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Geraubte Tradition IV

Die lateinische Kirche und die griechischen Psalmen – das ist ein besonders irritierendes Kapitel. Aus zwei Gründen: Der Psalter ist das Buch des alten Testaments, das in der Westkirche mehr als jedes andere lebendig geblieben ist und die Frömmigkeit und das religiöse Leben gerade auch der Laien beeinflusst hat. Noch heute gibt es viele Ausgaben des neuen Testaments, die quasi als Anhang die Psalmen enthalten. Bis ins 19. Jahrhundert hinein war das die allgemeine Regel. In der katholischen Kirche beruhten die landessprachlichen Übersetzungen der Psalters meistens auf der Vulgata – und der Psalter der Vulgata ist dasjenige Buch der lateinischen Bibel, das die Übereinstimmung mit der Septuaginta am stärksten bewahrt hat und am wenigsten an die hebräische Form angeglichen worden ist. Am deutlichsten sichtbar wird das bei der Zählung der Psalmen, die bei Septuaginta und masoretischem Text nur für die Psalmen 1 – 10 sowie 147 – 150 übereinstimmt. Für den großen Mittelteil ist die jeweilige Nummer bei den Hebräern auf Grund einer anderen Einteilung um 1 höher als bei den Griechen. Seit den 50 Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat auch die katholische Theologie und in deren Schlepptau auch die Liturgie die hebräische Einteilung und Zählung übernommen.

Die unmittelbare Folge ist zunächst, daß Verweise auf die Psalmen in der fast 2000 jährigen Literatur von den Kirchenvätern bis weit in die Neuzeit nicht mehr stimmen, sondern umgerechnet werden müssen. Das freilich wäre leicht zu verschmerzen, wenn mit der hebräischen Zählung nicht auch im Text und vor allem in der Deutung der Psalmen einschneidende Veränderungen vorgenommen worden wären.

Um das zu verstehen und einzuschätzen, ist ein Rückblick auf die besonderen Eigenheiten des Psalters als Sammlung von geistlichen Liedern, also von Dichtung, erforderlich. Die sprachliche Gestalt von Dichtungen unterscheidet sich in allen Sprachen deutlich von der Normalsprache – das ist schließlich der Zweck der Übung. Regeln von Form und Syntax, die für die Normalsprache feststehen, werden nach nicht immer nachvollziehbaren Kriterien verändert oder ganz umgestoßen, an die Stelle relativ eindeutiger Wortbedeutungen treten poetische Sprachbilder, deren Bedeutung sich im zeitlichen Abstand immer schwerer erschließt. Dazu kommen im Lauf der Jahrtausende – die ältesten Psalmen gehen auf König David zurück und sind 3000 Jahre alt und älter – zum Teil gravierende Unterschiede durch Fehler der Kopisten oder Differenzen in Schultraditionen. Das ist bei den Psalmen nicht anders als in der frühen griechischen Ependichtung, bei Gesängen aus dem Zweistromland oder bei Gedichten und Liedern aus Indien oder China. Im besten Fall hat man eine weitgehend ungebrochene Tradition, bestehend aus einer umfangreichen Kommentarliteratur, die über eine Kette von Autoritäten eine mehr oder weniger zuverlässige Brücke zur ursprünglichen Bedeutung schlägt. Wo diese Brücke fehlt – das gilt für den größten Teil der schriftlichen Zeugnisse aus Altägypten oder dem Zweistromland – kann man oft froh sein, überhaupt zu erkennen, daß es sich bei bestimmten schwer deutbaren Texten möglicherweise um Dichtung handelt. Es könnten auch Tabellen von Steuerleistungen sein.

Das große Problem für das Verständnis der Psalmen ist, daß es hier zwei Schultraditionen, zwei Stränge von Kommentaren gibt: den griechischen und stets darauf bezogenen lateinischen, niedergelegt in den Werken der Kirchenväter ab dem 2. Jahrhundert, und den hebräischen aus der Entstehungszeit der masoretischen Bibel. Das klingt wie ein weiterer Fall der bereits beschriebenen Zweisträngigkeit von griechischem und hebräischem alten Testament, aber bei den Dichtungen des Buches der Psalmen (und anderer alttestamentarischer Schriften) treten zusätzliche Besonderheiten auf.

