Der frühchristliche Altar - Kein Mahltisch, sondern sakraler Ort
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- 26. Juni 2013
Der frühchristliche Altar - Lehren für heute
Stefan Heid
1. Periodische Umgestaltungen des Kirchenraums
Umgestaltungen der Kirchenräume hat es in allen Epochen gegeben. Dabei erwies sich der Altarraum als der gefährdetste Bereich. Als man im Mittelalter begann, die liturgische Disposition von St. Peter in Rom nachzuahmen, wurden allerorten die Altarräume zerstört, um eine Krypta anzulegen. Später hat der Bau gotischer Chöre zum Abriss vieler Altarräume geführt. Im Barock kam es zu erneuten tiefgreifenden Veränderungen. Auch die heutige Zeit ist davon nicht verschont. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurden Tausende neuer Altäre gesetzt und dabei nicht selten altehrwürdige Altäre zerstört, verstellt oder verstümmelt.
Insgesamt haben solche epochalen Veränderungen die kirchliche Kunst und Kultur zum Schaden und zum Nutzen geprägt. Dabei ist auch viel Seelenblut vergossen worden. Die je moderne Theologie und der jeweilige Zeitgeschmack erzwangen Veränderungen, die dann eine zeitlang Bestand hatten, bis sie von späteren Generationen verworfen oder weiterentwickelt wurden. Nimmt man Joseph Brauns Monumentalwerk "Der christliche Altar" zur Hand, versteht man, welch gewaltige Formenvielfalt an Altären es im Lauf der Kirchengeschichte gab.
Es besteht also kein Anlass zu meinen, die postvatikanischen Veränderungen wären bereits beendet oder sie wären das letzte und endgültige Wort in Sachen Altar. Vieles wird zwar nach dem Gesetz der Trägheit bleiben, manches aber auch wieder verschwinden, darunter ebenso schöne wie schäbige Schöpfungen. Im besten Fall wird man Exzesse beseitigen und Misslungenes korrigieren.
2. Die Problematik der Norma Patrum
Ein besonders starker Impuls des Zweiten Vatikanischen Konzils ging vom Schlagwort der norma patrum aus (Sacrosanctum Concilium 50), also vom Vorbild der Kirchenväter, das der Reform des Messordo die Richtung weisen sollte. In der Folge wurde nicht nur die Liturgie, sondern auch der Kirchen- und Altarraum umgestaltet. Insgesamt ist ein Megatrend hin zum frühchristlichen Ideal festzustellen, der mit der liturgischen Bewegung im ausgehenden 19. Jahrhundert einsetzte und durch das Konzil eine universalkirchliche Dimension erhielt.
Der Versuch, aus der eigenen Zeit zur Liturgie der Frühen Kirche zurückzustoßen, ist nicht neu. Schon Karl der Große verlangte von Papst Hadrian ein "reines" Sakramentar, das die ursprüngliche römische und damit apostolische Liturgie enthalte. Das Konzil von Trient inaugurierte seine Messreform unter dem Motto der norma patrum. Allerdings beschränkte sich damals die Väterrezeption auf wenige bewährte Autoren. Eine Denkmälerkunde gab es noch nicht, so dass dem Barock eine sichere Kenntnis frühchristlicher Kirchenbauten und ihrer liturgischen Einrichtungen fehlte. Selbst wenn man die Kirchen Roms für altehrwürdig hielt, war man weit davon entfernt, einen frühchristlichen Kirchenraum um seiner selbst willen zu erhalten. Vielmehr verpasste man auch diesen Kirchen eine barocke Dauerwelle, die den frühchristlichen Eindruck und die mittelalterliche Ordnung überlagerte. Hinzu kamen jene barocken Neubauten, die sich ganz vom traditionellen Basilikalstil befreiten.
Zweifellos hat der Barock eine der tiefgreifendsten und genialsten Umgestaltungen des Kirchenraums gebracht. Aber der norma patrum kam dabei keine tragende Rolle zu; wichtiger waren Katechese, Heiligenverehrung und Sakramentenfrömmigkeit. Dabei blieb die große Konstante die überlieferte Liturgie, die im Wesentlichen nicht angetastet wurde. Der barocke Kirchenraum diente als kosmisch-katholische Kulisse für die göttlichen Mysterien. Man sprach mit Augustinus gern vom "Altarsakrament". Die gewaltigen Aufbauten und die demonstrative Vielzahl der Altäre sollten den unendlichen Wert eines jeden Messopfers vor Augen führen.
Das Zweite Vatikanische Konzil hat mit demselben Stichwort der norma patrum eine ungleich stärkere Resonanz gefunden, wie zu zeigen sein wird. Dabei hatten sich inzwischen die theologischen Disziplinen der Exegese, Kirchengeschichte und Patristik etabliert. Mehr und mehr begann sich das einheitliche Bild der Frühen Kirche aufzulösen und in unterschiedliche Kirchentümer zu zerfallen. Vor allem stellte die Forschung nun der klassischen Patristik die vorkonstantinische Kirche und gar das Urchristentum gegenüber. In dieser Ambivalenz lag von vornherein für die konziliare Rezeption der norma patrum ein Risiko: Welches Christentum entsprach nun der norma patrum? Musste man zum Urchristentum zurückkehren und die eigentliche Patristik bereits als Fehlentwicklung ansehen?
3. Der Einfluss der Christlichen Archäologie
Neben der Patrologie kam es im 19.-20. Jahrhundert zu einem Aufschwung der Christlichen Archäologie, die nun sozusagen die materielle Seite der norma patrum lieferte. Erstmals hatte man durch Expeditionen und Grabungen eine unmittelbare Vorstellung, wie ein frühchristlicher Kirchenraum aussah. Die italienische Denkmalpflege machte sich die neuen Erkenntnisse zu eigen. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellte man frühchristliche Kirchenräume wieder her, indem man Kirchen entbarockisierte, etwa San Vitale in Ravenna (seit 1898) und Santa Sabina in Rom (1914-1919). Heraus kamen letztlich artifizielle, ihrer historischen Textur beraubte Kirchenräume. Trotzdem wurden diese prominenten Denkmäler zu Modellkirchen eines modernen Trends, der das Mittelalter und den Barock zu überholten liturgischen Epochen deklassierte.
