Bereichsnavigation Themen:

Die Hirten der Völker

Repro aus dem Missale von Pustet 1894, eigene AufnahmeKeine Weihnachtskrippe ohne die Hirten und ihre wollige Herde. Vor zwei Jahren haben wir hier beschrieben, daß an den Hirten von Bethlehem (möglicherweise) noch mehr war, als man sich gemeinhin unter Schafhirten vorstellt. Einiges spricht dafür, daß sie in Wirklichkeit Angehörige des priesterlichen Stammes der Leviten waren, die auf dem Feld beim „Turm der Herde“ im Auftrag des Tempels die makellosen Opfertiere für die alltäglichen Opfer in Jerusalem züchteten. So wäre also Bethlehem im zweifachen Sinne „nicht die geringste unter den Fürstenstädten Israels“ gewesen: Nicht nur als Ort der Geburt des Sprosses aus dem Hause Davids, der, wie viele hofften, das weltliche Königtum erneuern würde, sondern auch des letzten und höchsten Opferlammes, für das endgültige Opfer, das nicht nur dem Volk Israel, sondern der ganzen Menschheit den Weg zur Erlösung öffnen sollte. Die priesterlichen Hirten aber wären ein verbindendes Glied zwischen dem Israel des alten Bundes und seines Tempels und dem neuen Israel der ganzen Welt, deren Erlöser sie als erste ihre Verehrung darbrachten.

Aber vielleicht ist sogar noch mehr an diesen Hirten von Bethlehem. Wenn wir einigen frühen Kirchenvätern glauben können, die noch Zugang zum Wissen des Glaubens Israels vor der Zerstreuung (also aus der Zeit Christi und früher) hatten, waren sie – zumindest auf einer symbolischen Ebene – nicht nur die Hirten der Schafe des Tempels, sondern sie stehen für die Hirten der Völker, für jene mächtigen Engel, die Throne und Herrschaften, die der Allmächtige nicht zum Dienst an seinem Thron, sondern als Lenker und Beschützer der Völker eingesetzt hatte. Ihnen an erster Stelle galt die Botschaft der Engel. Sie hatten mit der ganzen Welt sehnsüchtig auf einen Retter gewartet, und nun eilten zum Ort der Geburt des Herrn und feierten mit den vom Himmel herabgekommenen Mit-Engeln (?) den ersten Tag des Versöhnungswerkes, das erste Weihnachtsfest in geradezu kosmischer Dimension: Gloria in excelsis Deo et in terra pax hominibus bonae voluntatis.

Der Glaube Israels an die Engel ist in den Schriften des alten Testaments, dessen Autoren unter der Führung des Geistes sehr darauf bedacht waren, alle Ansatzpunkte (oder Überreste!) von Vielgötterei zu vermeiden oder auszumerzen, nur sehr bruchstückhaft überliefert. Hier geht es weiter Mehr findet sich in den Apokryphen des AT, insbesondere im „Buch der Jubiläen“ und in den Büchern Enoch. Das dort enthaltene Material ist allerdings in vielem widersprüchlich und stark mythologisch bis märchenhaft oder von gnostischen Einflüssen geprägt. Keine sehr solide Grundlage also, und nur mit großer Vorsicht zu verwenden. Dennoch haben frühchristliche Autoren diese Texte sorgfältig ausgewertet, beginnend mit dem (Pseudo-) Apostel Judas, dessen in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommener kurzer Brief das Buch Enoch und andere nichtkanonische Schriften in einer Weise zitiert, als ob er ihnen kanonischen Rang zugemessen hätte.

Der französische Jesuit (und Kardinal) Jean Daniélou (1905-1974) hat im Rahmen seiner Forschungen zu den Kirchenvätern gesammelt und geordnet (in Anges et leur mission, 1952), was die frühen Lehrer und Gelehrten der Kirche auf der Grundlage des ihnen bekannten Materials über Wesen und Wirken der Engel erschlossen haben. Seine erste Quelle sind Predigten des Origines († 254), aber auch Eusebius von Caesarea († 339), Hilarius von Poitiers († 368) und andere haben beizutragen. Dabei geht es weder den Vätern noch Daniélou um Geschichtsschreibung oder dogmatische Glaubensaussagen. Wie Goldgräber gewinnen Sie aus dem Strom der Überlieferung Bilder und Allegorien – um auch dem menschlichen Geist zugängliche Abbilder von transzendentwn Realitäten der Heilsgeschichte zeichnen zu können.

