Adam war kein Apfeldieb
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- 24. Dezember 2018
Am 24. Dezember gedenken die Christen – soweit sie das nicht wie so vieles längst vergessen haben – des hl. Adam, des Stammvaters des Menschengeschlechtes. Dieser Gedenktag war sogar lange aus dem Martyrologium verschwunden, gehört aber zum traditionellen Bestand des Heiligenkalenders in der Kirche des Westens – auch in den Gemeinschaften aus der Reformation. Bemerkenswerteweise wurde er unter der Verantwortung von Papst Johannes Paul II in die Fassung von 2004 wieder aufgenommen.
Die heilige Schrift hat neben der Erzählung von der verbotenen Frucht und dem Sündenfall wenig über Adam (hebräisch אָדָם ādām) zu berichten. Er war aus aus der Erde (hebräisch אֲדָמָה ădāmāh) erschaffen, nach Gottes Ebenbild und daher zunächst noch ungeteilt als Mann und Frau; seine Wohnung war das Paradies, das der Schöpfer ihm zur Pflege und Nutzung anvertraute. Später wurde ihm aus dem eigenen Fleisch und Bein eine Gefährtin gegeben, deren Name in der Septuaginta zuerst als Zoe erscheint: Das Leben. Bei der zweiten Nennung anläßlich Zeugung und Geburt Kains wird sie wie im Hebräischen als Eva angesprochen, und dieser Name wird dann auch in die lateinischen Fassungen übernommen. Doch das ist schon nach Sündenfall und Vertreibung - das Buch Genesis verläßt die Stammeltern und wendet sich der nächsten Katastrophe zu: Dem Brudermord Kains an Abel.
Schon in vorchristlicher Zeit wurde das als schmerzliche Lücke empfunden, und es bildete sich ein reichhaltiger Kranz von Legenden zum Leben von Adam und Eva. Solche Texte wurden dann - vermutlich erst in christlicher Zeit und vielfach von christlichen Autoren - in apokryphen Schriften gesammelt, die unter dem Namen „Apokalypse des Moses“ und „Das Leben Adams und Evas“ überliefert sind – sie haben in keiner Kirche des Westens oder des Ostens kanonischen Rang. Da diese Legenden erst nach der Zeit im Paradies einsetzen, haben sie allerdings zu Adam, so wie ihn Gott geschaffen und gewollt hatte, nichts zu sagen. Wir sind also auf die Exegese des kurzen Berichtes im Buch Genesis zurückverwiesen.
Einen ersten Hinweis gibt eine eingehende Betrachtung des Berichtes von der Erschaffung des Menschen in Genesis 2,15: „Und Gott der Herr nahm den Menschen, den er geformt hatte, und setzte ihn in den Gartenpark, damit er ihn bearbeite und bewache.“ Die Worte, die hier mit „bearbeiten und bewachen“ wiedergegeben sind, tauchen in der Schrift später im Zusammenhang mit dem Kult im Bundeszelt und im Tempel erneut auf, und diesmal in der Bedeutung von „Tempeldienst leisten und die Tradition bewahren“. Diese Übereinstimmung ist nicht zufällig: Anlage, Ausstattung und Schmuck des Tempels folgen in vielen Einzelheiten dem, was Genesis 2 über das Paradies (und viel später die Apokalypse des Johannes über das himmlische Jerusalem) zu sagen hat. Das Paradies war eine Vorgestalt des Tempels, und Adams Dienst im Paradies war nicht nur Landwirtschaft – er war Gottesdienst, priesterlicher Dienst.
Genau in die gleiche Richtung weist die von der Kirche überlieferte Lehre vom Wesen und Ursprung des Menschen. Der „alte“ Katechismus, wie er bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts das Bewußtsein der Gläubigen prägte, beginnt mit der Frage: „Wozu sind wir auf Erden?“ und gibt darauf eine Antwort, die selbstverständlich auch und ganz besonders für den Stammvater des Menschengeschlechtes zutreffend ist: „Wir sind auf Erden, um Gott zu lieben, ihm zu dienen und einst ewig bei ihm zu leben“.