Die Christliche Archäologie nahm auch Einfluss auf die Liturgie. Sie inspirierte jene Liturgen, die vor und nach dem Konzil eine neue Liturgie aus dem Geist der Frühen Kirche entwarfen. Deren zentrale Figur Annibale Bugnini hatte 1942-1945 am Päpstlichen Institut für Christliche Archäologie studiert. Die neue Liturgie sollte sich an den Kirchen der Frühzeit in ihrer edlen Einfachheit orientieren: Sie sollte gleichsam an die afrikanisch-augustinische Liturgie anknüpfen, die mit dem römisch-tridentinischen Ritus genauso wenig zu tun hatte wie der barocke Kirchenbau mit den wiederhergestellten Kirchen Roms und Ravennas.
Der Altar war von all diesen Bestrebungen unmittelbar betroffen. Von größtem Einfluss war dabei der Augsburger Priester Franz Wieland (1872-1957), der 1906 bis 1912 drei Altarstudien veröffentlichte. Wieland, der in Rom die christlich-archäologischen Zeugnisse studiert hatte, vertrat vehement die Meinung, es habe ursprünglich kein eucharistisches Opfer und keinen christlichen Altar gegeben. Wenn im 1.-2. Jahrhundert vom Opfer und Altar die Rede war, so sei das rein geistig zu verstehen. Erst im Laufe des Jahrhunderts habe die Sakralisierung und Sazerdotalisierung grundlegegend neue Koordinaten geschaffen. Obwohl Wielands Bücher auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt wurden, haben sie sich auf ganzer Linie durchgesetzt. Ihren einflussreichsten Anhänger fanden sie in Theodor Klauser (1894-1984).
4. Die These vom eucharistischen Esstisch
Die Wieland-Klauser-These vom eucharistischen Esstisch setzt mit der Behauptung ein, der christliche Altar leite sich vom Tisch des Letzten Abendmahls her. Diese Behauptung wird heute unisono von allen, die sich zum Ursprung des christlichen Altars äußern, geteilt. Die ersten Generationen der Christen hätten deshalb das Gemeinschaftsmahl und die Eucharistie am selben Tisch abgehalten. Später, als man die Eucharistie vom Gemeinschaftsmahl trennte, hätte man in Erinnerung an das Abendmahl bewusst an der Tischform festgehalten. In den ersten beiden Jahrhunderten habe es daher nur beliebige Esstische (aus Holz) für die Eucharistie gegeben. Bis heute leitet daher die Forschung den frühchristlichen Altar vom antiken Speisetisch ab. Erst mit dem Beginn des Kirchenbaus im ausgehenden 3. Jahrhundert habe man stabilere Tische aufgestellt und diese im Sinne wirklicher Altäre sakralisiert.
Die kirchlichen Schriftsteller sprechen allerdings bereits um 100 wahlweise vom "Tisch" (mensa, trápeza) und vom "Altar" (altare, thysiastérion). Man behauptete nun, die ersten Nennungen des "Altars", etwa im Hebräerbrief und bei Ignatius von Antiochia, seien metaphorisch zu verstehen. Außerdem sei "Altar" gegenüber "Tisch" ein späterer Sprachgebrauch. Um dies zu untermauern, meinte man, die ersten christlichen Versammlungen hätten in normalen Familienhäusern stattgefunden, wo es keine reservierten Kulträume gab und man einen beliebigen Esstisch gelegentlich als Altar benutzte. Eine andere These lautete, in den Hauskirchen sei das Triklinium für die Eucharistie verwendet worden; man habe dazu halbkreisförmige Liegen und Sigmatische aufgestellt. Von dieser Anordnung her leite sich später die Apsis der Basiliken mit der umlaufenden Priesterbank ab.
Textlich konnte man sich dafür nur auf einen romanhaften Text des 3. Jahrhunderts aus Ostsyrien stützen. Hier wird einmal eine Bank als Tisch bereitet, ein anderes Mal der Tisch eines Trikliniums verwendet, um die Eucharistie zu feiern. Weiter schien da die Christliche Archäologie zu helfen. Denn auf der Suche nach den frühesten Darstellungen der Eucharistie behauptete man, diese sei in den ersten Jahrhunderten wie beim Letzten Abendmahl (Mt 26,20) als Liegemahl gefeiert und in den Katakomben als solches dargestellt worden. Man sah in dem niedrigen Speisetisch (Rundtisch oder Sigmatisch), an dem die Mahlgenossen auf Polstern lagen, den eucharistischen Tisch.
Solche Thesen sind bis heute populär. Sie sind aber weder beweisbar noch wahrscheinlich. Man weiß inzwischen, dass die frühchristlichen Darstellungen von Liegemählern Totenmähler sind. Es gibt schlechterdings keine eucharistischen Liegemähler in der frühen Kunst, also lassen sich dort auch keine eucharistischen Esstische finden. Außerdem wurde bislang nie eine Hauskirche gefunden, in der das Triklinium als Ort der Eucharistie gefeiert wurde.
Die eigentliche Schwäche der Wieland-Klauser-These liegt darin, dass sie unkritisch davon ausgeht, dass der eucharistische "Tisch" wegen des Letzten Abendmahls einen Esstisch meine. Der antike Speisetisch bei Liegemählern war nun einmal ein runder oder halbrunder niedriger Tisch. Bis ins 5. Jahrhundert tauchen aber nirgends derartige Altartische auf, und auch dann sind Sigma-Altäre die extreme Ausnahme. Die nahezu ausschließliche Form eines Altars ist hingegen ein hoher "Tisch" mit rechteckiger Platte.
