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Wer ist der gute Samariter?

Bild: F.T.Marchese, https://www.researchgate.net/figure/Chartres-Cathedral-partial-view-of-Bay-44-of-the-Good-Samaritan-Typologcal-window_fig2_267391617Der gestrige Sonntag war nach dem Novus Ordo der 15. Sonntag im Jahreskreis, an dem im aktuellen „Lesejahr C“ als Evangelium das Gleichnis vom barmherzigen Samariter vorgetragen wird. (In der überlieferten Liturgie hat diese Perikope leicht erweitert ihren Platz am 12. Sonntag nach Pfingsten.) Ester vom Beiboot Petri hat dazu einen überaus lesenswerten Beitrag geschrieben, dessen Gedankengang wir hier aufnehmen und durch zusätzliche Verweise auf die Gedankenwelt der frommen Juden der Zeit erweitern, denen Jesus dieses Gleichnis vorgetragen hat.

Zunächst hier noch einmal zur Erinnerung der zentrale Teil des Gleichnisses nach Lukas 10, 30-34, Einheitsübersetzung:

Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halbtot liegen. Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging vorüber. Ebenso kam auch ein Levit zu der Stelle; er sah ihn und ging vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam zu ihm; er sah ihn und hatte Mitleid, ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein eigenes Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn. 

Die heute übliche Lesart dieses Gleichnisses ist in der Einleitung bei Schott-Online perfekt zusammengefasst:

Was muss ich tun?“, fragt der Gesetzeslehrer zuerst, und dann: „Wer ist mein Nächster?“ Auf die erste Frage weiß er selbst die Antwort; sie steht im Gesetz, in den Schriften des Alten Bundes (Dtn 6, 5 und Lev 19, 18). Auf die zweite Frage antwortet Jesus mit der Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter. Dein Nächster ist, wer deine Hilfe braucht. Ihm bist du der Nächste. Der „Nächste“, dem ich begegne, ist nicht nur der andere; er ist der Mensch, in dem Gott mir begegnet und mich in seine Gemeinschaft ruft.

Modernen Ohren klingt das überaus eingängig, und tatsächlich ist dieses Verständnis sicher auch mitgemeint, ganz im Sinne des bei Markus 4,11-12 berichteten „Euch ist das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben; für die aber, die draußen sind, geschieht alles in Gleichnissen; denn sehen sollen sie, sehen, aber nicht erkennen; hören sollen sie, hören, aber nicht verstehen.“

Dieses moderne Verständnis folgt nun offensichtlich dem für „die, die draußen sind“ - und verfehlt damit völlig das „Geheimnis des Reiches Gottes“. Das liegt nach dem übereinstimmenden Zeugnis der Kirchenväter (s. u.A. Catena Aurea) in einer ganz anderen Lesart.

Danach ist „von Jerusalem hinab nach Jericho“ keine geographische oder vielleicht auch nur beliebige Angabe, sondern steht für den Abstieg des Menschen aus dem Paradies in die Gottferne der Welt – das Schicksal des unerlösten Menschen nach dem Sündenfall. Die Deutung der ganzen Geschichte in den Worten der Lukas-Catenen, die bis auf Origines (2. Jahrhundert) zurückgehen:

Mit dem Menschen ist Adam gemeint, mit Jerusalem das Paradies, mit Jericho die Welt; mit den Räubern die dämonischen Mächte, mit dem Priester das Gesetz, mit dem Leviten das prophetische Wort (die Säulen des Alten Bundes, die beide nicht die Kraft zur wirklichen Erlösung hatten). Mit dem Samariter ist Christus gemeint, der aus Maria geboren wurde und Fleisch annahm (sich wie der Auswärtige Samariter in die Fremde begab), mit den Wundern der Ungehorsam, mit dem Tier (dem Esel, auf dem der Samariter reitet) der Leib Christi. Mit dem Gasthaus ist die Kirche gemeint … Mit der Wiederkunft des Samariters aber ist die zweite Epiphanie Christi gemeint“.

Zitiert (und mit eigenen erklärenden Hinweisen in Klammern ergänzt) nach Wolfgang Bienert, der dieser Auslegung allerdings extrem skeptisch gegenübersteht und sie für eine recht gezwungene ideologische Interpretation hält.

Dem ist jedoch keinesfalls so.Hier geht es weiter Diese Deutung stellt keine Einzelmeinung dar, sondern war Gemeinbesitz der ganzen Christenheit bis lange in die Neuzeit. Belege dafür sind nicht nur bildliche Darstellungen wie das oben gezeigte Rosettenfenster der Kathedrale von Chartres, das dieses Gleichnis dem Zusammenhang von Paradies und Sündenfalls zuordnet, sondern auch der liturgische Kontext der Perikope, der eindeutig Christus-zentriert ist – auch noch im Novus Ordo.

