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Die Zukunft der Tradition

Bild: https://www.gabriellieditori.it/portfolio-posts/andrea-grillo/Der römische Liturgieprofessor Andrea Grillo hat – wieder einmal – seine Feindschaft gegenüber der überlieferten Liturgie zu Protokoll gegeben. Seine Forderungen, das Motu Proprio „Summorum Pontificum“ aufzuheben, die Feier der überlieferten Liturgie an strenge Beschränkungen unter der Aufsicht der Ortsbischöfe zu binden und mittelfristig völlig zu untersagen, hat denn auch für einiges Aufsehen gesorgt. Dabei ist ganz untergegangen, daß jenseits der Sphäre akademischen Geschwätzes, in der Grillo eine große Nummer ist, gerade ein wichtiger Fortschritt zu verzeichnen ist, der in direktem Gegensatz zu seinen Forderungen steht: Mit Datum vom 9. April hat der Papst neue Normen und Ausführungsbestimmungen für die Personalordinariate der anglikanischen Tradition erlassen, die diesen Einrichtungen, die große Bedeutung für die Erhaltung liturgischer Traditionen haben, weitaus bessere Grundlagen für ihre zukünftige Entwicklung geben als bisher.

Doch der Reihe nach. Die Ausgangsposition Grillos hat ja durchaus einen gewissen Realitätsgehalt: Summorum Pontificum spricht in Art. 1 von einem unproblematischen Nebeneinander der „zwei Ausdrucksformen derselben ‚lex orandi‘ der Kirche“ und „zwei Anwendungsformen des einen Römischen Ritus“. Dieses Nebeneinander wäre freilich nur dann unproblematisch, wenn es „keineswegs zu einer Spaltung der "Lex credendi" der Kirche führen“ würde, wie das Motu Proprio an gleicher Stelle einigermaßen apodiktisch feststellt. Doch genau das war schon 2007 zum Zeitpunkt des Erlasses von SP eine Fiktion.

Seit Einführung des Novus Ordo, und wenn man genauer hinschaut, schon seit den Beratungen und Diskussionen, die zu seiner Ausarbeitung führten, gab es bedeutende Stimmen, die die überlieferte „lex orandi“ deshalb verwarfen, weil sie den vermeintlichen Anforderungen der Gegenwart an eine zeitgemäße „lex credendi“ nicht entspräche. In den Schriften von Leuten wie Lengeling, Wagner, Emminghaus oder Kunzler finden sich immer wieder Wendungen, die darauf hinweisen, dies oder jenes aus der überlieferten Liturgie sei „heute nicht mehr vermittelbar“ oder „theologisch nicht mehr möglich“. Der Novus Ordo war von Anfang an nicht nur eine neue Stufe in der Entwicklung der römischen Liturgie, sondern auch ein Bruch mit ihrer bisherigen Tradition nach Formen und Inhalt – deshalb wurde die Auseinandersetzung auch von Anfang an mit solcher Schärfe geführt.

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Dieser Unterschied in der Bewertung der Inhalte hat sich seit der Spätphase der liturgischen Bewegung ständig vertieft. Nicht erst die Rehabilitation der überlieferten Liturgie hat diese Unterschiede bewirkt – aber sie läßt sie offener zu Tage treten. Spektakulär deutlich wird das in den Ergebnissen einer Untersuchung, die Ende letzten Jahres in den USA durchgeführt wurde, und deren Ergebnisse wir hier referiert und hier kommentiert haben. 

Daraus geht hervor, daß zentrale Inhalte der Lehre von Katholiken, die sich im Novus Ordo zu hause fühlen, und denen, die an der überlieferten Liturgie festhalten, geradezu entgegengesetzt bewertet werden. Die in den USA befragten Katholiken, und dieser Befund läßt sich im Wesentlichen auch auf viele europäischen Länder übertragen – teilen längst nicht mehr einen gemeinsamen Glauben.

