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Vom Sündenbock zum Lamm Gottes

Bild: http://www.templeinstitute.org/yom_kippur/scapegoat_dies.htmDas Missale von 1962 enthält nur sehr bedingt die „überlieferten Liturgie“ der römischen Kirche. Oft kann man über modernisierende Abweichungen hinwegsehen – an Tagen wie dem Quatembersamstag im September wird es dann wieder schmerzlich deutlich. Hier haben schon die Reformen vor dem Jahr 1962 bedeutende Verluste verursacht: Die fünfteilige Leseordnung der überlieferten Form ist nur noch in Konvents- und Weihemessen zulässig. Für den Regelfall hat sich der von Papst Pius XII. in den 50er Jahren eingesetzte und bereits damals von Bugnini inspirierte Reformrat eine forma brevior ausgedacht, die den ursprünglichen – eben den „überlieferten“ – Gedanken des Tages kaum noch erkennen läßt.

Das Formular der ursprünglichen Überlieferung, das bis in die ältesten Zeiten dr römischen Liturgie zurückreicht, ist ganz dem Thema Gottesdienst gewidmet und bietet quasi eine Einführung in den Festkalender und die rechte Weise der liturgischen Feier. Als zweiter Strang einbezogen wird der Gedanke des Fastens, das nach dem Glauben der Frühzeit ganz wesentlich zur Vorbereitung auf den würdigen Gottesdienst dazu gehört.

Der Introitus schlägt mit dem „Venite, adoremus“ aus Psalm 94 den Ton an: Kommt, anbeten lasset uns vor Gott und niederfallen vor dem Herrn und vor ihm weinen, der uns schuf, denn er ist der Herr unser Gott!

Die erste Lesung aus dem 3. Buch Mose 23 berichtet dann von der göttlichen Einsetzung des Versöhnungsfestes Jom Kippur für den 10. Tag des 7. Monats, das mit Fasten und Opfern begangen werden sollte – und das von den Juden heute noch ungefähr zur gleichen Zeit wie die Herbstquatember gefeiert wird. Solange der Tempel bestand, war Jom Kippur eines der großen quasi-sakramentalen Feste Israels, an dem unter Riten und Opfern die Vergebung begangener Schuld erfleht und bewirkt wurde.

Die zweite Lesung gibt dann fast unmittelbar in Moses 3, 23 anschließend den Bericht von der Einsetzung des Laubhüttenfestes. Ursprünglich ganz klar ein Fest des Erntedanks, wird es in der mosaischen Überlieferung primär in die heilsgeschichtliche Tradition des Auszugs aus Ägypten gestellt: „Alle, die zum Geschlechte Israels gehören, sollen (sieben Tage lang) in Laubhütten wohnen, damit eure Nachkommen wissen, daß ich die Kinder Israels in Zelten wohnen ließ, als ich sei aus Ägypten führte. Ich bin der Herr euer Gott“.

Die dritte Lesung aus dem Propheten Micha nimmt das Thema des Versöhnungsfestes wieder auf und vertieft dessen Anordnungen inhaltlich: „Herr unser Gott, weide wie in den Tagen der Vorzeit mit Deinem Stabe Dein Volk. (…) Er wird wegnehmen und alle unsere Sünden in den Abgrund des Meeres schleudern.“ Das letzte ist eine direkte Anspielung auf einen der wesentlichen Riten des Versöhnungstages: Den ‚Sündenbock‘, dem der Hohepriester die Sünden des Volkes aufs Haupt legte, und der dann in die Wüste getrieben und von einem steilen Felsen zu Tode gestürzt wurde.

Hier geht es weiterDie vierte Lesung aus dem Propheten Zacharias, 8. Kapitel, greift dann das Thema des Fastens und den Festkalender wieder auf. Nach einer feierlichen Ermahnung zum Einhalten der Gebote heißt es da: „So spricht der Herr der Heerscharen: Das Fasten im vierten, fünften, siebten und zehnten Monat soll dem Hause Juda zu Tagen der Freude und Wonne werden und zu herrlichen Festzeiten – nur liebet Wahrheit und Frieden.“ 