Nach dem frühen Glauben Israels, wie er zur Zeit Christi nur noch im einfachen Volk weiterlebte, hat der Herr nach dem Sündenfall der Menschheit treu gebliebene Engel (denn auch sie hatten ihren „Sündenfall“) zu Lehrern – auf sie soll die allen Völkern gemeinsame Ur-Offenbarung zurück gehen – und Hirten der Völker (eine Art Schutzengel XXL) eingesetzt. Ihre Zahl wird je nach der Weite des Horizonts der Verfasser der (apokryphen) Schriften, die diese Überlieferung bewahren, mit 12, 60 oder 72 angegeben; der Einfluß astronomischer Vorstellungen ist unübersehbar, und tatsächlich sind Engel und Sterne in den frühen Vorstellungen zumindest Geschwister, wenn sie nicht sogar völlig miteinander in Eins gesetzt werden. Spuren davon haben sich bis in die Offenbarung vom Ende der Zeit bei Johannes erhalten. Doch die „Völkerengel“, waren der durch die Sünde in die Welt gekommenen Bosheit der Menschen nicht gewachsen, eins nach dem anderen versanken die Völker in Aberglaube und Götzendienst. Selbst das Volk Israel, dem kein besonderer Engel zugeteilt worden war, sondern das der Höchste sich selbst vorbehalten hatte, irrte immer wieder von dem Weg ab, der ihm doch im Gesetz Moses und den Worten der Propheten deutlicher vorgezeichnet worden war als jedem anderen Volk. So war denn auch nur in Israel als dem einzigen der Völker die Hoffnung auf den Heiland lebendig geblieben.

Die Bereitschaft, den undankbaren Hirtendienst an den exilierten Kindern Evas zu übernehmen und sie als künftige Gotteskinder anzuerkennen, gehörte auf geheimnisvolle Weise mit zu der Probe, die den Engeln auferlegt wurde – und der sich Satan und die Seinen unter dem Banner des „non serviam“ so unheilvoll entzogen. Für die Engel der Völker, die den Auftrag angenommen, jedoch ihre seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden andauernden Bemühungen erfolglos geblieben sahen, war diese Entwicklung modern ausgedrückt einigermaßen frustrierend. Tatsächlich dürfen wir uns die Engel des frühen jüdischen Verständnisses noch nicht so ganz und gar „überirdisch“ vorstellen, wie das dem heutigen Bild von den „reinen Geistern“ entspricht. Typisch für das frühe Verständnis Israels ist, daß die Benennung der Engel zwischen „Gottessöhne“ und „Menschensöhne“ schwankt. Sie waren in gar keiner Weise übermächtig oder allwissend. Sie waren die Boten, die den Menschen den Willen des Herrn überbrachten – aber diese Menschen besaßen ihren eigenen freien Willen mit der ererbten Neigung zum Bösen, ein widerspenstiges Volk, dem schwer beizukommen war. Bis die irdischen Hirtenengel diese Botschaft aus dem Gesang der vom Himmel herabgestiegenen Engelscharen vernahmen, war der Plan Gottes, selbst zu seinen von ihm entfremdeten Kindern hinabzusteigen und sie zur Erlösung zu berufen, diesen Engeln unbekannt und unvorstellbar geblieben. Doch nun breitete sich der Ruf vom Ort der Geburt über die ganze Erde aus – für alle, die ihn hören konnten, nah und fern. Vielleicht war auch der Stern der Drei Weisen der „Bruder“ eines dieser Engel, eine leuchtende Stimme aus ihrem Chor.

