Geraubte Tradition III
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- 21. Oktober 2015
Die Frage, inwieweit die masoretische Fassung des Alten Testaments mit antichristlicher Stoßrichtung erstellt worden ist, gehört zu den schwierigsten unseres Themenbereichs. Sie wird auch von den auf diesem Gebiet tätigen Autoren – soweit bis jetzt zu sehen – nur mit großer Zurückhaltung behandelt. Gilt doch nach einem zwar vielfach beifällig begrüßten, textwissenschaftlich ebenso wie theologisch gänzlich unhaltbaren Satz, in weiten Kreisen der von Erich Zenger formulierte Befehl: Nach Ausschwitz muß die Kirche das alte Testament anders lesen.
Was mit einiger Sicherheit gesagt werden kann ist zunächst, daß die griechische und die masoretische Version des AT in sehr verschiedenen geistigen Umfeldern entstanden sind und dementsprechend teilweise deutlich verschiedene theologische Ausrichtung zeigen. Die Septuaginta entstand in der Hochzeit der messianischen Erwartung des jüdischen Volkes. Nicht nur in der Politik, die von der Hoffnung auf die Wiederaufrichtung des davidischen Königtums geprägt war, sondern auch im Glauben, der die heiligen Bücher in eben dieser Hoffnung las und interpretierte.
Die masoretische Zeit – also die Zeit etwa ab dem 2. Jahrhundert - ist zutiefst geprägt von der Erschütterung nach der Zerstörung des Tempels und dem Untergang seines Kultus und gleichzeitig von der als Verrat und Abspaltung wahrgenommenen Herausbildung des Christentums, das den Messias bereits gekommen sah und mit ihm ein neues Gesetz als Vollendung und Überwindung des alten. Diese doppelte Erschütterung führte auch zu einem Rückzug aus der Offenheit des Hellenismus und zu einer Abwendung von der griechischen Sprache zumindest im Kultus. Der Messias, der Gesalbte des Herrn, heißt im Griechischen Christos – damit wurde für die in der Leugnung des Jesus von Nazareth verharrenden Juden nicht nur die griechische Sprache kompromittiert – das ganze Konzept vom Messias verlor an Gestaltungskraft für die Gegenwart und wurde in Richtung einer endzeitlichen Hoffnung umgebogen.
Es ist also keinesfalls so, wie von mittelalterlichen jüdischen Gedlehrten gelegentlich behauptet und von der westlichen „Aufklärung" begeistert aufgegriffen worden ist, daß die messianische Deutung des alten Testaments eine christliche Verfälschung wäre. Es ist umgekehrt so, daß die ältere Textgestalt, das Alte Testament, das in griechischer Sprache zur Zeit Jesu auch im Land und Volk Israel vorherrschend in Gebrauch war, voller messianischer Hoffnung auf die „Fülle der Zeit" ausgerichtet war, während die hebräische Bibel mit ihrer weitaus geringeren messianischen Ausrichtung einen späteren Stand wiedergibt. Diese so sehr pauschale Tendenzaussage findet übrigens durch die in den letzten Jahrzehnten in Qumran und anderen Wüstenorten gefundenen Papyri weitgehende Bestätigung. Die Auswertung dieser Funde hat nicht, wie seinerzeit vorschnell angekündigt, ein von der mittelalterlichen Kirche angeblich errichtetes Lügengebäude zerstört, sondern wertvolle Begründungen für die Richtigkeit des kirchlichen Umgangs mit der heiligen Schrift geliefert.
Zumindest für Einzelfälle erscheint es belegt, daß in dieser Atmosphäre auch Wörter oder Wendungen, die allzusehr christianisierend erschienen, wegredigiert wurden. Ein Beispiel, das relativ eindeutig zu sein scheint, ist das der Verheißung in Jesaias 7,14: Siehe, die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären, und seinen Namen wird man Emmanuel nennen. Die Septuaginta hat hier in den frühesten Überlieferungen „parthenos" – was eindeutig „Jungfrau" heißt – die masoretische Bibel hat „almah", was man auch mit „junge Frau" übersetzen kann, während „Jungfrau" hebräisch meist mit „betulah" wiedergegeben wird – also einem ganz anderen Wort. Um von dem einen zum andern zu kommen, reicht es im Hebräischen nicht, nur einen Buchstaben oder ein paar Punkte zuzufügen. Hier mußte man entweder eine ganz andere Textradition aufgreifen, oder den vorliegenden Wortlaut bewußt verändern.