Archäologisch sind seit dem 4. Jahrhundert im Wesentlichen drei gleichberechtigte Typen von Altären nachgewiesen: Tisch-, Stipes- und Kastenaltäre. Keiner dieser Typen assoziiert einen antiken Esstisch. Trotzdem sprechen die Kirchenväter seit frühester Zeit wahlweise vom "Tisch" oder vom "Altar". Sie assoziieren also den eucharistischen "Tisch" gerade nicht mit einem Esstisch, sondern mit einem Altar. "Tisch" und "Altar" meinen für sie nichts Unterschiedliches, sondern sind Namen für ein und denselben Gegenstand, auch wenn man "Altar" mehr dem Opfer und "Tisch" mehr dem Mahl zurechnen kann. "Tisch" war einfach ein Synonym für den christlichen Altar. Es konnte sich dabei auch um einen Steinblock handeln. Der älteste erhaltene Altar überhaupt aus der Zeit um 300, der jüngst in Megiddo bei Jerusalem entdeckt wurde, bestand aus solchen Blöcken und wird von der dazu gehörigen Inschrift als "Tisch" bezeichnet.
5. Der urchristliche Sakraltisch
Zweifel daran, dass die kirchlichen Schriftsteller mit dem eucharistischen "Tisch" einen gewöhnlichen Esstisch meinten, erheben sich auch, wenn man den Ursprung der Eucharistiefeier selbst betrachtet. Denn die Christen feierten die Eucharistie keineswegs als das ständig wiederholte Letzte Abendmahl, sondern als eine innerhalb eines Abendmahls von Christus eingesetzte Kulthandlung. Zunächst beging man diese Kulthandlung während eines Sättigungsmahls, später trennte man sie davon ab. Daher benutzte man wahrscheinlich für den Brot- und Weinritus eigene Tische.
Die Möglichkeit, dass der eucharistische "Tisch" ein solcher Sakraltisch war, ist von der Forschung kaum ernsthaft erwogen worden. Vom Herbeiholen eines Kulttisches während eines Sättigungsmahles berichtet Philo von Alexandrien bei den Kultmahlzeiten der Therapeuten. Einige von ihnen trugen den „reinen Tisch“ (Lev 24,6) in den Versammlungssaal für die „hochheiligste Speise“, nämlich gesäuertes Brot mit Salz, in Erinnerung an den „heiligen Tisch“ im Pronaos des Tempels. Bemerkenswert ist hier die Praxis, einen Tisch in Anlehnung an den Schaubrottisch hineinzutragen, denn dieser war ein Sakraltisch (vgl. Hebr 9,2).
Dass die ersten Christen bei ihren Gemeinschaftsmählern einen eigenen Kulttisch für die eucharistische Handlung verwendeten, ist sehr plausibel. Sicher ist der christliche Altar weder der Sache noch der Form nach vom Brandopfer- oder Schlachtopferaltar abzuleiten. Darüber herrscht Konsens. Man kann hierfür auch die frühchristliche Ikonographie anführen. Die dort abgebildeten Opferaltäre ähneln in keiner Weise den später etablierten Formen des christlichen Altars.
Das heißt aber nicht, der christliche Altar habe mit dem spätantiken Opferkult nichts zu tun. Dass der "Tisch des Herrn" (1 Kor 10,21) für Paulus ein Opfertisch ist, geht aus dem Zusammenhang hervor. Denn er spricht vom Altar und Opfer der Juden sowie vom Tisch und Opfer der Heiden (1 Kor 10,18-21). Analog dazu gibt es den "Tisch des Herrn", der für die eucharistische Sakralhandlung reserviert ist. Dabei spielt Paulus keineswegs das Opfer der Anderen gegen das Mahl der Christen aus, denn auch die Israeliten und Heiden haben Opfermähler, indem sie von den Opfern essen, die sie darbringen. Opfer und Mahl bilden bei Israeliten, Heiden und Christen eine komplexe Kulthandlung.
Von größter Bedeutung ist dabei, dass beim antiken Opfermahl die Speise nicht an ein und demselben Tisch geopfert und genossen wurde. Man aß die Opferspeise nicht am Altar, sondern vom Altar. Analoges gilt vom Sakraltisch. Deshalb spricht Paulus von der "Teilhabe" am "Tisch der Dämonen" bzw. am "Tisch des Herrn" (1 Kor 10,21; vgl. Hebr 13,10). Während beim Sättigungsmahl in Korinth jeder seine eigene Mahlzeit verzehrte und dabei offenbar vom eigenen Tisch aß (1 Kor 11,21), gab es beim "Herrenmahl" (1 Kor 11,20) nur den einen "Tisch des Herrn", auf dem der eine "Kelch des Herrn" (1 Kor 10,21; 11,27) stand.
Schon der Ausdruck "Tisch des Herrn" lässt auf einen dem Herrn reservierten Sakraltisch schließen. Dieser Sakraltisch war kein Symposiontisch, kein Esstisch im gewöhnlichen Sinne, da man nicht an diesem Tisch aß. Es ist also falsch, wenn Enrico Mazza daraus, dass Paulus vom "Herrenmahl" und von der geistlichen Speise spricht, auf einen profanen Esstisch schließt. Gerade der Sakraltisch könnte erklären, weshalb man das eucharistische Möbel von Anfang an als "Tisch" und "Altar" bezeichnete, denn schon der antike Sakraltisch wurde sowohl "Tisch" wie "Altar" genannt.
Antike Sakraltische leiteten sich nicht von Gemeinschaftsmählern und Speisetischen ab, sondern gehörten zum Opferkult. An solchen Tischen stand man, wie man auch stehend an den Altar herantrat (Hebr 7,13); nur selten saß man am Altar oder am Sakraltisch. Die Sakraltische waren in der Regel vierbeinige Tische mit rechteckiger Platte und leichter und mobiler als Altäre. Sie wurden zum Ablegen der Opfergaben oder der Opfergeräte benutzt und standen neben den Altären, in den Tempeln und vor den Götterbildern. Sie waren genauso sakral, tabu und exklusiv wie Altäre. Ob sie mobil, groß oder klein, hölzern und steinern waren, war sekundär. Altar und Sakraltisch waren in ihrem religiösen Kontext so verwandt, dass man die Begriffe austauschen konnte: Man nannte die Altäre auch Tische und umgekehrt die Tische auch Altäre. In demselben Kult diente bald der "heilige Tisch", bald ein Altar denselben Bedürfnissen.