Neben dem priesterlichen Dienst hatte Adam noch eine zweite Aufgabe. Sie ist bereits angedeutet mit der Berufung zu Bearbeitung und Pflege des Paradiesgartens, wird aber voll sichtbar in dem ihm übertragenen Auftrag, den Tieren der Schöpfung ihre Namen zu geben: Eine wahrhaft königliche Aufgabe. Adam war ein Priesterkönig wie nach ihm Melchisedech – doch er zeigte sich dieser hohen Aufgabe nicht gewachsen, wie uns die Erzählung vom Sündenfall eindringlich vor Augen führt. Dieses Versagen war der Grund dafür, daß schließlich das Wort Gottes selbst zur Erde herabstieg, wahrhaft zu Erde wurde, um den Menschen, den es einst „in seinem hohen Rang wunderbar erschaffen hatte, noch wunderbarer zu erneuern“. So das Opferungsgebet der überlieferten Liturgie bei der Vermischung von Wein und Wasser. Deshalb ist die Vigil des Geburtstag des Erlösers als Erdenmensch, des zweiten Adam, aus gutem Grund Gedenktag des ersten Stammvaters. Durch diese „zweite Schöpfung“ wurden Adam und seine Nachkommen erneut dazu befähigt, „Gott zu lieben, ihm zu dienen und einst ewig bei ihm zu leben“, wie es der göttliche Plan für das Paradies gewesen war.
Dem mageren Wortlauts des 2. Kapitels Genesis läßt sich darüber hinaus noch etwas mehr Aufschluß hinsichtlich der Natur des Versagens, das den ersten Adam seinen Platz im Paradiestempel gekostet hat, abringen. Bekanntlich ließ sich Adam von seiner Gefährtin, die ihrerseits den Einflüsterungen der Schlange folgte, dazu verleiten, vom „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ zu kosten – mit den bekannten dramatischen Folgen. Eine nähere Betrachtung der Sprache des Textes ist auch hier hilfreich, um oberflächliche Deutungen, die sich mit der Feststellung schlichten „Ungehorsams“ oder „Stolzes“ begnügen, zu vertiefen.
Mit Erkennen und Erkenntnis hat es in der biblischen Sprache – im hebräischen und im Griechischen stärker erkennbar als im Lateinischen – seine eigene Bewandtnis: Das in der Septuaginta verwandte Verb γιγνώσκειν (gignoskein) heißt nämlich nicht nur, eher passiv etwas wahrzunehmen und zu erkennen, was außerhalb und unabhängig vom erkennenden Subjekt ist. Näher leigt es dem deutschen „befinden“. Das „erkennen“ des Alten Testaments hat auch zwei überaus aktive Bedeutungen. Die eine bezeichnet den Vollzug des Zeugungsaktes: Adam erkannte Eva, und sie wurde schwanger (Gen 4, 1). Die andere bedeutet befinden, urteilen, bestimmen - beim „Baum der Erkenntnis“ geht es nicht nur darum, zu erkennen was Gut und Böse ist, sondern darum, zu bestimmen, was gut und böse ist, oder sein soll. Der Griff nach der Frucht dieses Baumes galt somit nicht nur einem Zipfel von Gott eifersüchtig gehüteten Geheimwissens, sondern der Stellung und dem Rang der Gottheit selbst. Nichts Geringeres hatte die Alte Schlange versprochen: „Ihr werdet sein wie Gott“.
Adam war kein gemeiner Apfeldieb. Eher war er eine Vorahnung des modernen Menschen, der Atome spaltet, um eigenes Sonnenfeuer zu entzünden, der sein Geschlecht nach Belieben selbstbestimmt und seinen Nachwuchs nach Maß im Labor züchtet – sofern er nicht gerade darüber nachsinnt, ob es nicht besser sei, sich auszurotten oder auszusterben und so das perfekte Paradies hervorzubringen, das zu schaffen Gott nicht fähig gewesen sei.
In der theologisch seriösen Beschäftigung mit dem alten Testament – nicht gerade der stärksten Seite katholischer Bibelkunde – ist das oben referierte weitgehend Allgemeingut. Ein Stück über diesen unstrittigen Bereich hinaus geht die englische Alttestamentkundlerin Margaret Barker mit ihrem Versuch, das Wesen des Adam verliehenen Priestertums näher zu erforschen. Anhaltspunkte dafür findet sie beim Propheten Ezechiel, dessen Schriften zu den sprachlich wie inhaltlich problematischsten Teilen des Alten Testaments überhaupt gehören – aber dennoch von Juden und Christen übereinstimmend dem Kanon der Bibel zugerechnet werden.
In Ezechiels „Reden gegen fremde Völker“ sind drei Kapitel (26-28) enthalten, die sich anscheinend mit der phönizischen Hafenstadt Tyros beschäftigen. In diesen Kapiteln geht es sprachlich und inhaltlich wüst durcheinander, einiges ist erkennbar doppeldeutig, anderes scheint in keiner Sprache einen klaren Sinn zu ergeben.