In den daraus entstandenen Streit der Sprachwissenschaftler können wir uns hier keinesfalls einmischen. Aber es ist geltend zu machen, daß die Tatsache, daß eine junge Frau schwanger wird, nicht wirklich dazu geeignet erscheint, als göttliches Zeichen zu fungieren – während die Geburt von einer Jungfrau im alten Orient sehr wohl als Ausweis eines besonderen göttlichen Eingreifens angesehen wurde. Die Lesart „Jungfrau", wie sie dann auch im auf griechische abgefassten Neuen Testament für diesen Zusamenhang übernommen worden ist, hat hier also nicht nur den Vorteil der älteren Textgestalt, sondern auch den der Plausibilität – wenn man Plausibilität innerhalb eines spirituellen Bezugsrahmens versteht und nicht modernistisch auf (natur)wissenschaftlich reduziert. Für den angeblich voraussetzungsfrei forschenden Modernisten ist freilich auch in spirituellen Dingen alles, was nicht naturwissenschaftlich plausibel ist, von vornherein unmöglich und auszuschließen.
In neuerer Zeit ist die seriöse Bibelwissenschaft einer gleichzeitig viel subtileren und dennoch viel tiefgreifenderen Akzentverschiebung vom griechischen zum hebräischen alten Testament auf die Spur bekommen: Dabei geht es um den jeweiligen Kanon – das heißt den Umfang der zum alten Testament gezählten Bücher und deren Ordnung. Sowohl für die griechischsprachige als auch für die hebräische Fassung gibt es da bis in die Spätantike erhebliche Unterschiede – tatsächlich weichen noch heute der Umfang der von der Kirche für authentisch bzw. apokryph gehaltenen Schriften des alten Testaments nach Vorgabe der Septuaginta und der Vulgata von der Entsprechenden Einteilung ab, die in prostestantischen Gemeinschaften in enger Anlehnung an die hebräische Bibel vorgenommen wird.
Der Bonner Alttestamentler Heinz-Josef Fabry hat bei der Untersuchung der verschiedenen Formen des Kanons eine bemerkenswerte Entdeckung gemacht: Alle Texttraditionen außerhalb der masoretischen haben die Bücherabfolge Genesis bis Rut und bilden damit den von ihm so bezeichneten „Oktateuch". In dieser Acht-Bücher-Folge. sieht er die zusammenhängende Basisurkunde Israels, die primär geschichtlich orientiert war und auf die Begründung der davidischen Dynastie hinauslief. Die Kompilatoren des masoretischen Textes haben diese Gruppe aufgesprengt. Ihre Anordnung geht von der geschichtlichen Grundorientierung und der davidischen Perspektive ab und stellte ein torah-zentriertes Prinzip an deren Stelle. Der erste Buchkomplex endet hier mit einem Satz aus dem Buch der Richter (21,25) In jenen Tagen gab es noch keinen König in Israel, jeder tat, was ihm gefiel. Also musste eine Gesetzessammlung, eine Torah her – das Gewicht verlagerte sich damit demonstrativ von David auf Moses.
Aus diesem hier stark komprimiert dargestellten Zusammenhang zieht Fabry dann folgenden Schluss:
Das Wegbrechen der David-Perfspektive stand aber konträr zur Hochschätzung Davids besonders in den Spätschriften des Alten Testaments und in Qumran.Es musste also ein sehr schwerwiegender Grund vorgelegen haben. M.E. ging es darum, einen Anspruch des frühen Christentums abzuwehren: Der Oktateuch als die ursprüngliche Basisschrift für die Identität Israels lief über Rut auf die Davids-Dynastie hinaus, die in den Augen des kontemporären Christentums über den Stammbaum Jesu in Mt. 1 auf Jesus Christus zielte. Dem Judentum wiederum musste daran gelegen sein, diese Kontextualität auszuschließen, weshalb die Rabbinen mit dem Buch Rut den entscheidenden Brückenbogen herausbrachen. War aber das Oktateuch-Prinzip erst einmal aufgebrochen, konnte die pharisäisch-rabbinische Konzentration auf das Gesetz den Pentateuchals alleinige identitätsstiftende Schrift etablieren, die vollständig auf Mose als den einmaligen, aber wiederkehrenden Propheten konzentriert war".
Diese und andere ähnliche Feststellungen, die in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem alten Testament immer öfter getroffen werden, haben selbstverständlich nicht das Geringste mit vor oder nach „Auschwitz" zu tun. Es sind wissenschaftliche Erklärungen, Theorien oder Thesenbildungen zu historischen und literaturwissenschaftlichen Erscheinungen, über die auch im Zusammenhang mit dem alten Testament ganz nüchtern diskutiert werden kann. Aber sie deuten ganz klar in eine Richtung: Da, wo es um die Theologie der Kirche geht, kann nicht die Lektüre der jüdischen Bibel die Grundlage Bilden, sondern das alte Testament in der Form, die Jesus selbst, seine Apostel und Jünger sowie deren unmittelbare Schüler, die Kirchenväter, gekannt und genutzt haben. Der Rest ist Philologie oder Theologie des Judentums.