Alles dies gilt für jene Kultur, in der das frühe Christentum sein eigenes sakrales Möbel entwickelte. Faktisch und funktional war der christliche Sakraltisch von einem Altar nicht zu unterscheiden. Die Christen mussten Schlachtopferaltäre ablehnen, weil sie dafür keine Verwendung hatten, aber sie brauchten Sakraltische, weil sie Brot und Wein als Opfergaben verstanden. Man fügte meist ein Epitheton hinzu - "Tisch des Herrn", "heiliger Tisch" u.a. -, um den christlichen "Tisch" von den paganen Sakraltischen zu unterscheiden.
Bereits der Hebräerbrief (Hebr 13,10) und Ignatius von Antiochia sprechen um 100 vom eucharistischen "Opferaltar" (thysiastérion) im Sinne eines wirklichen Kultmöbels. Dieser Begriff knüpft nicht an den paganen, sondern an den jüdischen Altar an (so schon 1 Kor 10,18), mit dem durchaus auch der sakrale Schaubrottisch gemeint sein kann. Das steht nicht in Gegensatz zur Aussage des römischen Schriftstellers Minucius Felix. Er sagt um 200, die Christen besäßen weder Tempel noch Altäre. Minucius Felix spricht aber nur von heidnischen Tempeln, Götterbildern und Schlachtopferaltären und lässt den jüdischen Kult, der Tempel und Altäre kannte, gelten.
6. Die Form der frühesten Altäre
Es spricht also vieles dafür, dass Sakraltische am Anfang des christlichen Altars standen. Da der antike Sakraltisch ebenso wie der Altar in seiner konkreten Gestalt variieren konnte, stand der Weg offen, Formen zu wählen, die für den christlichen Opferdienst geeignet waren. In diesem Sinne ist der frühchristliche Mensa-, Stipes- und Kastenaltar ist am ehesten als eine genuin christliche Schöpfung zu verstehen. Die Christen wollten sich deutlich vom paganen Altar absetzen, aber nicht dadurch, dass sie nun einen Esstisch wählten. Vielmehr hat sich die Form des christlichen Altars aus dem Sakraltisch und aus praktischen Erwägungen entwickelt. Wichtig war, dass darauf die eucharistischen Gaben, möglicherweise auch andere Opfer- und Votivgaben der Gläubigen Platz fanden. Schließlich mussten an diesem Tisch bzw. Altar der Priester und die Opferdiener, nämlich die Diakone, stehen. Das erforderte eine hohe und große, stabil befestigte Altarplatte.
Der bereits erwähnte älteste erhaltene Altar von Megiddo war wohl ein Stipesaltar aus Stein. Es kann also nicht mehr gelten, was in der Literatur immer wieder zu lesen ist, dass die ältesten nachgewiesenen Altäre die Form eines Tisches auf leichten Beinen hatten. Cyprian und Augustinus sprechen zuweilen von der mensa. Daher behauptet man gern, in Nordafrika habe man normalerweise mobile Holztische verwendet, worin sich der ursprüngliche Esstisch erhalten habe. Inzwischen weiß man aufgrund genauerer archäologischer Beobachtungen, dass auch in Nordafrika die Altäre viel häufiger aus Stein waren, als man bisher glaubte. Mit profanen Speisetischen hatten aber auch Holztische nichts zu tun, da es trotz der Bezeichnung mensa dezidiert um die Opferung von Brot und Wein auf dem Altar ging, wie sowohl Cyprian als auch Augustinus nachdrücklich betonen.
Das Mosaik vom Besuch der drei Männer bei Abraham in San Vitale in Ravenna (6. Jahrhundert) zeigt einen häuslichen Speisetisch, an dem die Männer auf einer Bank sitzen. Aber der in derselben Kirche dargestellte Altartisch, an dem Abel und Melchisedek stehend opfern, ist nun gerade nicht als Speisetisch zu erkennen, da er mit einem Tuch bedeckt ist. Tücher für Esstische begegnen in der Antike nur selten. Tischdecken wurden aber für die mit dem Kaiserbild geschmückten Amtstische der Magistrate verwendet, wie jene in der Notitia Dignitatum (5. Jh.) und im Purpurkodex von Rossano (6. Jh.) zeigen. Das Altartuch signalisierte also eher Sakralität und Autorität als eine Mahlsituation.
Theodor Klauser spekulierte, ob der Tisch des Letzten Abendmahls ein Sigmatisch gewesen sei. Die Urform des Altars sei also ein profaner Sigma- oder Rundtisch gewesen. Dieser Esstisch sei dann, als die Gemeinde größer wurde, aufgebockt worden, so dass der Priester nun stehend an einem solchen Tisch die eucharistische Speise gereicht habe. Von der alten Sitzordnung sei in den frühchristlichen Kirchen noch die halbrunde Priesterbank übrig geblieben. Erst als man den Altartisch von dieser Bank abrückte, sei der Rundaltar durch den eckigen Altar verdrängt worden.
Diese These hat sein Schüler Otto Nußbaum archäologisch zu beweisen versucht. Es ist ihm jedoch nicht gelungen. Ein urchristlicher Sigma-Altartisch lässt sich nicht belegen, und ein solcher ist auch nicht zu erwarten. Interessant ist dabei, dass im 5. Jahrhundert auf Samos tatsächlich ein Hauptaltar mit Sigmaplatte auftaucht. Allerdings handelt es sich auch hier um eine Rekonstruktion. Die Mensa schaute allem Anschein nach mit der Rundseite zur Apsis; der Priester stand an der glatten Seite und blickte folglich nach Osten zur Apsis.
