Bereichsnavigation Themen:

Von Tradition und Traditionen

Der österreichische Theologe Michael Gurtner hat unter dem Titel „Das Geschichtsargument in der theologischen Debatte“ einen Artikel veröffentlicht, in dessen Mittelpunkt die Frage nach der unaufgebbaren göttlichen Tradition der Kirche und den vielerlei menschlichen „Traditionen steht, die im Lauf der Geschichte entstanden und auch wieder vergangen sind.“ Wir haben einen der inhaltlichen Schwerpunkte seiner Überlegungen für die Wiedergabe auf Summorum-Ponbtificum ausgewählt. Den vollständigen Beitrag finden Sie auf kath.net.

Es beginnt ein langes ZitatDie Tradition der Kirche ist als Offenbarung Gottes, die sich in historischen Fakten konkretisiert und unverrückbar sind, während die Traditionen ebenso historische Fakten sind, die aber nicht selbst Offenbarung sind, sondern sich auf Grund des geoffenbarten Glaubens herausgeformt haben, und deshalb nicht denselben Grad an Verbindlichkeit aufweisen. Daran sehen wir bereits ein erstes Mal, daß das historische Faktum als solches nicht ausreichendes Motiv sein kann, weshalb etwas so und nicht anders sein muß (oder nicht sein darf), sondern daß es einer genaueren Differenzierung bedarf.

Das bedeutet aber nicht, daß sie frei und nach Belieben änderbar wären. Denn auch Traditionen können eine innere Notwendigkeit aufweisen, die sich auf Grund ihres Zusammenhanges mit den Glaubenswahrheiten ergibt. Das zu ergründen ist eine der Aufgaben der Theologie. Nicht alles was den frommen Traditionen zuzurechnen ist, ist rein zeitbedingt, und nicht alles was zeitbedingt ist steht auch der Änderung frei zur Verfügung. Wo Änderungen vollzogen werden, auch wenn es sich um Kleinigkeiten handelt, so müssen sie stets durch ein deutlich höheres Gut, welches man durch die Änderung erlangt, gerechtfertigt sein. Es braucht auch in jenen Dingen, welche sich prinzipiell so oder anders entwickeln konnten als sie es taten, eine prinzipielle Kontinuität, die das Ganze der Kirchen- und Glaubensstruktur stützt.

Denn wenn die Kirche nicht auch in ihren äußeren und vielleicht nebensächlichen Bereichen doch im Grunde durch die Jahrhunderte erkennbar bleibt, dann wird man auch daran gehen das Unveränderbare verändern zu wollen, wenn man mit dem Wandelbaren erst einmal fertig ist, außerdem wird ein allzu großzügiges Ändern auch die Glaubwürdigkeit des Unwandelbaren in Leidenschaft ziehen. Es ist zu befürchten, daß die derzeitige Glaubenskrise zwar sicher nicht zur Gänze, aber doch zu einem Teil auf die generelle Änderungswut der Zeit seit dem letzten Konzil zuzuschreiben ist.

Einen weiteren Gedanken, an welchen wir uns wieder mehr gewöhnen müssen ist derjenige, daß sich die Geschichte nicht linear zum Besseren entwickelt und nicht jede faktische Entwicklung automatisch auch schon ein Fortschritt ist. Nicht jede Änderung ist eine Verbesserung, und nicht jede Änderung war eine Verschlechterung oder „Überwucherung des Ursprünglichen“, die es wieder zurückzustutzen gilt.

Beides ist in der Entwicklung der Dinge präsent: so geht mitunter etwas verloren, was man hätte erhalten sollen und was man dann wiederherstellen muß – auch gegen Widerstand, wenn nötig, weil man sich an den neuen Zustand, der nicht unbedingt der bessere oder wahrhaftigere ist, gewöhnt hat. Umgekehrt gibt es aber auch die Entwicklung zum Besseren, weil die Erkenntnis einer Sache gereift ist.

Oft wird eine einzige Epoche sozusagen glorifiziert, der man alles nachzubilden sucht – besonders die Urkirche. All das Große und Gute, was die Kirche danach noch vertieft und bereichert hat, wird als unkrautige Überwucherung der Jahrhunderte angesehen von denen manche meinen, es wegroden zu müssen. Dieser Historizismus ist nicht hinzunehmen, denn das Maß einer solchen Bewertung ist nicht, ob eine Sache dem Wesen des Glaubens bzw. der Wahrheit entsprechend ist oder nicht, sondern das Maß einer solchen Haltung ist die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Epoche. Dies ist aber niemals ein gültiges Unterscheidungsmerkmal, welche Epoche es auch immer sein mag, die man „kanonisieren“ möchte.

Nicht alles Urkirchliche ist gut und ausreichend ausgereift, umgekehrt haben wir viele rechte Gedanken, Praktiken und Sensibilitäten jener Zeit verloren. Manches war übertrieben, anderes noch nicht genügend vorhanden. Das Mittelalter hat nicht alles Ursprüngliche überlagert, es hat im Gegenteil viel Wertvolles beigesteuert und wir haben vieles davon wieder verloren, sowohl was Frömmigkeitsformen, als auch theologisches Bewußtsein anbelangt. Werte die verlorengegangen sind müssen wiederbelebt werden.

(...)

Man muß immer der Sache nach beurteilen, gemäß dem inneren Rechtsein und der Übereinstimmung mit den fundamentalen Wahrheiten der Tradition und der Schrift, ohne dabei in einen naiven Historismus zu verfallen.

Das gilt für sämtliche Epochen, doch besonders aktuell wird es bei der (ewigen) Debatte um Kirchenreformen. Angesichts des massiven Glaubensverfalls müssen wir die Frage zulassen, ob denn wirklich alle Neuerungen, die seit dem letzten Konzil umgesetzt wurden, glücklich waren, oder ob man nicht das eine oder andere restaurieren, d.h. wiederherstellen müßte, weil es gut war und man es verworfen hat. Nicht alles „Vorkonziliare“ war schlecht und überholt, ebenso wie nicht alles Barocke schlecht war, sondern Wertvolles in sich trug, das uns heute fehlt.

Zugleich stellt sich aber auch ernste Frage an die Vergangenheit, ob hinter einer begrüßenswerten regen Glaubenspraxis der vorkonziliaren Zeit nicht auch ein Mangel steckte, der diese praktisch über Nacht implodieren ließ: der Mangel um die rechte Begründung der Glaubenssätze, die oft gekannt wurden, aber selten ausreichend begründet werden konnten. Erst so läßt sich der plötzliche Glaubensverlust erklären.“

Zusätzliche Informationen