Die griechischen Übersetzer der Psalmen standen zwar voll in der Tradition des Judentums, aber nicht ebenso voll in der Tradition der hebräischen Sprache, auch die Geographie des alten Israel und das Alltagsleben des nomadisierenden Judenvolkes waren den griechischsprachigen Großstadtjuden oft fremd. Bei historischen Texten, Gesetzen oder lehrmäßigen Abhandlungen konnte man das überbrücken – in der Dichtung hatten bereits die Übersetzer der vorchristlichen Jahrhunderte ihre Probleme mit den Liedern aus grauer Vorzeit. Sie missverstanden fremdartige Wendungen oder verkannten Ortsnamen und übersetzten sie nach der Wortbedeutung – da gibt es viele inzwischen erkannte Detailfehler. Wo es um den spirituellen Gehalt der Lieder ging, betonten sie entsprechend der geistigen Grundströmung ihrer Epoche den messianischen Charakter von Texten – dabei ist festzuhalten, daß diese geistige Strömung kein willkürliches Produkt eines Zeitgeistes war, sondern wie Papst Benedikt 2006 in Regensburg vortrug, Ausdruck der Tatsache, daß die Septuaginta eine eigene Stufe im Inspirationsprozess der Offenbarung einnimmt. Genau diesen messianischen Charakter spielten später die Kompilatoren und der masoretischen Bibel wieder herunter, nicht ohne mehr oder weniger polemisch in ihren Kommentaren auf Fehler der Griechen z.B. bei Orts- und Personennamen zu verweisen. Zusätzlich ist anzunehmen, daß auch schon die den Griechen bzw. Masoreten jeweils vorliegenden Ausgangstexte unterschiedlichen Traditionen und Färbungen entstammten. Bei der Übertragung des Psalters der Septuaginta in die lateinische Vulgata – es handelt sich hier vom Ergebnis her gesehen nicht um einen gezielte Übersetzung, sondern um einen mehrere Jahrhunderte dauernden Prozess – wurden die sprachlichen Mängel der Septuaginta eher vergröbert als verbessert. Bedeutende inhaltliche Auswirkungen hatte das allerdings nicht, da man sich bei der Deutung der Psalmen zumeist strikt an die Autorität der Kirchenväter hielt, auch da, wo der Wortlaut der Vulgata das nicht unbedingt plausibel erscheinen ließ.

Von daher ist es also nicht im Geringsten verwunderlich, daß Lesart und Interpretation der Psalmen sich in der christlichen und der jüdischen Tradition des ersten Jahrtausends weit auseinanderentwickelten. Es kann auch nur begrenzt verwundern, daß die Reformatoren in ihrer anti-römischen Stoßrichtung den lateinischen Psalter (und damit die griechische Tradition) verwarfen und sich dem hebräischen als dem vermeintlichen Urtext zuwandten. Das einzige, was verwunderlich ist, ist die Tatsache, daß trotz dieser völlig eindeutigen Sachlage durch die Psalmenübersetzung unter der Verantwortung von Kardinal Augustin Bea die lateinisch/griechische Tradition der Westkirche verworfen und zu großen Teilen die hebräische Fassung zum Maßstab gemacht wurde.

Entsprechend dem Vorbild der von Papst Urban zur Revision der lateinischen Hymnen des Breviers eingesetzten Kommission – nur noch viel radikaler – übertrugen die Übersetzer Kardinal Beas das holprige und stellenweise schwer verständliche Latein des Psalters der Vulgata in klassisches Latein ohne alle dunklen Stellen und Zweideutigkeiten, dabei orientierten sie sich in vielen Fällen nicht mehr an der Interpretation der Septuaginta und der Kirchenlehrer, sondern an der von der protestantischen und jüdischen Bibelwissenschaft behaupteten hebräischen Originalfassung. Der messianische Charakter vieler Verse wurde dabei reduziert oder ganz beseitigt. Die auf der Grundlage der modernistischen Beapsalmen erfolgte Einheitsübersetzung ins Deutsche hat diese Mängel vielfach noch verstärkt.