Dieser Einzelfall beweist geradezu, dass der christliche Altar nichts mit einem Esstisch zu tun hat. Denn gerade im 5.-6. Jahrhundert gibt es viele Darstellungen des Letzten Abendmahls, auf denen Christus mit seinen Jüngern an einem Sigmatisch liegt. Es hätte nahe gelegen, in den Kirchen den Altar bewusst sigmaförmig zu gestalten, um an das Letzte Abendmahl zu erinnern oder die Eucharistie als Mahlgemeinschaft zu betonen. Aber niemand kam auf diese Idee, im Gegenteil: Bei Darstellungen der Apostelkommunion, bei denen Christus am Altar stehend den Jüngern die Eucharistie reicht, wird der Sigmatisch fallen gelassen. Vielmehr steht Christus nun an einem rechteckigen Altar. Von einer Abendmahlssymbolik der Sigmaaltäre kann auch deshalb nicht die Rede sein, weil sich solche Platten gleichermaßen in Privathäusern, im zömeterialen usammenhang, in Baptisterien und Pastophorien fanden.
7. Die Sakralität des frühchristlichen Altars
Eine Grundtendenz der modernen Theologie im Sog der Aufklärung ist die Minimalisierung des kultischen Charakters des Christentums. Das Christentum sei ursprünglich eine religiöse Bewegung ohne Kult gewesen. Entsprechend habe der eucharistische Tisch genauso wenig wie der Abendmahltisch einen sakralen Charakter besessen. Erst als man einen bestimmten Tisch dauernd für die Eucharistie benutzte, sei er sakralisiert worden. Indes spricht bereits Paulus vom "Tisch des Herrn" und setzt ihn dem Altar Israels und den Tischen der Götzen gegenüber. Der "Tisch des Herrn" ist also ein Tisch, der dem Herrn gehört, was eine bleibende Sakralität impliziert.
Antike Sakraltische waren wie die Altäre ausschließlich für das Opfer bzw. die Opfergaben einer bestimmten Gottheit reserviert und jedem profanen Gebrauch entzogen (res religiosae). Das dürfte im Christentum nicht anders gewesen sein. Bereits seit dem 3. Jahrhundert lässt sich die besondere Heiligkeit des Altars bzw. Tisches nachweisen, und im 4. Jahrhundert wird er regelmäßig als heilig, schaudererregend, königlich, göttlich oder mystisch bezeichnet. Die quasi-Weihe, also die exklusive Nutzung für das christliche Opfer, erfährt der Altar durch die Eucharistie selbst: Wurde ein Tisch einmal für die Eucharistie genutzt, war er heilig, da er jetzt nur noch für diesen Kult genutzt werden konnte. Im ausgehenden 4. Jahrhundert kam es dann zu einer besonderen Weihezeremonie, was aber nicht heißt, dass die christlichen Altäre erst jetzt als heilig angesehen wurden.
Es ist davon auszugehen, dass überall, wo ein eigener Kirchenraum bestand, auch der Altar fest installiert war, selbst wenn es sich um einen prinzipiell beweglichen Altar handelte. In der Hauskirche von Dura Europos aus dem Jahr 256 befindet sich an der Ostwand ein Podium, auf dem der Altar gestanden haben könnte. In der Hauskirche von Megiddo hat sich der untere Teil des Altars erhalten. Sensationell ist hier die Stifterinschrift, die besagt, dass dieser "Tisch" dem "Gott Christus" geweiht wurde. Der Altar gehörte also exklusiv dem "Gott Christus". Damit war dieser "Tisch" kein Mahltisch für ein Symposion, sondern ein Sakraltisch bzw. Altar.
Seit dem Beginn des 4. Jahrhunderts kam es zur Abschrankung des Altars und damit zur Ausgrenzung eines heiligen Bezirks, den in der Regel nur Kleriker betraten. Im Barock wurden die frühchristlichen Schrankenanlagen, soweit sie ins Kirchenschiff hineinragten, abgebaut, weil man die sogenannte Schola Cantorum nicht mehr brauchte (z.B. Santa Prassede in Rom). Nur in San Clemente in Rom blieb sie stehen. Solche Abschrankungen wurden im 20. Jahrhundert bei der Restauration frühchristlicher Kirchen vereinzelt wieder hergestellt (z.B. Santa Sabina in Rom, S. Apollinare Nuovo in Ravenna). Der Barock ließ die Abschrankungen des eigentlichen Presbyteriums bestehen, wo sie als Kommunionbänke dienten.
Von überragender Bedeutung für die Sakraltität des Altars war seit dem 4. Jahrhundert auch die Verbindung mit einem Märtyrergrab bzw. mit Reliquien im Westen ebenso wie im Osten. Altar und Reliquiengrab finden bereits im Neuen Testament einen wichtigen Anhaltspunkt (Apk 6,9). Durch die Gebeine der Gottesbekenner wurde der Altar selber zum Zeugnis (martýrion) dafür, dass der Herr Gott ist (Jos 22,34). Er wurde zur Quelle besonderer Wunderkraft, die den Gläubigen durch die Märtyrergebeine zufloss. Die Reliquien erinnerten daran, dass auf dem christlichen Altar nicht einfach Sachopfer dargebracht wurden, sondern der lebendige Leib Christi, des ersten Märtyrers, dessen Lebenshingabe die Märtyrer nachahmten.
8. Die Chimäre des frühchristlichen "Volksaltars"
Bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil kannte man fast nur Wandaltäre. Nachdem die Christliche Archäologie immer mehr Altäre aufgedeckt hatte, die frei im Raum standen,nährte dies die Vorstellung, die Frühe Kirche habe bewusst Tische verwendet, um die herum sich die Gemeinde wie zu einem Mahl versammelte. Bereits im Zuge der liturgischen Bewegung, aber auch durch die Wiederherstellung historischer Kirchen im frühchristlichen Stil kam es zur Aufstellung freistehender Altäre. Schließlich erging noch während des Konzils die Instruktion, der Altar möge frei stehen, so dass man an ihm versus populum zelebrieren könne. Der Volksaltar wurde zum Symbol der neuen Liturgie.