Noch deutlicher erschließt sich der Zusammenhang, wenn man tiefer in die Gedankenwelt des alten Testaments eintaucht – also die Gedankenwelt der frommen Juden, denen Jesus das Gleichnis vortrug. Jerusalem, das war der Tempel, und der Tempel war nach Bauplan und Funktion Abbild des Paradieses – das konnte jeder hören, der Ohren hatte. Die Räuber hatten ihr Opfer nicht einfach so ausgeraubt, wie die Vulgata und in ihrem Gefolge die meisten Übersetzungen schreiben. Der griechische Text des Lukasevangeliums ist genauer: Danach hatten die Räuber ihr Opfer „ausgezogen“ (ekdysantes) – und das heißt nicht nur „ausgeraubt bis auf die nackte Haut“. Adam sah nach dem Verlust des Paradieses, daß er nackt war – er hatte mit der Sünde das Gewand der heiligmachenden Gnade verloren. Ein ganz ähnliches Bild begegnet uns im Gleichnis vom Gast beim Festmahl, der kein hochzeitliches Gewand trägt und daher hinausgeworfen wird, wo Heulen und Zähneknirschen herrscht. Der unter die Sünde gefallene Mensch ist vor Gott nackt.

Der Samariter und sein Esel - der Mensch und das Tier bezeichnen im „Code“ des alten Testaments immer wieder Wesen, die „eine Stufe höher“ stehen: Der, der in Ezechiels Vision auf dem Thron Gottes sitzt, hat die „Gestalt eines Menschen“, und die Deutung der vier lebendigen Wesen vor dem Thron Gottes als Engel (d.h. Verkünder) und dementsprechend als Evangelisten greift diese „Stufentheorie“ auch noch im neuen Testament auf. Christus selbst erscheint je nach Kontext in Bildern beider Stufen – auf dem göttlichen Thron als der Menschensohn und auf dem Opferaltar geschlachtet als das Lamm Gottes. Aber auch der Esel trägt seit alters her das Kreuz auf seinem Rücken.

Daß der Gott-Mensch-Erlöser ausgerechnet als Samariter eingeführt wird, liegt in dieser Bildersprache ebenfalls nahe – gerade in der Gegenüberstellung zu den ebenfalls genannten Figuren des Priesters und des Leviten. Die hier mit der Menschheit insgesamt gleichgesetzten Juden konnten und können sich eben nicht aus eigener Kraft erlösen, der Erlöser kommt von außen/oben – und er kommt als einer, der verachtet ist und von den Seinen nicht aufgenommen wird - perfekt verkörpert im Samariter.

So fremd diese hier offenbar werdende Denkweise der Moderne sein mag – sie ist mehr als „Allegorie“, sondern sie ist zutiefst verwurzelt in der Sprache und Wahrnehmung der Offenbarung, die in vielem von den Juden des Alten auf die Kirchenväter des Neuen Testaments übergegangen ist. Der Schott von 1963 steht noch ganz in dieser Tradition, wenn er zum Gleichnis vom Samariter gestützt auf später noch erweiterte Versionen dieser allegorischen Deutung (und vielleicht schon ohne tieferes Verständnis des Zusammenhanges) schreibt:

Der Alte Bund geht an dem dem Tode geweihten Menschen ohnmächtig vorüber, der neue Bund gießt Öl (Taufe, Firmung) und Wein (Eucharistie) in seine Wunden und bringt ihn in eine gute Herberge, in die hl. Kirche.

Im Schott von 1965 ist davon immerhin noch die Identifikation des Samariters mit dem Erlöser vorhanden; in der Eingangs zitierten aktuellen Version dann fast nur noch der diesseitige Aspekt des Aufrufs, dem Nächsten Gutes zu tun. Der Samariter - dessen Rolle übernehmen wir selbst! Und wir bringen den Verletzten ins nächste Krankenhaus. Paradies - was soll uns das?

Was für eine Entstellung! Aber gleichzeitig auch eine Erklärung dafür, wie große Teile der Kirche innerhalb weniger Jahrzehnte dahin kommen konnten, wohin sie gesunken sind. „Entmythologisierung“ und falsche Anthropozentrik fordern ihren Preis. Der Verfall von Glaube und Theologie treibt die Zerstörung der Liturgie – und die Zerstörung der Liturgie befördert weiter den Zerfall des Glaubens.

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