Das beginnt schon beim Namen Tyros, phönizisch sur, der Fels, und gleichlautend mit einem hebräischen Wort, das zunächst ebenfalls „Fels“ bedeutet. In einer abstrakteren Bedeutung kann es jedoch auch Grundlage, Fundament, Schema oder Muster bedeuten – letzteres dann auch im Sinne himmlischer Vor-Bilder, denen alle irdischen Dinge Wesen und Gestalt verdanken. Die „historisch-kritische“ Bibelkunde hielt diese von der Kirche in der Typenlehre systematisierten Vor-Bilder lange für späte Übernahmen aus der griechischen Philosophie, die dem Wesen der jüdischen Religion fremd seien. Doch unter anderem im apokryphen „Buch der Jubeljahre“, das in den Jahrhunderten vor und nach Christus ein vielgelesener Text im Bestand der heiligen Schriften war, bis es im 4. Jahrhundert definitiv für „nichtkanonisch“ erklärt wurde, spielen solche Vor-Bilder „sur“ eine große Rolle bei der Erschaffung der Welt aus dem Nichts. Und zwar auf eine Weise, für die keine hellenistischen Einflüsse plausibel gemacht werden könnten. Die Dinge der irdischen Welt entstehen und bestehen danach dadurch, daß ihre Muster „sur“ im Himmel in unvergängliches Material wie Fels (ebenfalls „sur“) gleichsam eingraviert werden. Von daher gesehen rückt das, was Ezechiel über die phönizische Küstenstadt Sur/Tyros zu schreiben scheint, unmittelbar in die Nähe der Erschaffung der Welt und des Paradieses.
Tatsächlich machen einige Aussagen der Kapitel Ezechiels über den König und die Stadt „Sur“, von denen erst in den Worten größter Erhabenheit und dann im Ton der tiefsten Verdammung die Rede ist, erst dann Sinn, wenn man ihnen eine kosmische Deutung unterlegt.
Denn was soll man von einem „König von Tyros“ (so die landläufige Übersetzung oder besser Interpretation) halten, der nach dem „Muster“ Gottes geschaffen war, den hebräischen Formen nach gleichzeitig männlich und weiblich ist, und von dem mehrfach überschwengliche Beschreibungen gegeben werden – etwa in der Art:
Du bist ein Siegel(abdruck) eines Modells und ein Kranz der Schönheit in der Wonne des Paradieses Gottes geworden. (28-12) Von dem Tag an, an dem du erschaffen wurdest, habe ich dich mit dem Cherub (oder als Cherub) auf den heiligen Berg Gottes gesetzt, du wurdest mitten in feurigem Gestein geboren. Mit jeder Art von Edelstein bist du geschmückt, mit Sardischem Stein und Topas und Smaragd und Karfunkel und Saphir und Jaspis und Silber und Golda und Ligyrion und Achat und Amethyst und Chrysolith und Beryll und Onyx, und mit Gold hast du deine Schatzkammern und deine Magazine bei dir angefüllt. Du bist makellos geboren worden in deinen Tagen von dem Tag an, an dem du erschaffen wurdest, bis die Unrechttaten bei dir entdeckt wurden. (28, 14-15)
Deshalb so kann das Glück des Königs von Sur, des Herrn des ganzen Erdkreises, nicht von Dauer sein; das Urteil ist hart:
Du bist zum Verderben geworden, und du wirst nicht mehr sein auf ewig. (…) So spricht der Herr: Deswegen, weil dein Herz hochmütig geworden ist und weil du gesagt hast: Ich bin Gott, ich bewohne den Wohnsitz Gottes im Herzen des Meeres, du aber bist ein Mensch und nicht Gott und hast (doch) dein Herz wie das Herz Gottes gemacht. (Ez. 27,36 – 28,2).
Die Rede von diesem sagenhaften König von Sur, da ist sich Margaret Barker ziemlich sicher, bewahrt die Erinnerung an eine andere Version der Erzählung vom Paradies und vom Sündenfall. Tyros/Sur und dessen König wären dann Abbilder des „Musters“, des Planes Gottes für den königlichen und priesterlichen Menschen im Garten Eden – der Erdenmensch vor dem Fall. Und noch mehr: Die oben als Bestandteil des Ornats des Königs von Sur gegebene Liste der Edelsteine entspricht exakt den im Buch Exodus vorgeschriebenen Juwelen auf dem Brustschild des Hohepriesters. Das greift weit über alles hinaus, was die hl. Schrift der Juden dem König eines Stadtstaates zugestehen konnte – vielleicht zählt die (jüngere) masoretische Fassung des Textes deshalb nur neun der Juwelen auf, während die (ältere) Septuaginta noch alle zwölf kennt. Nach dieser Lesart wäre der so hoch erhabene und dann so tief gestürzte Stammvater Adam/Sur der erste Hohepriester im Tempel des Paradieses gewesen, und das Tempelpriestertum selbst wäre in unerhörter Weise mit einbezogen in den Bogen der Heilsgeschichte vom ersten Adam im Paradies und dessen Ungenügen bis zur Menschwerdung des zweiten Adam in Bethlehem, dem Auftakt zur endgültigen Versöhnung durch Christus, den ewigen Hohen Priester.