Wieder standen die Katakombenbilder Pate. Bei den eucharistischen Liegemählern habe man im Halbkreis um einen Tisch gelegen. Der Vorsitzende habe den Randplatz eingenommen und sich den Anderen zugewandt. Daraus leitete man ein Gegenüber von Priester und Volk ab. Deshalb hat Giulio Belvederi, der erste Sekretär des Päpstlichen Instituts für Christliche Archäolgie, in der Klosterkapelle der Priszillakatakombe die Mahldarstellung der Capella Graeca an die Wand hinter dem Altar malen lassen und am Altar zum Volk hin zelebriert.
Folgenschwerer war der Einfluss Theodor Klausers. Er meinte, der Priester habe in der Frühen Kirche grundsätzlich hinter dem Altar gestanden; erst im Mittelalter habe die Beachtung der Ostung den Priester vor den Altar treten lassen. Sein Schüler Otto Nußbaum versuchte dies archäologisch nachzuweisen. Die meisten frühen Kirchen weisen in der Apsis den Priestersitz und den davor stehenden Altar auf. So nahm Nußbaum von vornherein an, der Bischof sei von der Kathedra an den Altar getreten und habe frontal zelebriert.
Hinzu kam die suggestive Kraft der Bilder, etwa Melchisedek am Altar in Sant'Apollinare in Classe (7. Jahrhundert) oder das Elfenbein im Frankfurter Liebieghaus mit der Darstellung des Sanctus (10. Jahrhundert). Solche Darstellungen, die aus rein künstlerischen Gründen eine Frontalansicht des Priesters am Altar geben, erweckten den Eindruck, als zelebriere der Priester zum Betrachter hin. Das alles verfehlte nicht seine Wirkung, so dass heute die Frontalzelebration als die eigentlich richtige und der norma patrum entsprechende Zelebration gilt.
Dementsprechend wurden dann sogar frühchristliche Kirchenbauten umgestaltet und erwecken heute den Eindruck, als habe es dort Volksaltäre gegeben. Ein besonders krasser Fall ist die Pilgerkirche Tabgha am See Genezareth, die von der Görres-Gesellschaft seit 1932 ausgegraben wurde. Die Kirche ist apsisgeostet. Der originale Altar weist auf der Westseite Stufen auf. Der Priester stand also unzweifelhaft mit dem Rücken zu den Gläubigen. Er schaute dabei auf das Brot-Mosaik, das sich hinter dem Altar befand und das Wunder der Brotvermehrung mit der eucharistischen Handlung des Priesters verbinden sollte. Die Restaurierung der 1980er Jahre folgte aber Nußbaum, der gegen alle Evidenz behauptete, selbst in dieser Kirche habe der Priester hinter dem Altar gestanden. Entsprechend verlegte man das Brot-Mosaik vor den neuen Tisch-Altar, so dass jetzt nur eine Frontalzelebration möglich ist.
Innerhalb der seriösen Christlichen Archäologie und Liturgiewissenschaft teilt heute niemand mehr die Thesen von Klauser und Nußbaum. Der Volksaltar ist eine historische Fiktion ähnlich der Katakombenkirche, der Arkandisziplin oder anderer liebgewordener Vorstellungen. Die Disposition des Altars im Kirchenraum erlebte in der Frühen Kirche eine große Vielfalt, die man nicht über einen Kamm scheren kann. Eine Frontalzelebration war dabei aber der seltenere Fall und wurde gewiss nicht mit dem Mahlcharakter der Eucharistie begründet. Sie ergab sich vielmehr aus der konkreten örtlichen Situation. Der wichtigste Fall war, dass die Kirche mit dem Eingang nach Osten schaute, so dass der Priester hinter dem Altar stehen musste.
Zur richtigen Beurteilung des freistehenden Altars im Frühen Christentum hilft ein Blick in die Religionsgeschichte. Bereits die Antike kannte üblicherweise freistehende Altäre. Im Alten Testament (Ps 26[25],6) sowie im Heidentum gab es das Umschreiten des Altars. Möglicherweise besaßen auch die Synagogen in der Mitte des Raumes stehende (Weihrauchopfer-)Altäre. In allen diesen Fällen kann nicht von einer Mahlversammlung die Rede sein. Auch in der römischen Liturgie maß man dem Umschreiten des Altars keine Mahlbedeutung bei. Denn im Römischen Kanon ist von den circumstantes als Opfernden, nicht als Mahlteilnehmern die Rede: pro quibus tibi offerimus vel qui tibi offerunt hoc sacrificium laudis.
Obwohl antike Altäre frei standen und gewöhnlich keinen Aufbau besaßen, waren sie gerichtet. Dabei spielte das Volk keine Rolle. Vielmehr blickte der Priester beim Opfer auf jenes Götterbild, dem der Altar geweiht war und das auf einer Seite des Altars oder auf der Altarmensa selbst stand. Die Blickrichtung des Priesters zum Götterbild hin belegen auch die Treppenanlagen bei monumentalen Tempelaltären. Wenn kein Götterbild vorhanden war, wählte der Priester die Westseite des Altars, um nach Osten zu blicken. Im Idealfall stand auch das Götterbild auf der Ostseite. Diese von Vitruv aufgestellten Regeln, von denen es natürlich Ausnahmen gab, hatten ihren Sinn darin, dass das Opfer Gott dargebracht wurde. Die Zuschauer waren nicht der Adressat des Opfers und wurden daher auch nicht angeschaut.
Bei den Christen war das nicht anders. Dass im 3. Jahrhundert feste Altäre verbreitet waren und auch mobile Tische nicht ohne Not von ihrem Stellplatz wegbewegt wurden, muss man aufgrund der Schriftquellen annehmen. Diese Altäre waren gerichtet, aber die Richtung wurde weder durch die freie Aufstellung noch durch die anwesenden Gläubigen bestimmt. Cyprian sagt an einer bemerkenswerten Stelle, dass der Klerus seine Sitzbänke verlasse und den Altar des Herrn wegräume, damit an seiner Stelle ein heidnischer Altar und auf der Priesterbank ein Götterbild aufgestellt werde. Cyprian geht also selbstverständlich davon aus, dass der Priester am Altar zur Apsis, nämlich zum Götterbild hin das Opfer darbringt.
