Von iustitia zu caritas?
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- 21. August 2015
Die Sommerferien gehen zu Ende, und auch die Hitzewelle der vergangenen Wochen verliert an Kraft. Umso heißer scheint demgegenüber die Auseinandersetzung um die für den Oktober angesagte „Familiensynode“ in Rom zu werden. Im vergangenen Jahr waren bereits mehrere hochrangige Prälaten mit dem Buch „In der Wahrheit Christi bleiben“ gegen die „Reform“bestrebungen der Synoden-Administration aufgetreten und hatten sich damit den Unwillen höchster Stellen Zugezogen. Jetzt bereiten jetzt elf Kardinäle vorwiegend aus Asien und Afrika eine der überlieferten und unveränderlichen Lehre der Kirche zu Ehe und Familie verpflichtete Publikation vor, die sich gegen das Verwirrspiel von „pastoralen Perspektiven“ und Anpassung an die „Lebenswirklichkeit“ richten soll. Gleichzeitig sammeln Unterstützer der überlieferten Lehre online Unterschriften für eine Petition an den Papst – die erste halbe Million ist schon beisammen. Unterdessen nutzen die Kasperiten in Theologie und Medien eine überaus selbstverständliche Bemerkung des Papstes, daß auch die Geschiedenen mit neuem Partner „nicht exkommuniziert“ seien, um daraus Unterstützung für ihre Forderung abzuleiten, „Wiederverheiratete“ zur Kommunion zuzulassen und überhaupt beliebige Änderungen von Lehre und Sakramentenordnung für zulässig zu erklären.
Bei alledem verstärkt sich der Eindruck, daß bis in die höchsten Ränge der Kirche hinein größte Unklarheit über Wesen und Inhalt der Sakramente – hier insbesondere das der Ehe, das der Eucharistie und das der Buße – besteht, und daß diese Unklarheit ganz wesentlich von der religiöse Praxis herrührt, die mit der Liturgiereform eingeführt wurde. Das greift weit über die Formen der neuen Liturgie hinaus – obwohl sich im oft konstatierten Übergang von der „vertikalen“ (auf die göttliche Transzendenz ausgerichteten) Grundorientierung des Gottesdienstes zu einer „horizontalen“ (auf die mitfeiernde Gemeinde konzentrierte) Ausrichtung bereits eine ganz wesentliches Element von Umorientierung ausmachen lässt. Diese Umorientierung entsteht freilich nicht erst mit der Liturgiereform, sondern sie hat ihre Wurzeln in der weit ins 20. Jahrhundert zurückreichenden Tendenz zur Verweltlichung aller religiösen Denk- und Ausdrucksformen.
Einer Untersuchung zur liturgischen Bewegung des evangelischen Theologen Walter Birnbaum, die in erster Auflage bereits 1926 erschienen ist und dann 1966 überarbeitet wurde, ist dazu eine höchst bemerkenswerte Beobachtung zu entnehmen. Birnbaum konstatiert für alle Richtungen der liturgischen Bewegung eine „Wendung in der Auffassung der Meßliturgie von der iustitia zur caritas“. Es ist demnach also die göttliche Gerechtigkeit, die nach einem Opfer zur Wiedergutmachung für die Sünde verlangt – und wo sich das Gewicht von der Gerechtigkeit zur Barmherzigkeit verschiebt, verliert folglich auch das Opfer seinen Stellenwert. So konnte Birnbaum bereits vor fast 90 Jahren als Grundzug der liturgischen Bewegung feststellen:
Das Leben nach der Liturgie stellt noch heute große Anforderungen, wie in ihrer Entstehungszeit. Es ist aber nicht so, wie man an der gegenwärtigen Frömmigkeit noch immer beobachten muß, als rechne man damit, daß auch der größte Teil der Christen im Zustand der Sünde lebe, aus dem man sich durch die Beichte und angefügte Kommunion nur von Zeit zu Zeit erhebe. Die Liturgie stellt uns wirklich in die communio sanctorum.“
Sollte diese lange vor Konzil und Liturgiereform gemachte Beobachtung Birnbaums zutreffen, hätte das tiefgreifende Auswirkungen auf die Einschätzung der historischen Rolle von liturgischer Bewegung und Liturgiereform. Der eigentliche „Sündenfall“ wäre dann weder eine oft vermutete „Radikalisierung“ von Teilen der liturgischen Bewegung in den 50er Jahren noch eine missglückte Implementierung der Liturgiereform Pauls VI., sondern ein grundstürzender theologischer Paradigmenwechsel unter dem Einfluss zunächst als solche schwer erkennbarer modernistischer Strömungen bereits seit den 20er Jahren.