Bereichsnavigation Themen:

Die Tora lesen?

Bild: Wikimedia commons, gemeinfreiGleich zwei kirchliche Meldungen dieser Tage haben das Verhältnis von Judentum und Christentum zum Gegenstand – und beide beziehen sich auf je einen der zwei Päpste, mit denen sich die Kirche derzeit gesegnet oder geschlagen sieht, je nachdem. Papst Benedikt, so erfahren wir, hat am Mittwoch eine Delegation jüdischer Oberrabiner empfangen und mit ihnen über „Mißverständnisse“ gesprochen, die über einen von ihm letzten Jahr erschienenen Artikel entstanden waren. Es ging unter anderem darum, ob die Kirche die Rolle des Bundesvolkes „geerbt“ hat, die einst dem Volk Israel zugekommen war. Wenn Genaueres über den Inhalt des Gespräches bekannt wird, ist dazu vielleicht noch das eine oder andere zu sagen.

Gleichzeitig hat  der Osservatore Romano anläßlich des neuerdings in manchen Diözesen begangenen „Tag des Judentums“ auf einen Text von Papst Franziskus hingewiesen, in dem sich dieser zum Verhältnis zwischen Juden und Christen und dessen künftiger Entwicklung geäußert hat. Tenor: „Die Werte, Traditionen und großen Ideen, die das Judentum und das Christentum gemeinsam haben, müssen in den Dienst der Menschheit gestellt werden.“ Aber gewiß doch. „Werte und Ideen, Menschheit“ – darüber wird man sich doch verständigen können.

War da sonst noch was? Laut der österreichischen Agentur Kathpress hat Franziskus „die Christen ausdrücklich zu einem Studium jüdischer Texte, etwa der Thora, aufgefordert.“ Franziskus wollen wir einmal unterstellen, das er weiß, was die Thora ist – bei dem Berichterstatter von Kathpress (und dem Redakteur, der dessen Text für kath.net übernommen hat) sind wir uns da nicht so sicher. Die Thora ist nämlich kein „jüdischer Text“, bezüglich dessen man Christen sozusagen zum Blick über den Zaum zum Nachbarn ermutigen könnte - und schon stehen wir mitten im Problem zwischen Christen und Juden.

„Thora“ ist der bei den Juden gebräuchliche Name für die „Fünf Bücher Moses“, auf Griechisch auch „Pentateuch“ genannt, und die sind integraler Bestandteil des „Alten Testaments“ – also einer der beiden großen Sammlungen der heiligen Schriften des Christentums. Der heiligen Schrift der Juden, dem Tanach, gehören neben der Thora auch noch die Propheten (Neviim) und die Schriften (Ketuvim) an – auch sie sind ausnahmslos Bestandteil des christlichen „Alten Testaments“, das zusätzlich einige weitere Schriften aus altjüdischer Tradition als kanonisch anerkennt. Hier geht es weiter

Der Text der Thora ist in (jüdischem) Tanach und (christlichem) Altem Testament weitgehend (von höchst interessanten Ausnahmen abgesehen) der gleiche. Der Blickwinkel und die Lesart sind freilich höchst verschieden: Für orthodoxe Juden sind die fünf Bücher der Thora „Das Gesetz“, das Gott seinem Volk vor dreitausend Jahren gegeben hat und dessen möglichst wörtliche Einhaltung – zu besichtigen in entsprechenden Stadtvierteln von Jerusalem – bis zum heutigen Tag höchste Pflicht ist. Für Christen sind die gleichen Bücher Erinnerungen an eine ferne Vergangenheit, die zwar auch – z.B. in den 10 Geboten und in einigen prophetischen Elementen – Elemente von „Gesetz“ enthalten, ansonsten aber eher als eine Sammlung von mehr oder weniger lehrreichen Fabeln und Parabeln angesehen werden. Wäre nicht alles andere „Fundamentalismus“? Und hat nicht Christus selbst die auf ihn Getauften von der knechtischen Unterwerfung unter „das Gesetz“ befreit? Was hätten die „jüdisch gelesenen“ fünf Bücher Mosis einem Christenmenschen zu sagen?

Damit ist das entscheidende Stichwort gefallen: „Christus“, nach dem die Christen benannt sind, er ist der Prüf-, der Eck- und der Grundstein für das Verhältnis zwischen Synagoge und Kirche, Judentum und Christentum.

Christos, das ist der Gesalbte, der Messias, der seinem Volk von Gott versprochene Erlöser, der die durch menschliche Sündenschuld aufgerissene Kluft zwischen dem Volk Israel und seinem Gott, zwischen der Menschheit und ihrem Gott, wieder schließt. Die Frage, die zwischen gläubigen Juden und gläubigen Christen steht, ist weniger eine abstrakte theologische Frage wie etwa die nach der Trinität – auch der Gott der Tora zeigt sich in verschiedenen Aspekten und Gestalten. Die trennende Frage höchst einfach und schwer erträglich konkret: War Jesus von Nazareth aus dem Stamme Davids der Messias, ist in seinem Tod am Kreuz die Versöhnung erfolgt und ein neuer Bund geschlossen – oder war er es nicht und müssen die frommen Juden und damit alle Menschen guten Willens weiterhin auf die Einlösung des von den Propheten gegebenen messianischen Versprechens warten?

Das ist eine der von unserer Gegenwart so verabscheuten „binären Fragen“, in denen es kein Dazwischen und kein Vielleicht geben kann, keinen Kompromiß und kein Ausdiskutieren, nur Ja oder Nein – Null oder Eins. Das heißt nicht, daß die einen die anderen aus der Gesellschaft drängen oder totschlagen dürften oder gar müssten, wie das in gröberen Zeiten vielfach praktiziert wurde – von beiden Seiten aus übrigens. Schon in diesen „gröberen Zeiten“ gab es das Gespräch des Kirchenvaters Justin mit dem Juden Tryphon im zweiten Jahrhundert, in dem beide Seiten darum rangen, ihren Standpunkt möglichst klar zum Ausdruck zu bringen - also nicht in Formeln verschwinden zu lassen, wie das allzuviele moderne Dialoge versuchen. Oder dann im vierten Jahrhundert den Bibelübersetzer Hieronymus, der – seine Muttersprache war griechisch, doch er wollte die Bibel aus dem Hebräischen übersetzen – dazu auch mit rabbinischen Gelehrten zusammenarbeitete, ohne daß es zu Mord und Totschlag gekommen wäre.

Keiner von ihnen wäre auf den Gedanken gekommen, „die Werte, Traditionen und großen Ideen, die das Judentum und das Christentum gemeinsam haben, ... in den Dienst der Menschheit (zu) stellen“. Ihnen ging es nicht um „Werte und Ideen“ oder „die Menschheit“, sondern um Gottes Wort – und das befähigte sie, auch unüberbrückbare Gegensätze auszuhalten.

Zusätzliche Informationen