Damit ist aber bei weitem noch nicht der Endpunkt der Abwärtsentwicklung erreicht. Der Alttestamentler Erich Zenger gilt spätestens seit seiner 1991 erschienenen Streitschrift „Das erste Testament" als DIE Autorität für AT und insbesondere die Psalmen in der katholischen Theologie. Dabei ist in seinen Arbeiten nicht nur die überlieferte katholische Lesart der Bibel bis auf kaum erkennbare Restbestände verschwunden. Schon im Untertitel „Die jüdische Bibel und die Christen" (nicht etwa „wir Christen") deutet sich an, daß er die christliche Perspektive insgesamt aufgibt und unter dem Vorwand, „nach Auschwitz" müsse man das Alte Testament neu lesen, im modernen Judentum geläufige Lesungs- und Deutungsmusters des alten Testaments als die einzig zulässigen vorstellt. Nur als Randbemerkung sei in diesem Zusammenhang erwähnt, daß er aus dieser Position heraus sogar die von hypersensiblen Opportunisten verfügte Purgierung der Liturgia Horarum von als zu grauslich empfundenen Fluch- und Bußpsalmen ablehnt: So, wie die jüdische Bibelwissenschaft diese Texte inzwischen gedeutet (d.h. auf ihre Weise entschärft) hat, will (und muß) er nicht darauf verzichten. Die Ansicht, daß sich im Gottesbild zwischen dem der Juden des alten Testaments und dem von Christi Menschwerdung und Opfertod geprägten Neuen Testament etwas entscheidendes geändet haben könnte, weist er mit Nachdruck zurück.

Für die in der gesamten christlichen Tradition konstitutive Lesart der Psalmen in christologischer Perspekive gibt es beim „katholischen" Psalmenspezialisten Zenger keinen Raum. Traditionell unterscheidet die Kirche hier zwischen direkt messianischen Psalmen, die als Prophetie auf den kommenden Messias zu verstehen sind, indirekt messianischen Texten, die wir nach der Menschwerdung als typologisches Zeugnis der messianischen Hoffnung des jüdischen Volkes erkennen und „anderen Liedern", die den frommen Sinn der Juden in unterschiedlichen Zusammenhängen zum Ausdruck bringen. Dabei ist der Umfang der einzelnen Gruppen durchaus nicht festgeschrieben: Der hl. Augustinus hat in seinen einflussreichen Predigten über die Psalmen praktisch alle in einer höchst direkten Weise auf Christus bezogen, die wir heute vielfach nur noch als Ergebnis eines vom ganz persönlichen Christus-Erlebnis bestimmten „lateralen Denkens" akzeptieren können.

Zenger macht es gerade umgekehrt. In dem von ihm mit Einleitungen und Kurzkommentaren versehenen „Stuttgarter Psalter" kommen Christus und die Erlösung schlichtweg nicht vor. Die Absurdität dieses Verfahrens kann hier abschließend nur mit einem allerdings besonders dramatischen Beispiel illustriert werden. Der 2. Psalm enthält die berühmten Verse 7 – 9:

Der Herr sprach zu mir: Mein Sohn bist Du – heute habe ich Dich gezeugt. Fordere von mir, und ich will dir die Völker zum Erbe geben und die Grenzen der Erde zum Besitz. Du wirst sie mit eisernem Stabe beherrschen und wie Tongeschirr zerschlagen.

Dazu verweist Zenger – literarturhistorisch/philologisch gesehen vermutlich mit guten Gründen - auf Übereinstimmungen mit altägyptischen und assyrischen Königsvorstellungen, und vermutet, diese Verse könnten aus dem Krönungsritual der Könige von Israel stammen. Pikiert fügt er hinzu: „Diese ‚Gewaltbilder', die primär Aussagen über den Auftrag des Königs zum Kampf gegen das den Kosmos bedrohende Chaos sind, sind aus heutiger Sicht höchst problematisch." Die Frage, wie ausgerechnet der Kleinstadtkönig auf dem Sionsberg dazu kam, diesen Kampf als seine Sache zu verstehen, stellt er sich erst gar nicht. Ebensowenig die nach der Bedeutung ähnlicher Aussagen an anderern Stellen des AT (z.B. Sam. 2:7) Auch die Deutung des Neuen Testaments (in der Apostelgeschichte 13:33, sowie Hebr. 1:5 und 5:5), die ganz klar den Bezug auf Christus herstellt und nicht zuletzt hieraus Offenbarung über das Wesen der Dreifaltigkeit gewinnt, ist ihm keine Erwähnung wert. Von daher ist Zenger vielleicht ein Extremfall für eine nur noch nominell katholisch „Theologie", die die gesamte Tradition christlichen Schriftverständnisses zu Gunsten gefälliger Zeitgeistbewirtschaftung aufgegeben hat – ein Einzelfall ist er nicht.

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