwähnung des Pilatus; sie führt zu der Frage, ob Pilatus gar ein „anonymer Christ“ war? Andere wesentlich spätere Schriften setzen die hier angedeutete Entwicklung fort und machen den reumütigen Pilatus vollends zum Christen, der schließlich für seinen Glauben sogar das Martyrium erleidet. In den Legenden des Westens nimmt diese Version nur eine untergeordnete Position ein - im Orient ist sie weit verbreitet. Bei den Kopten wurde (und wird) Pilatus daher sogar als Heiliger verehrt. So kann er aus koptischer Sicht zusammen mit Dismas und Longinus dafür stehen, daß die Barmherzigkeit Gottes auch die schlimmsten Verbrechen vergeben kann – wenn dem Eingeständnis der Sünde die Reue und Umkehr folgen.

Noch eine Anmerkung zum Antijudaismus, der dem sichtlich um Entschuldigung des Pilatus bemühten „Nikodemus-Evangelium“ oft unterstellt wird. Eine Stütze im Text findet sich dafür nicht. Der Autor, der sich hier als Nikodemus, Angehöriger des Hohen Rates ausgibt, stammt offensichtlich aus einer judenchristlichen Tradition. In seiner Schrift vertritt er mit Nachdruck die Position derjenigen Juden, die sich seinerzeit der Verurteilung Jesus widersetzten und die Christus später als ihren Messias anerkannten. In den „Pilatusakten“ läßt er die Juden, die vor dem Hohen Rat und vor Pilatus für Christus eintraten, namentlich natürlich Nikodemus selbst, ausführlich zu Wort kommen. Sprecher beider Parteien bezeichnet er als „Juden“. Seine Ausführungen haben mit Antijudaismus und erst recht mit Antisemitismus nicht das geringste zu tun – sie sind Zeugnisse der innerjüdischen Auseinandersetzung.

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