Die fünfte Lesung aus Daniel 3 hat eine ganz eigenartige Form. Sie enthält zunächst den kurzen Bericht über die „Drei Jünglinge im Feuerofen“ während der Verfolgung der Juden unter den Babyloniern und dann deren bekannten Hymnus Benedictus es. In diesem Hymnus fassen die Drei ihre Bereitschaft, das Leben zur Ehre Gottes hinzugeben und das Lob der ganzen Schöpfung für den Herrn zusammen und werden so wunderbarerweise von den Flammen verschont. Opfer und Selbstopfer fließen in einem einzigen Akt zusammen – und der Herr antwortet unmittelbar mit reicher Gnade. Damit bezieht sich dieser Hymnus natürlich nicht nur auf den Gottesdienst, sondern auch auf die an diesem Tag zum Dienst in der Kirche und am Altar zu weihenden Männer: Nicht weniger als die Bereitschaft zur Ganzhingabe wird von ihnen erwartet. Auf weitere Besonderheiten dieses Hymnus wird noch einzugehen sein.

Das Evangelium aus dem 9. Kapitel im Brief an die Hebräer setzt am Gottesdienst des Alten Testamentes an und grenzt sich gleichzeitig davon ab. Die dort gegebene Beschreibung der Einrichtung des alten Tempels ist insoweit bemerkenswert, als sie sich nicht auf den zur Abfassungszeit des Briefes noch bestehenden zweiten (herodianischen) Tempel bezieht, sondern auf den 586 v. Chr. zerstörten Ersten Tempel Salomons: Nur dort standen im Allerheiligsten die Bundeslade und die anderen von Paulus hier aufgezählten Objekte. Das Allerheiligste des 2. Tempels war demgegenüber völlig leer – eine Quelle ständigen Ärgernisses und andauernder Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Richtungen des Judentums auch in der Zeit Christi.

So bildet der vergangene Erste Tempel und sein Kult, nicht der noch bestehende zweite, für den Verfasser des Hebräerbriefes den eigentlichen Bezugspunkt. Und nicht nur für ihn: Solange die Verbindung des Christentums zum Judentum trotz aller Konflikte noch stark war, nährte sich das Christentum mehr aus dem Glauben des ersten Tempels als aus dem des zweiten. Was wiederum zur Ursache dafür wurde, daß die Rabbinen nach der Zerstörung des zweiten Tempels eben diesen zum bevorzugten Bezugspunkt ihrer Gesetzeslehre machten.

Im übrigen dient die ganze Beschreibung des Tempels im Brief an die Hebräer weniger der Unterrichtung der Empfänger – zumindest die aktuelle Form dürfte den meisten bekannt gewesen sein – sondern der Schaffung eines Hintergrundes, vor dem sich das Neue des Christentums abheben konnte. Dieses Neue spricht der Verfasser des Briefes dann auch in aller Klarheit aus. Im alten Tempel mit all seiner Pracht und seinen reichen Zeremonien wird ein unvollkomener Kult gefeiert, „der nur bis zur Zeit der Neuordnung Geltung hat. Christus aber ist gekommen als Hoherpriester der künftigen Güter. Er ist durch das größere und vollkommenere Zelt gegangen, das nicht mit Händen gemacht ist, das ist: das nicht von dieser Welt ist. Er ist auch nicht durch das Blut von Böcken oder Kälbern, sondern durch sein eigenes Blut ein für alle Mal in das Heiligtum eingegangen und hat ewige Erlösung bewirkt.“ 

Die forma brevior des Missales von 1962 läßt von diesen fünf Lesungen nur die erste und die fünfte bestehen. Das macht den Zusammenhang zwar nicht gänzlich unkenntlich, macht ihn jedoch schwer verständlich und nimmt den Lesungen dieses Tages vor allem den grundsätzlichen Charakter. Die überlieferte Messe vom Quatembersamstag im September ist eben nicht nur eine Messe, bei der ungewöhnlicherweise zwei Lesungen statt nur einer vorgetragen werden. Sie ist die Messe eines Tages, die mehr oder weniger zeitgleich mit den großen Feiertagen des alten Judentums gefeiert wird, diesen Zusammenhang auch in den Worten des alten Glaubens ausdrücklich herstellt, um dann in den Worten des Hebräerbriefs Bruch und Übergang von der Versöhnung durch alljährliche Opfer des Hohenpriesters im Tempel zur Erlösung durch das überzeitliche Opfer Christi am Kreuz zu verkünden.

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