Diese Unterschiede – und da liegt Grillos Irrtum – diese Unterschiede sind jedoch keinesfalls durch die verschiedenen Formen der Liturgie bedingt – sie finden darin lediglich ihren Ausdruck. Und sie lassen sich auch nicht mehr dadurch aufheben, daß man die eine Form per Verwaltungsakt „abschafft“ – weder die eine, noch die andere. Das „Abschaffen“ ist bereits zu Beginn der 70er Jahre nicht gelungen, und es würde heute noch viel spektakulärer scheitern. Es gibt keine einheitliche katholische Lehre mehr. Ein Teil der Unentschiedenheiten und Widersprüchlichkeiten, die im Lehramt seit dem 2. Vatikanischen Konzil aufgetreten sind und im aktuellen Pontifikat zu dessen faktischer Suspendierung geführt haben, hat genau darin ihre Ursachen: Jedes Mehr an Eindeutigkeit würde einen Teil der Kirchenmitglieder noch tiefer in die Spaltung treiben - also läßt man es bleiben.

Vielleicht ist das, um zum zweiten Thema überzugehen, der Grund für die alles in allem doch recht erstaunliche Verbesserung der Position der Ordinariate, die jetzt vollzogen worden ist.

Die Einrichtung der Ordinariate in Anglicanorum coetibus (2009) war ein großer Schritt in der richtigen Richtung. Zum einen, indem so gegen starke Widerstände der Gedanke der Rückkehr-Ökumene wieder rehabilitiert wurde. Zum anderen dadurch, daß Anglicanorum coetibus es erfolgreich vermied, unterschiedliche Formen der Liturgie zu einem Kristallisationspunkt der Auseinandersetzung über unterschiedliche Inhalte von Glaube und Lehre werden zu lassen. Obwohl es dazu gerade bei den Anglikanern genügend Ansatzpunkte gegeben hätte.

Die anglikanische Tradition verfügt über ein reiches liturgisches Erbe – von der viele römische Formen bewahrenden „High Church“ bis zur protestantisch auftretenden „Low Church“, die formal dem Novus Ordo nahesteht – von den Einflüssen des Rite of Sarum (Salisbury) ganz abgesehen. Die unterschiedlichen mit Anglicanorum Coetibus zur Kirche zurückkehrenden Gruppierungen gehörten durchaus verschiedenen solcher Traditionen an. Doch anders als in der katholischen „Stammkirche“ waren sie durch ein entschiedenes Bekenntnis zum geltenden Katechismus der Katholischen Kirche miteinander verbunden, das von allen Übertrittswilligen abgelegt worden war. Auf der Basis dieser fundamentalen Übereinstimmung war es denn auch möglich, ein Messbuch in englischer Liturgiesprache (Divine Worship – The Missal) zu erarbeiten, das in seinen vielfältigen Optionen die Feier des katholischen Meßopfers sowohl in eher moderner Form in der Nähe des Novus Ordo als auch in einer mehr traditionellen Form erlaubt, die kaum von der überlieferten lateinischen Liturgie zu unterschieden ist. Aber es gibt keine oder zumindest keine bedeutenden Unterschiede in der „lex credendi“. Der Römische Kanon ist für die hl. Messe am Sonntag in jedem Fall vorgeschrieben.

Anglicanorum Coetibus hatte allerdings einen schwerwiegenden Mangel: Die Frage des Zugangs zum Ordinariat blieb teilweise ungeklärt oder wurde sehr restriktiv gehandhabt – als Regelfall war angenommen, daß ganze bisher der Church of England (oder in den USA der Episkopalkirche) angehörende Gemeinden oder größere Gemeindeteile mit ihrem Priester um Aufnahme bitten würden. Das hat sich so praktisch nur in relativ wenigen Fällen realisiert.

Angesichts der Tatsache, daß die Anglikaner/Episkopalen einerseits rapide an christlicher Substanz verlieren und tief eingewurzelte historische Belastungen und materielle Rahmenbedingungen (Alterssicherung für Priester!) den Wechsel größerer Gruppen erschweren, kamen Befürchtungen auf, die Ordinariate seien lediglich als „Übergangsmaßnahme“ konzipiert, die sozusagen einen Teil der Konkursmasse der Anglikaner auffangen und diese ohne dauerhafte eigene Perspektive in die römische Kirche integrieren sollte. Und zumindest die englischen Bischöfe (sowohl die anglikanischen wie die katholischen) taten alles, um diesen Eindruck zu befördern und die ihnen unerwünschten Konversionen, die sie als „Sünde gegen den Geist des ökumenischen Dialogs“ verstanden, unattraktiv erscheinen zu lassen. Die katholischen Bischöfe waren überdies bemüht, alle Lücken zu schließen, durch die eigene Diözesanangehörige in ein Ordinariat überwechseln könnten – nicht zuletzt im Blick auf Kandidaten für das Priesteramt: Die Ordinariate haben nach anglikanischer Tradition keine Zölibatspflicht.

