Bereichsnavigation Themen:

„O Sapientia“

Bild: aus dem genannten Artikel in NLMHeute beginnt im Offizium der Kirche wieder die Reihe der O-Antiphonen, die jeweils vor dem Magnificat der Vesper gesungen werden und damit den sieben Tagen vor Weihnachten einen ganz besonderen Charakter verleihen. Diese Antiphonen, deren Anfänge mindestens bis in das 7. Jahrhundert zurückgehen, richten sich in Versen, die unmittelbar auf die messianische Erwartung des alten Testamentes zurückgehen, an den Messias, dessen baldiges Kommen sie erflehen. Die Reihe der Anrufungen ist „O Sapientia“, „O Adonai“, „O Radix Jesse“, „O Clavis David“, „O Oriens“, „O Rex Gentium“ und „O Emanual“ und bildet so eine Litanei von Namen Christi unter den Gestalten und Aspekten, mit denen das Alte Testament auf den kommenden Erlöser vorausweist.

Diese Liste ist bei weitem nicht vollständig – andere solche Erscheinungsformen wären z.B. die Wolke und die Feuersäule, die dem Volk Israel den Weg wies, der Felsen, aus dem Moses das Wasser für die Verdurstenden schlug, oder der brennende Dornbusch. Tatsächlich finden sich aus dem Hohen Mittelalter auch erweiterte Reihen von O-Antiphonen, die noch weitere Typoi Christi aus der frühen Zeit aufgreifen. In der römischen Liturgie konnte sich vermutlich wegen der den Tagen der Woche entsprechenden Zahl „Sieben“ nur die auch heute noch geltende Reihe durchsetzen und halten. Gestützt wurde das sicher durch den Umstand, daß die Anfänge der Anrufungen nach dem „O“ von hinten als Akrostichon gelesen werden können: ERO CRAS - „Morgen werde ich (da) sein“.

In der Liturgia Horarum der Liturgiereform haben die O-Orationen ihren Platz bewahren können, und die Bearbeiter der deutschen Fassung des reformierten Missale hatten die im Prinzip sicher diskutable Idee, den „Ruf vor dem Evangelium“ für diese Tage nach der Vorlage dieser Antiphonen zu gestalten. Leider haben sie diese Idee gleich wieder verdorben, indem sie die Antiphonen (mit einer Ausnahme bei Oriens) stark kürzten und quasi inhaltlich entkernten, die letzte sogar ganz durch eine marianische Neudichtung ersetzten, und vor allem das vorangestellte „O“ weggelassen haben.

DemGeist der Liturgie ist es zweifellos entsprechender, den in diesem Orationen nur knapp zum Ausdruck gebrachten Gedanken noch ausführlicher anzusprechen und als Gegenstand der Betrachtung anzubieten. Genau das haben die Verfasser eines Augsburger Offiziums aus dem Mittelalter getan, die jeder dieser Antiphonen (unter Durchbrechung der sonst an dieser Stelle gültigen Formenregel) noch ein Capitulum voran- und eine Oratio nachstellten. Für den ersten Tag der (in Augsburg übrigens 10-teiligen) Reihe mit „O Sapientia“ ergibt sich damit folgender Ablauf:

Kapitel: Ich bin die Weisheit aus dem Munde des Allerhöchsten hervorgegangen, Erstgeborene unter allen Geschöpfen. Kommt zu mir alle, die ihr mich begehrt, und lasst euch erfüllen mit meinen Früchten.

Antiphon: O Weisheit, hervorgegangen aus dem Mundes des Allerhöchsten, Du reichst von einem Ende der Welt zum anderen, in Kraft und Milde bestimmst Du alles, komm und Lehre uns den Weg der Klugheit.

Oration: Allmächtiger Gott, gib, daß keine irdischen Werke diejenigen, die zur Begegnung mit Deinem Sohne eilen, dabei behindere, und daß wir durch die Lehre der himmlischen Weisheit zu seiner Gemeinschaft geführt werden.

Den lateinischen Text und eine (englische) Übersetzung sämtlicher antiphonalen Dreisätze der ersten sieben Tage bietet Gregory Dipippo in einem letzte Woche erschienene Artikel auf New Liturgical Movement. Diesem Artikel haben wir auch die Abbildung entnommen: Das Blatt aus dem sog. „Antiphonarium Hartkers“ (10. Jh.) in der Stiftsbibliothek von St. Gallen enthält die ersten sechs O-Antiphonen in Text und Neumen.

Zusätzliche Informationen