Entscheidend für die Bewertung des freistehenden Altars im frühen Christentum ist freilich die Gebetsostung. Diese ist keine Neuerung des Mittelalters. Vielmehr haben die Christen nachweislich seit dem 2. Jahrhundert nach Osten gebetet, und dies hat trotz aller regionalen Unterschiede sowohl im Osten wie im Westen den Kirchenbau beeinflusst. Die meisten Kirchen lagen mit der Apsis nach Osten, mindestens jedoch auf der Ost-West-Achse. Dies galt auch für Rom. Eine solche Ausrichtung von Gebäuden hatte ihren einzigen Sinn darin, die Blickrichtung der Gläubigen beim Gebet festzulegen. Dass die Gebetsostung auch für den Liturgen am Altar galt, ergibt sich schon daraus, dass der Altar der Ort des Gebets schlechthin war. In den meisten Fällen hat der Priester daher, wenn er am Altar stand, zur Apsis hin geschaut. Dass dort die Kathedra stand, hat Niemanden gestört. In Syrien, wo die Kathedra nicht in der Apsis stand, war der Altar vielfach dicht vor die Ostwand gerückt, aber auch im byzantinischen Einflussbereich gibt es solche Fälle.
Der freistehende Altar der Frühen Kirche ist auch deshalb kein Volksaltar im heutigen Sinne, weil alle Gläubigen beim Gebet ihre Hände und ihre Augen zum Himmel erhoben. Sie schauten sich also beim Gebet nicht gegenseitig an, selbst wenn sie sich gegenüber standen. In einer geosteten Kirche haben Priester und Gläubige gebetet, indem sie gemeinsam zur Apsis hin schauten. Ihr Blick fiel dabei oft auf ein Mosaik, in dem das Himmelskreuz oder Christus auf Wolken dargestellt war. Apsidenbilder besaßen eine strikt liturgische Funktion, indem sie den Ort festlegten, wohin man beim Gebet aufblickte. Im 6. Jahrhundert gab es vereinzelt Kreuze auf dem Altar. All dies ersetzte in seiner liturgischen Funktion die alten Götterbilder, indem es die Gebetsrichtung festlegte. Das lässt sich an einem Mosaik in San Vitale in Ravenna illustrieren (6. Jahrhundert), auf dem Abel und Melchisedek zur Hand Gottes im Himmel und zum Kreuz ihre Opfergaben erheben.
9. Erkenntnisse und Erwartungen für heute
- Die liturgischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts ließen sich stark von der Frühen Kirche inspirieren bzw. von dem Bild, das man sich vom frühen Christentum machte. Eine gewisse Wissenschaftsgläubigkeit hatte dazu geführt, manche unausgereifte Theorie, die von Patrologen und Christlichen Archäologen diskutiert wurde, als endgültig anzusehen. Man hätte zuweilen mehr auf die gesunde Tradition als auf den letzten Schrei der Wissenschaft hören sollen. Denn nicht alles, was in den vergangenen 50 Jahren an praktischen Umsetzungen erfolgte, kann der norma patrum wirklich genügen. Die Übertreibungen der Vergangenheit bedeuten aber nicht, dass man nun besser von den Vätern die Finger weglässt, im Gegenteil: Auch die jetzige Zeit muss sich an der norma patrum in-formieren und reformieren lassen. Damit allerdings die norma patrum keine hohle Phrase wird, die nur dazu dient, eigene Vorstellungen durchzusetzen, muss die historische Wissenschaft Selbstkritik üben und Fehlurteile revidieren. Sie muss die Vorläufigkeit ihrer Erkenntnisse markieren und sich vor anachronistischen Manipulationen hüten.
- Zugleich muss der Rückgriff auf die norma patrum relativiert werden. Die Frühe Kirche bietet keine leichten Handlungsanweisungen. Gerade auch die liturgischen Dispositionen der Frühzeit waren in den diversen Regionen recht vielfältig. Sollen nun alle möglichen Kirchenräume als norma patrum gelten? Soll etwa auch die ägyptische und syrische Raumordnung auf den katholischen Kirchenbau angewendet werden? Es besteht das Risiko, dass die Frühe Kirche immer mehr zum bloßen Steinbruch für alle möglichen neuen Ideen wird, die zwar schöne Zitate sind, aber jeder religiösen und kulturellen Plausibilität entbehren. Die schlimmste Entgleisung dieser Art in letzter Zeit ist der rote Sigma-Tisch in einer Grazer Barockkirche (Welsche Kirche). Meines Erachtens sollte die Frühe Kirche in zwei Richtungen mit dem Rest der Kirchengeschichte verbunden werden. Zum einen muss die geradezu ideologische Trennung von Urchristentum und klassischer Patristik aufhören, die sich mit dem Schlagwort der Hellenisierung des Christentums verbindet. Nur so kann die heutige Liturgie in die Kontinuität des authentischen Ursprungs hineingestellt werden. Zum anderen sollte man das Mittelalter und den Barock als eine legitime Fortführung der frühkirchlichen liturgischen Praxis ansehen. Mittelalterliche und barocke Altäre dürfen nicht zugunsten angeblich frühchristlicher Altäre musealisiert oder vernichtet werden. Sonst verfallen wir in denselben fatalen Fehler wie einst die klassischen Archäologen, die das Mittelalter auslöschten, nur um irgendwelche klassischen Mauerreste freizulegen.
