Glaube und Wissenschaft
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- 21. Dezember 2014
Liturgiehistorisch gesehen ist alles geklärt: Die Tatsache, daß der 4. Adventssonntag in früher Zeit zu den „ausgefallenen Sonntagen“ (dominica vacat) gezählt wurde und im traditionellen römischen Ritus lange kein eigenes Proprium hatte, sondern auf dem des vorhergehenden Quatembersamstages aufbaute, kommt daher, daß die langdauernde nächtliche Feier eben dieses Quatembersamstages - zumindest in Rom und in der päpstlichen Liturgie - bis weit in den Sonntag hinein dauerte und so eine besondere Sonntagsliturgie entbehrlich erscheinen ließ.
Ob uns diese Erklärung nicht nur wissender, sondern auch klüger macht, steht dahin. Rupert von Deutz, der diese historische Ableitung nicht kannte, greift jedenfalls zu einer anderen Erklärung aus dem Geist der Allegorese. Sie spürt also mehr dem Geist der Liturgie nach als ihrem historischen Buchstaben, und darin hat sie uns heute mindestens eben so viel zu sagen wie die Kenntnis der genetischen Zusammenhänge. Das ihm vorliegende Missale verwandte für das Evangelium Johannes 1, 19-28, das heute im überlieferten Ritus am 3. Adventssonntag genommen wird; es enthält die Aussage des Johannes, daß er „dem, der nach mir kommen wird, nicht wert (sei), die Schuhriemen zu lösen.“ Darauf und auf den ebenfalls in seinem Proprium zitierten Vers aus Psalm 60 „Nach Edom will ich meinen Fuß ausstrecken“ gründet Rupert eine Betrachtung, die eben diese Schuhriemen in den Mittelpunkt stellt:
Edom, das sind die Heidenländer und die ganze ungläubige Welt. Sie zu erretten hat der Erlöser sich auf den Weg gemacht und seine Füße „mit den wunderbaren und unauflöslichen Schuhriemen der heiligen Menschwerdung umwunden“, hat sich „zu unserem Heil wie mit Schuhen bekleidet“. Daran schließt er - ab hier wörtlich - an:
Wem von den Heiligen, die alle seine Beauftragten sind, ist das Geheimnis in der Weise anvertraut worden, daß dieses Offizium als vorgeschriebener Stationsgottesdienst zu Recht in einer ihrer Kirchen gesungen werden könnte? Denn die Offizien, die für eine jede von ihnen mit festlichen Stationsfeiern bestimmt sind, erweisen sich, wenn sie richtig betrachtet werden, als übereinstimmend mit den Tugenden und Verdiensten eines jeden Heiligen. So wird in der Kirche des seligen Petrus, der vornehmlich die Gewalt hat, zu binden und zu lösen (vgl. Mt 16,19), der Stationsgottesdienst gefeiert, wenn uns, wie gesagt worden ist, als Vorausbild der Kirche das „Losbinden“ der „Eselin“ (vgl. Mt 21,2) verkündigt wird“; so wird, wenn wir die Skrutinien (sc. die Prüfungen zur Taufe) abhalten und die Katechumenen vorher bezeichnet werden, der Stationsgottesdienst in der Kirche des seligen Paulus gefeiert, des Lehrers des Glaubens bei den Heiden.“
Jedoch jenes Band der Schuhriemen zu lösen, das heißt das Geheimnis der heiligen Menschwerdung Christi zu enthüllen, erklärt sich selbst Johannes für unwürdig“, wiewohl „unter den von einer Frau Geborenen kein Größerer als er aufgetreten ist“ (Mt 11,11). „Wer nämlich vermag zu erforschen, wie das Wort einen Leib annimmt, wie der höchste, das Leben spendende Geist im Inneren des Schoßes der jungfräulichen Mutter Leben erhält, wie der, der keinen Anfang hat, in das irdische Leben tritt und empfangen wird? Keinem der Heiligen also ist dieses Geheimnis in der Weise anvertraut worden, daß seiner Stationskirche die Feier dieses Offiziums zugewiesen werden durfte.“
Das wird auch nicht dadurch falsch, daß Rupert dann der (nicht falsifizierbaren) Allegorese in dem in seiner Zeit erwachenden Geist neuzeitlicher Wissenschaftlichkeit (und damit Fehleranfälligkeit) hinzufügt:
Deshalb fehlt für den vierten Adventssonntag ein Stationsgottesdienst, nicht weil das Offizium, wie es einigen scheint, weniger zuverlässig überliefert ist, sondern weil dieser Sonntag von der so geordneten Einrichtung der Stationsgottesdienste mit sionnvoller Begründung ausgenommen worden ist.“
Soviel zu den Möglichkeiten und Grenzen der verschiedenen Denkansätze, Liturgie zu verstehen und zu erklären.
Das überlieferte Missale auch noch in der Form von 1962 enthält neben einem im Mittelalter entstandenen eigenständigen Proprium für den vierten Adventssonntag noch ein in vielem höchst altertümliches Proprium für den vorausgehenden Quatembersamstag - allerdings nicht das gleiche, das Rupert von Deutz seinerzeit vorlag. Bei den Proprien gab es weniger der Struktur als der Textauswahl nach gelegentlich Unterschiede nach Gemeinschaften und Regionen. Dieses Proprium enthält - insoweit ähnlich der Karfreitagsliturgie - vier Lesungen aus dem alten Testament, zwischen denen die niederen und die höheren Weihen gespendet werden, und deren Orationen einen Eindruck davon vermitteln, wie die angeblich mit den „Fürbitten“ des Novus Ordo wiederbelebten Bittgebete der frühen Liturgie wirklich ausgesehen haben dürften.