An dieser Stelle, quasi zum „Lokalkolorit“, eine Passage aus einer der Predigten des Origines, die Danielou hier anführt:

Da nun die ganze bewohnte Erde durch die bösen Geister und ihren Anführer von so großen Übeln befallen war und keiner der Engel dem entgegenwirken konnte, und da auch das Volk, das Er liebte, tief in Unrecht und Sünde versunken war, war es höchst angemessen, daß das Wort Gottes, der Retter Aller, durch den barmherzigen Willen der Liebe des Vaters zu den Menschen zunächst mit dem Propheten Mose und den anderen gottesbegnadeten Menschen kurze und schwache Strahlen seines eigenen hellen Lichtes aussenden sollte. Doch da weder diese noch die Späteren als Heilmittel gegen das Böse wirkten und das Treiben der Dämonen von Tag zu Tag ärger wurde, kam der Erlöser selbst als Heiland zu den Menschen und half seinen Engeln bei ihrem Werk zur Rettung der Menschen.

Als die Engel des Herrn den Hirten der Schafe die Geburt des Erlösers verkündeten, war das demnach für die Hirten der Völker eine ebenso große Überraschung wie für diese – seien sie nun wirklich nur einfache Hirten oder doch eher priesterliche Wächter über die Makellosigkeit der späteren Opfertiere gewesen. Und in einem Punkt übertraf die Botschaft, die von den himmlischen Engeln verkündet wurde, sogar die kühnsten Hoffnungen ihrer irdischen Mitstreiter. In den Worten des Origines, noch einmal nach Danielou:

Der Heiland nimmt nun nicht alleine die Frommen und Gerechten Israels oder das Auserwählte Volk als Ganzes unter seinen mächtigen Schutz, sondern alle Völker der Erde, die zunächst den Engeln anvertraut worden waren und sich in alle Arten von Gottlosigkeit verstrickt hatten. Ihnen allen brachte er das Wissen und die Freundschaft seines Vaters, des allmächtigen Gottes. Als Seine Engel, die zunächst als Hirten der Völker eingesetzt waren, Ihn sahen, erkannten sie sofort, daß er Ihnen zu helfen gekommen war und eilten voll Freude zu ihm, um Ihm zu dienen. Wie die Heilige Schrift im Evangelium sagt: „Die Engel kamen herbei und dienten ihm“.

Nein, Bethlehem war nicht die geringste unter den Fürstenstädten Judas, und in dieser Nacht wurde der Stall in der Höhle zur Achse des Kosmos. Die ganze belebte Schöpfung fand ihr Zentrum an diesem Ort im Raum und diesem Punkt in der Zeit mit dem Kind in der Krippe: Die Geister der himmlischen Heerscharen und die guten Geister der Erde samt den Menschen guten Willens, und auch „Ochs und Esel erkennen die Stimme ihres Herrn“. Als ob die Cherubim mit ihrem „Gloria“ den Sitz Gottes vom Himmel herabgebracht hätten, verschmilzt das Bild der ärmlichen Krippe mit der Vision des von den Vier Wesen getragenen Throns der Merkabah aus der Vision des Ezekiel – das ist der Moment, von dem eine alte Weihnachtsoration sagt:

Allmächtiger Gott, du hast den Menschen in seiner Würde wunderbar erschaffen und noch wunderbarer erneuert. Lass uns [durch das Geheimnis dieses Wassers und Weines] teilnehmen an der Gottheit Dessen, der sich herabgelassen hat, unsere Menschennatur anzunehmen, Jesus Christus, Dein Sohn, unser Herr., der unsere Menschennatur angenommen hat...

Dieses Gebet wiederholt die überlieferte Liturgie in jeder Heiligen Messe zur Opferung, und auch die Reformliturgie, die die Opferungsgebete „abgeschafft“ hat, bewahrt den Hauptgedanken dieses Textes als Oration der dritten Weihnachtsmesse „am Tage“. Weihnachten ist das Fest der Neuerschaffung des Menschen, der Wiederherstellung seiner - der Potenz nach - göttlichen Natur.

Zusätzliche Informationen