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Oratio super Populum

eigene AufnahmeDie überlieferte Liturgie bewahrt in den Werktagsmessen der Fastenzeit ein leicht zu übersehendes bzw. zu überhörendes Element, das bis in die frühesten Zeiten – älteste Belege stammen aus dem 4. Jahrhundert – der römischen Liturgie zurückreicht: Die Oratio super populum, gesprochen nach der Postcommunio. Leicht zu überhören deshalb, weil – in den Büchern von 1962 in reduzierter Zahl – oft mehrere Postcommunio-Gebete aufeinanderfolgen, denen diese Oratio bruchlos wie eine weitere zu folgen scheint. Eine besondere Hervorhebung der Einleitungsformel „Oremus, humiliate capita vestra Deo“ ist in den den Rubriken nicht nur nicht vorgesehen, sondern wird im Ritus Servandus XI n. 2 durch den Hinweis, daß alles „eadem voce“ zu sprechen sei, sogar ausdrücklich untersagt.

In der heutigen Form unterscheidet sich die Oratio super populum von der Einleitung abgesehen kaum von anderen Orationen: Sie bittet Gott in mehr oder weniger allgemeiner Form um seinen Segen für die ganze Gemeinde und die Vergebung ihrer Sünden. Dabei ist sie regelmäßig in der „uns“ oder „wir“-Form abgefasst. In alten Sakramentaren tritt ein deutlicherer Charakter eines Segens „über“ die Gemeinde hervor – da ist nicht von „segne uns“, sondern von „segne sie“ oder „segne deine Diener“ die Rede.

Das deutet darauf hin, daß dieses Segensgebet ursprünglich mit zu den allgemeinen Abschlußriten der Messfeier gehörte, mit denen der Zelebrant die Teilnehmer wieder in die Welt entließ. Tatsächlich ist in den ältesten Sakramentaren – im Leonianum und dem Gelasianum – dieses Gebet auch nicht auf die Fastenzeit beschränkt, sondern wird während des ganzen Kirchenjahres gesprochen, nach dem Gelasianum allerdings nicht an allen Tagen, ohne daß dort eine bestimmte Regel erkennbar wäre. Erst mit dem Gregorianum, das den Zustand der 2. Hälfte des 6. Jahrhunderts wiedergibt, wird das Gebet auf die Fastenzeit beschränkt.

Eine eindeutige Herleitung für diese Einschränkung gibt es nicht. Anton Baumstark führt zur Erklärung das von ihm formulierte Gesetz von der „Erhaltung des Alten in liturgisch hochwertiger Zeit“ an – danach haben ältere liturgische Formen umso höhere Erhaltungschancen, umso wichtiger die Anlässe sind, mit denen verbunden sie vorkommen. Eine stärker auf den Inhalt abzielende Erklärung fasst eine mögliche Verbindung mit der Bußpraxis der alten Kirche ab. Die öffentlichen Büßer waren verpflichtet, während der Fastenzeit einen besonderen Segen ihres Bischofs zu empfangen – was wäre eine bessere Gelegenheit gewesen, als diesen Segen zum Abschluß der Messe zu erteilen. Tatsächlich wird bei den alten liturgischen Autoren – die übrigens alle wirkten, als es diese Bußpraxis schon nicht mehr gab – stets hervorgehoben, daß dieses Gebet gut zum Bußcharakter der Fastenzeit passe. Im übrigen stehen beide Erklärungsansätze nicht im Widerspruch zueinander – sie können gut beide reale Ursachen dafür benennen, daß sich die Oratio super populum anderthalb Jahrtausende lang als eine Besonderheit der Liturgie in der Fastenzeit erhalten hat. Ihr Stellenwert für diese Zeit erschien allgemein einleuchtend.

Bis zu den Revolutionsjahren nach 1968, versteht sich. In der modernistischen Liturgie des Consiliums hat diese alte Besonderheit der Fastentage selbstverständlich keinen Platz mehr. Abgeschafft.

Ergänzung:

Die obige Aussage zur Oratio super populum beruht auf der Editio Typica der Jahre 1970-1974, die hier in einer Ausgabe Rom 1975 vorliegt. Wie uns ein Leser dankenswerterweise mitteilt, ist das in der Editio Typica MR von 2002/2008 geändert - dort gibt es das Gebet für jeden Tag der Fastenzeit, teilweise ad libitum. Wieweit diese Korrektur im deutschen Messbuch nachvollzogen wurde, ist uns nicht bekannt. Die vielfach zur praktischen Orientierung herangezogene Online-Version des Schott kennt jedenfalls für die hier angesehenen Tage keine osp.

Angesichts der verbreiteten Nichtbeachtung der verschiedenen typischen Ausgaben des NO in den Nationalkirchen und den Willkürlichkeiten bei der Übersetzung werden wir hier im Allgemeinen weiterhin von dem ausgehen müssen, was in der ersten typischen Ausgabe aus Rom und im aktuellen Online-Schott enthalten ist. Hinweise auf örtliche Abweichungen sind stets willkommen.

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