Genau in diesen heiklen Punkten des Zugangs bringen die nun erlassenen neuen Normen erhebliche Verbesserungen – zumindest in der Theorie. Die Ordinariate haben nun einen regulären Auftrag zur Evangelisierung – d.h. sie können auch neue Mitglieder durch die Taufe aufnehmen oder bereits getauften Christen unabhängig von ihrer bisherigen Zugehörigkeit eine neue Heimat bietet. Die bisherige Begrenzung auf Familienangehörige, die bereits ein Mitglied im Ordinariat haben, entfällt. Ehemalige anglikanische Geistliche, die bereits früher  in einer katholischen Diözese (sub conditione) geweiht und inkardiniert wurden, erhalten das Recht, die Aufnahme in ein Ordinariat zu beantragen. Seminaristen der Ordinariate, die an einer Hochschule eines „lateinischen“ Bistums studieren, bekommen einen Sonderstatus, der ihre Zugehörigkeit zum Ordinariat und dessen spezielle Ausbildungsordnung ausdrücklich anerkennt. Sogar die Aufnahme von katholisch getauften, aber dem Glauben entfremdeten Personen, die durch die Tätigkeit des Ordinariats zum Glauben zurückgeführt worden sind, ist möglich – allerdings nur, wenn sie in der katholischen Diözese noch nicht zur Erstkommunion gegangen und gefirmt worden sind. Ein Übertritt von Katholiken, die unter den glaubenszersetzenden Tendenzen in ihrer Gemeinde oder Diözese leiden, ist also nach wie vor nicht vorgesehen.

Die Priester des Ordinariats können in jeder katholischen Kirche privatim und mit Erlaubnis des Kirchenordinarius auch publice nach dem Missale Divine Worship zelebrieren. Im Prinzip ist die Verwendung von Divine Worship zwar nur für Priester der Ordinariate zulässig. Bei entsprechenden „pastoralen Erfordernissen“ können jedoch auch lateinische Diözesan- oder Ordenspriester für Gläubige des Ordinariats nach „Divine Worship“ zelebrieren.

Während die Normen von 2009 davon ausgingen, daß die Ordinariate lediglich als Organisationsform für frühere Anglikaner und Episkopale fungieren sollten, macht die neue Fassung explizit deutlich, daß es sich dabei um Diözesen für Katholiken handelt, die das lebendige Erbe der Kirche Englands weitertragen wollen und dazu einen eigenen Auftrag zur Neuevangelisierung besitzen. Damit hängt ihre Zukunft nicht mehr alleine vom Zerfall der bestehenden anglikanischen Gemeinschaften ab, sondern ebenso von eigenen Anstrengungen in der Verkündung des Glaubens.

Mit diesen Vorgaben nähert sich die rechtliche Stellung der Ordinariate ein gutes Stück der einer Rituskirche, wie sie die katholischen Kirchen der orientalischen Riten innehaben.

Nun sind die Ordinariate nach Struktur, Disziplin und Liturgie nicht in jeder Hinsicht mit den Gemeinschaften und den vielfältigen Gemeinden für die überlieferte Liturgie vergleichbar. Ihre Organisationsform könnte jedoch in vielerlei Hinsicht ein Vorbild für eine rechtliche Stellung des überlieferten Ritus im Rahmen der katholischen Kirche bieten – auch innerhalb einer nach den Vorstellungen des aktuellen Pontifikats hochgradig synodalisierten und kantonalisierten Struktur. Die Tatsache, daß die Stellung der in Liturgie und Lehre konservativen Ordinariate in dieser Weise gestärkt worden ist, läßt vermuten, daß die Vorstellungen Grillos nicht den gegenwärtigen Strategien des Vatikans entsprechen. Der Vatikan 2019 setzt auf Diversität – und gefällt sich in der Erwartung, daß der „Geist des Fortschritts“ sich auf Dauer durchsetzen werde.

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