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Geraubte Tradition

Was der faktische Verlust der lateinischen Sprache für die katholische Kirche bedeutet, ist vielen bewusst: Die Liturgie verliert an Feierlichkeit und Transzendenz, die Lehre am Kontakt zur 2000-jährigen Tradition, die Verwaltung der Kirche an eindeutigen Referenzen für Dokumente von Papst und Kurie. Willkür breitet sich aus, Banalität regiert.

Ein anderer Verlust hat sich bisher fast unbemerkt vollzogen und tritt erst jetzt allmählich ins Bewußtsein: Der Verlust der Septuaginta, des in griechischer Sprache abgefassten Alten Testaments, und damit einhergehend auch deren oft wortgetreu-holpriger lateinischen Übersetzung, der Vulgata. Statt dessen bietet man uns als angebliche „Rückkehr zum Urtext“ den Bezug auf das hebräische Alte Testament, das freilich immer weniger Theologen aus dem originalsprachlichen Text kennen – das Hebräischstudium wird ebenso stiefmütterlich behandelt wie das der griechischen Sprache. Die „Neo Vulgata“ hat viele Bezüge zur Septuaginta verloren und durch solche zur hebräischen Bibel ersetzt. Nur das sei wissenschaftlich haltbar.

Die Vertreter dieser „Hebraisierung“ berufen sich dabei auf ein Vorurteil, das mit der Reformation in die Theologie der Westkirche eingeführt worden ist:  Das hebräische Alte Testament sei der „Urtext“, die Septuaginta und noch mehr die Vulgata wären mehr oder weniger fehlerbehaftete Übersetzungen dieses Urtextes, die nach diesem korrigiert oder noch besser zu dessen Gunsten ganz aufgegeben werden sollten.

Zu Zeiten Valentin Thalhofers (1825-91) entsprach die Rede vom „hebräischen Urtext“ noch der allgemeinen wissenschaftlichen Meinung. Andererseits war man damals auch der aus der Tradition geschöpften Überzeugung, Septuaginta und Vulgata seien trotz ihrer Abweichungen vom Hebräischen wahrhafter Ausdruck der göttlichen Inspiration und daher bei der Deutung schwieriger Stellen in vielen Fällen dem hebräischen Text vorzuziehen. Die modernistische Theologie, die mit dem Begriff der Inspiration wenig anzufangen weiß, beschränkt sich demgegenüber vielfach ganz auf den vermeintlichen Urtext und deutet an, nur dieser, und das vorzugsweise in der rabbinischen Deutung, stelle die authentische Textform dar.

Diese Position, wie sie z.B. von dem überaus hochgerühmten Bibelwissenschaftler Erich Zenger (1939-2010) vertreten und verbreitet wurde, ist längst als unhaltbar erkannt.

Die Septuaginta ist zwar nicht das Übersetzungswunder des Aristeasbriefes (um 130 v. Chr.), der berichtete, man habe 70 Übersetzer getrennt den hebräischen Urtext ins Griechische übertragen lassen – und ihre Ergebnisse hätten Wort für Wort übereingestimmt. Aber sie ist die Form des heiligen Buches der berühmten und hochgelehrten griechischsprachigen Judengemeinde von Alexandria, die dort zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen Jahrhundert entstanden ist und danach für vier Jahrhunderte von vielen griechischen Judengemeinden des östlichen Mittelmeerraumes als authentisch angesehen wurde. Früheste erhaltene Manuskriptfragmente der Septuaginta stammen noch aus vorchristlicher Zeit, älteste weitgehend komplett erhaltene Fassungen sind der Codex Vaticanus (hier online) und der Codex Sinaiticus. Der Vaticanus geht vielleicht auf die Zeit Constantins (um 320) zurück, der Sinaiticus wird auf die Zeit um 350 datiert.

Die heutige Form der hebräischen Bibel geht auf Texte zurück, die teils der gleichen Überlieferungstradition entstammen wie die Septuaginta, teils jedoch auch aus abweichenden Linien kommen. Ähnliche „Linien“ gibt es übrigens auch für das griechische Alte Testament – lange vor Erfindung des Buchdrucks und der Etablierung neuzeitlicher Kommunikationswege sind solche Phänomene eine Selbstverständlichkeit. Die „Redaktion“ der heute vorliegenden hebräischen Bibel begann im 2. nachchristlichen Jahrhundert und wurde zumindest teilweise in bewußter Abgrenzung gegenüber der inzwischen quasi in christlichen Besitz übergegangenen Septuaginta vorgenommen. Die hebräische Sprache bietet dazu besondere Möglichkeiten: Da die Vokale nicht geschrieben werden, gibt es viele mehrdeutige Schreibungen, oft auch mit beträchtlichen inhaltlichen Auswirkungen. Seine endgültige Textgestalt erhielt das hebräische Alte Testament erst in der Zweit zwischen dem 7. und dem 10. Jahrhundert, als die „Punktesetzer“ (Masoreten) die endgültige Lesung schwieriger Stellen festlegten – auch hier wieder in bewußter Abgrenzung inzwischen etablierter christlicher Lesungen. Die ältesten vollständig erhaltenen Hebräischen Texte der Masoretenschule stammen vom Ende des 9. Jahrhunderts und sind somit 500 Jahre jünger als die ältesten vollständigen Septuaginta-Manuskripte. Dabei muß der Vollständigkeit wegen gesagt werden, daß einzelne erhaltene zum teil wesentlich ältere Manuskriptteile (Qumran!) oft weitgehend mit den späteren Texten übereinstimmen – die kritischen Unterschiede betreffen einzelne, aber wichtige Stellen.

Aus allem folgt: Es ist völlig unmöglich, den heute verbindlichen Text des hebräischen alten Testaments als den „Urtext“ anzusprechen. Das masoretische AT ist die in nachchristlicher Zeit und teilweise in anti-christlicher Redaktion entstandene Fassung des AT. Die Septuaginta ist eine vorchristliche Fassung, die zwischen dem zweiten vor- und dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert in vielen griechischsprachigen Gemeinden – und später eben in den Christengemeinden – gebräuchlich war. Wie gebräuchlich das Griechische und die Septuaginta zu dieser Zeit im östlichen Mittelmeerraum waren, sieht man unter anderem daran, daß nicht nur die Bücher des Neuen Testaments in griechischer Sprache verfaßt sind: Wo immer Jesus oder andere Sprecher aus dem Alten Testament zitieren, entsprechen diese Zitate der Version der Septuaginta.

Die Bibel Jesus und seiner Apostel und Jünger war von Anfang an die Septuaginta, und diese Septuaginta ist uns durch eine bis vor die Zeit Jesu zurückreichende Überlieferungsgeschichte zugänglich. Die Kirchenväter, die Kirchenlehrer aller Jahrhunderte und fromme Theologen bis ins 20. Jahrhundert waren sich dessen stets bewußt. Erst der Modernismus hat dieses Wissen zurückgedrängt und versucht seitdfem, unter missbräuchlicher Berufung auf einen angeblichen „Urtext“  das, was das Christentum wesentlich ausmacht zu relativieren und wegzulügen.

Mehr dazu in folgenden Beiträgen.

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