- Die unisono vorgetragene Behauptung, der eucharistische Tisch sei ursprünglich ein profaner Esstisch gewesen, legt die Axt an die Wurzel des christlichen Altars. Denn nun müsste man eigentlich neue Altäre als Esstische konzipieren. Der Weg von Enrico Mazza, den urchristlichen Altar der Form nach als Esstisch, der Funktion nach als Altar zu definieren, führt letztlich in dieselbe Richtung einer steten Entsakralisierung. Allein die Tatsache, dass nach der Liturgiereform überall neue Altäre aufgestellt wurden, hat diesen Prozess beschleunigt. Denn sie mussten zu der Überzeugung führen, dass die jahrhundertelang genutzten Altäre überholt, ja sogar falsch waren. An die Stelle des göttlichen Opfers trat nun gleichsam auf Augenhöhe die Mahlgemeinschaft. Dieses wird immer weniger als Kultmahl, immer mehr als Gemeinschafts- und Sündermahl verstanden. Man kann zwar die Legitimität des Volksaltars für die neue Liturgie nicht grundsätzlich abstreiten, zumal seine Einführung auf einem gesamtkirchlichen Rezeptionsprozess von erstaunlicher Einmütigkeit beruhte. Aber der Altar ist nun einmal kein Mahltisch. Daher muss alle Anstrengung dahin gehen, solche Tische überhaupt noch als Orte des eucharistischen Opferdienstes erkennbar zu machen. Zumindest sollte gewährleistet sein, dass der Altar sich deutlich von einem bloßen Tisch unterscheidet. Schon in der Frühen Kirche wurde dies durch die sichtbare Einbringung von Reliquien wirkungsvoll erreicht. Auch heute können Reliquiare dazu beitragen, die spezifisch christliche Form und Sakralität des Altars zu gewährleisten.
- Die Neueinführung des freistehenden Altars nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat rein äußerlich die norma patrum wiederhergestellt. Indem man den freistehenden Altar aber durch die Frontalzelebration zum Volksaltar machte, hat man den an sich sinnvollen Rückbezug auf die Väter entwertet. Denn mit der Frontalzelebration gab man den letzten Rest der frühkirchlichen Gebetsostung auf. Die Gebetsostung war der rituelle Ausdruck des Gottesbezugs oder nach den Worten Augustins der Conversio ad Dominum. Eine solche Conversio wurde aber im Mittelalter bis in jüngste Zeit dadurch beibehalten, dass der Priester am Altar mit dem Volk in dieselbe Richtung betete, gleich in welche Himmelsrichtung der Altar stand. Diese rituelle Sichtbarkeit der eschatologisch-vertikalen Dimension christlichen Betens wurde durch die Frontalzelebration aufgegeben. Reinhard Messner hat eindringlich auf diese Problematik hingewiesen. Wenn man die norma patrum ernst nimmt, wird man die heute allgemeine Frontalzelebration und die Weise, in der sie praktiziert wird, skeptisch betrachten. Gerade auch aus ökumenischer Sicht bleibt es möglich, an freistehenden Altären die Zelebration mit dem Rücken zum Volk entsprechend der orthodoxen Praxis wiederherzustellen. Mindestens sollte ein Kreuz gut sichtbar auf dem Altar stehen, zu dem hin der Priester aufschauen kann. Denn zweifellos erfüllte die allgemeine Einführung des Altarkreuzes im Mittelalter den Zweck, der Conversio ad Dominum ihren visuellen Bezug zu geben.
- Seit dem 6. Jahrhundert gab es eine deutliche Vermehrung der Seitenaltäre, während seit dem Konzil eine Addierung von Hauptaltären zu beobachten ist. Prinzipiell ist die Vervielfachung der Hauptaltäre, wie sie durch die zusätzliche Aufstellung von Volksaltären geschieht, unglücklich. Denkmalschutz und moderne Liturgie liegen hier freilich im Streit und erzwingen Kompromisse. Einen historischen Hochaltar für einen Volksaltar zu opfern, ist kunsthistorisch fragwürdig und liturgisch überflüssig. Die Richtlinien der italienischen Bischofskonferenz von 1996 zur Anpassung bestehender Kirchen an die Liturgiereform (Nr. 17) messen dem Denkmalschutz nur eine untergeordnete Bedeutung zu. Sie lassen es offen, ob ein historischer Hochaltar erhalten bleibt oder zerstört wird. Wenn er erhalten bleibt, soll er sozusagen funktionsuntüchtig gemacht werden, indem man Altartuch und Reliquien wegnimmt. Derartige Richtlinien sind nicht nur an sich unwürdig, sondern auch aufgrund des Motu Proprio Summorum Pontificum (2007) zu revidieren. Denn nun haben zwei Hauptaltäre ihren Sinn. Es liegt nahe, den Hochaltar für den außerordentlichen Ritus und den Volksaltar für den ordentlichen Ritus zu verwenden. Jedenfalls wäre es unsinnig, am Volksaltar mit dem Rücken zum Volk zu zelebrieren, wenn es einen Hochaltar gibt. Besteht nur ein Volksaltar, so sollte er als Simultanaltar eingerichtet werden, der eine Nutzung von beiden Seiten ermöglicht. Grundsätzlich gilt freilich, dass die Rubriken sowohl eine Zelebration des ordentlichen wie des außerordentlichen Ritus am Hochaltar sowie am Volksaltar erlauben.
- Viel stärker als bislang müssen bei der Frage, ob ein historischer Altar abgerissen wird, neben der reinen Denkmalpflege auch religiöse und moralische Aspekte einbezogen werden, etwa ob es sich um einen privilegierten Altar oder um einen Stiftungsaltar handelt. Häufig sind Altäre von Gläubigen für ihr Seelenheil gestiftet worden, zuweilen wurden sie zusammen mit Grabdenkmälern gestiftet. Als solche müssen sie eine großzügige Bestandsgarantie genießen. Stiftungsaltäre entsprechen der norma patrum, denn schon in der Frühen Kirche ist eine solche Praxis reich belegt. Bereits der erste Altar, der überhaupt archäologisch erhalten ist, nämlich jener der Hauskirche von Megiddo aus der Zeit um 300, wurde von einer Frau gestiftet. Die diesbezügliche Inschrift hatte gerade den Zweck, den Altar als sakrosankte Stiftung zu deklarieren.