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Der Verlust der Sequenzen

Bild: Illumination eines Graduale um 1400, Wikimedia CommonsAls Kritik an der Liturgiereform nach Trient wird von traditioneller Seite häufig angeführt, daß diese Reform den reichen Sequenzenschatz der römischen Liturgie „abgeschafft“ habe. Irgendwie ist diese Ansicht zum nicht weiter hinterfragten Gemeingut geworden. Bei Wikipedia wird sie unter dem Stichwort „Choral“ ohne weiteren Beleg angeführt, und wir haben uns hier zweimal dazu hinreißen lassen, sogar von einem „Sequenzensturm“ zu sprechen, den die Reform Pius’ V. vermeintlich entfacht hätte.

Gregory Dipippo von NewLiturgicalMovement hat dieses „Wiejederweiß“ nun doch einmal hinterfragt und dabei festgestellt: Es stimmt nicht – wenigstens nicht so. Dazu hat er sich die Vorläufer des von Pius V. promulgierten Missales sowie zahlreiche andere Missale der Zeit vor Trient genauer angeschaut und dabei zweierlei festgestellt: Die regionalen oder von Orden gebrauchten Messbücher „vor Trient“ enthalten in der Tat eine große Zahl sehr unterschiedlicher Sequenzen, die von großer spiritueller Tiefe bis zu billiger Polemik gegen (kirchen)politische Gegner zeugen. Aber das bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgbare Missale der römischen Kurie, das von den Wissenschaftlern Pius’ V. als Vorbild betrachtet und daher mit wenigen Änderungen und Ergänzungen übernommen worden war, hatte niemals mehr als die bekannten vier Sequenzen zu Ostern, Pfingsten, Fronleichnam und dem Requiem. Dementsprechend kennt auch das Missale von Pius V. nur vier Sequenzen, später durch das Stabat Mater zum Fest der Sieben Schmerzen Mariens auf fünf erweitert. Von einer „Abschaffung“ von Sequenzen ist nirgendwo die Rede - zumindest nicht durch Pius V. und seine Reform des Missales.

Hier geht es weiterAber obwohl Pius V. In seiner Bulle zur Promulgation des „reformierten“ Ordo ausdrücklich festgestellt hatte, daß alle Messbücher, die älter als 200 Jahre waren (und daher als von lutherischen, calvinistischen und sonstigen häretischen Einflüssen frei angesehen wurden) uneingeschränkt weiter verwandt werden durften, setzte mit der Promulgation des mit seinem Namen verbundenen Missales eine wohl von niemandem erwartete oder gar gewollte Dynamik ein: Innerhalb von nicht einmal zwei Jahrhunderten übernahmen fast alle Diözesen und Ordensgemeinschaften der lateinischen Kirche das „Missale Romanum ex Decreto Sacrosancti Concilii Tridentini restitutum“ oder glichen ihre Eigenriten dem weitgehend an. Nur an wenigen Orten – wichtigstes Beispiel ist vielleicht Lyon – blieb das überlieferte Messbuch zumindest in einigen wesentlichen Elementen weiter in Gebrauch.

Die Gründe dafür waren vielfältig: Eine bedeutende Rolle spielte sicher die relative Kürze und Übersichtlichkeit der von diesem Missale gebotenen als Standard oder „Basisform“ gebotenen Einzelmesse des Priesters. Dazu kam das im Geist der Gegenreformation begründete Bestreben, sich eine sichere Grundlage gegenüber den vielfach von irrigen Vorstellungen angekränkelten lokalen Gebräuchen zu verschaffen. Auch eine Bevorzugung des Modernen gegenüber dem Altüberlieferten mag eine Rolle gespielt haben – schließlich lebte man im Zeitalter der Aufklärung. Und ganz wesentlich: Die zum Zeitpunkt der Promulgation des Missales Pius’ V. gerade ein Jahrhundert zurückliegende Erfindung der Buchdruckerkunst hatte erst die Voraussetzung dafür geschaffen, liturgische Bücher in größerem Maßstab einheitlich zu verbreiten.

Motive und Umstände der Verbreitung des Trienter Missales in der lateinischen Kirche wären ein Thema für sich – einige Überlegungen in dieser Richtung bringt Gregory Dipippo in seinem hier angeführten Artikel. Hinsichtlich der Sequenzen ist festzuhalten, daß die freiwillige und aus eigenem Antrieb erfolgende Übernahme des römischen Missales quasi automatisch den Verlust des überlieferten Sequenzenschatzes mit sich brachte, selbst wenn hier und da einzelne einer Gemeinschaft besonders ans Herz gewachsene Sequenzen auch weiterhin – wenn nicht in den gedruckten Ausgaben, so doch in der liturgischen Praxis – in Gebrauch blieben.

Dipippo macht darauf aufmerksam, daß solche ungewollten und vielleicht auch unerwünschten Nebenwirkungen wohl mit jedem Eingriff in die organisch gewachsene Liturgie verbunden sind – wie wünschenswert wäre es gewwesen, wenn die Reformer des 20. Jahrhunderts sich dessen mehr bewußt gewesen wären, als sie es offensichtlich waren. Und er macht darüber hinaus darauf aufmerksam, daß es relativ leicht wäre, zumindest einige besonders schmerzliche Verluste dadurch wieder wettzumachen, daß man einzelne Glanzstücke des Sequenzenschatzes – man denke nur an die Werke des Adam von Sankt Viktor – als Gesang der Schola wieder in den Gebrauch der Liturgie einführt.

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