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„Hände und Füße haben sie mir durchbohrt“

Bild: Beweinung Christi von Anton van Dyck, 1634, gemeinfreiZur Karwoche in vergangenen Jahren hatten wir hier die Gestalt des Leidenden Gottesknechtes aus dem zweiten Buch Jesaja vorgestellt – jener Prophetie aus dem 6. vorchristlichen Jahrhundert, die den von ganz Israel so sehnlich erwarteten Heiland nicht als siegreichen Priesterkönig, sondern als für die Sünden seines Volkes geopferten „Sündenbock“ zeichnet. Es gibt unserer Kenntnis nach im Alten Testament neben dem freilich einem anderen Zusammenhang zugehörigen Buch Hiob nur eine einzige weitere Stelle, in der die Not des unschuldig Leidendenden so eindringlich dargestellt und so deutlich auf den Opfertod des Erlösers am Kreuz bezogen ist wie dort, und das ist der „schwierige“ Psalm 21. Zwar enthält dieser Psalm nicht wie das Lied vom Gottesknecht die ausdrückliche Aussage, daß das Leid und die Schmerzen der Preis für die Sünden des Volkes sind, aber der Zusammenhang wird dadurch bezeugt, daß der sterbende Jesus am Kreuz selbst sich den Verzweiflungsruf aus dem ersten Vers des Psalms zu eigen gemacht hat: Eli Eli, lamah azabtani? (Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?)

Bevor wir näher auf den eigentlichen Psalm 21 eingehen, hier (nach der Vulgata und der Übersetzung des Schott 1953) der Text, wie er in gekürzter (14 von 32 Versen) Form als Tractus der Messe vom Palmsonntag Eingang in die Liturgie gefunden hat:

2 O Gott, mein Gott, schau doch auf mich; warum denn hast Du mich verlassen?
Ach, meine Sündenlast spricht gegen meine Rettung
3 Mein Gott, ich schrei am Tag, doch Du erhörst mich nicht, und auch des Nachts kann ich nicht schweigen.
4 Und doch: Du wohnst im Heiligtum: Du Lobpreis Israels.
5 Auf dich vertrauten unsere Väter, und Du befreitest sie.
6 Sie schrien zu Dir und fanden Rettung: Auf Dich vertrauten sie und wurden nicht enttäuscht.
7 Doch ich – ein Wurm bin ich, kein Mensch, der Leute Spott, des Volkes Auswurf.
8 Denn alle, die mich sehen, höhnen mich, sie lästern mich und schütteln ihren Kopf.
9 Er hat doch auf den Herrn vertraut: Der mag ihn befreien! Er rette ihn; Er liebt ihn ja.
19 Zur Augenweide bin ich Ihnen; sie teilen meine Kleider unter sich, und werfen über meinen Rock das Los.
22 Entreiß mich Armen doch dem Löwenrachen und dem Horn des Einhorns!
24 Ihr, die den Herrn ihr fürchtet, lobet ihn, ihr Kinder Jakobs alle, preiset ihn.
32 Vom Herrn wird man dem kommenden Geschlecht erzählen, und künden werden sein Erlösungswerk die Himmel.
Dem Volk der Zukunft, das der Herr beruft.

Für den ganzen Psalm verweisen wir auf den Bibel Server – im Link in der Gegenüberstellung der „Neuen evangelistischen Übersetzung und der Einheitsübersetzung von 2016, die in beiden Versionen wesentlich auf dem hebräischen Text der Masoreten beruhen.

Hier geht es weiterZur Ergänzung hier daraus lediglich die im Tractus nicht aufgenommenen Verse 15 – 18, die den prophetischen Charakter des Psalms noch einmal deutlich unterstreichen. In der „evangelistischen“ Version:

15 Ich zerlaufe wie Wasser auf trockener Erde, / ausgerenkt sind meine Glieder, / und mein Herz zerschmilzt wie Wachs, / als ob es in meinen Gedärmen zerfließt.
16 Meine Kraft ist vertrocknet, / dürr wie ein Scherben. / Meine Zunge klebt, / am Gaumen haftet sie fest. In den Staub des Todes hast du mich gelegt,
17 denn mich umlauert die Meute der Hunde. / Übles Gesindel hat mich umringt / und hat mir Hände und Füße durchbohrt.
18 All meine Knochen könnte ich zählen. / Sie stehen dabei und gaffen mich an.

Dabei ist auffällig, daß ausgerechnet Vers 17/18 mit der Erwähnung des Durchbohrens von Händen und Füßen – das im Psalmtext für sich genommen nicht viel Sinn macht, umso mehr aber in der prophetischen Perspektive der Kreuzigung – daß dieser Vers nicht mit aufgenommen wurde. Vermutlich geht genau auf diesen Vers die landläufige Vorstellung von der „Annagelung“ zurück, die als solche im Text der Evangelien gar nicht explizit erwähnt wird. Dort ist lediglich von „kreuzigen“ die Rede – und dazu reichten auch zweifellos billiger zu beschaffende Stricke oder Stofffetzen. Doch nach dem Befund des Turiner Grabtuches liegt es tatsächlich nahe, daß die Kreuzigung Jesu durch „Annagelung“ vollzogen wurde.

Die Vermutung, diese Psalmstelle solle auf diese Art der Kreuzigung vorausweisen, scheint übrigens von den masoretischen Schriftgelehrten geteilt worden zu sein, die sich der Anerkennung des Erlösungsopfers Christi strikt widersetzen. Sie haben deshalb in ihrer Kommentierung den Bezug zum „durchbohren“ vermieden oder direkt verneint und schlagen unter Berufung auf tatsächlich vorhandene Textprobleme der fraglichen Stelle eine gänzlich andere Lesart vor. Der Umstand, daß Hebräisch ursprünglich ohne Wortabstände und im Prinzip ohne Vokale geschrieben wurde und wird – die dann vom Leser mehr oder weniger kompetent ergänzt werden müssen – bietet solchen Ausweichmanövern umfangreiche Möglichkeiten. Eine jüdisch-orthodoxe Lesart ist dann z.B. „Sie umgaben meine Hände und Füße wie ein Löwe“ Diese Variante zitiert die der Judenmission verpflichtete evangelikale Website hadavar.org, die dazu einige interessante Überlegungen zum Verständnis solcher widersprüchlicher Interpretationen anschließt. 

Ein anderer Ansatz, das unerwünschte „durchbohren“ zu vermeiden, besteht darin, den hebräischen Text an dieser Stelle für unrettbar verderbt (also faktisch unlesbar) zu erklären und nach dem Motto „Garbage in – garbage out“ Unverständliches zu bieten. So die vom Jewish Publishing House in Jerusalem gedruckte deutsche Übersetzung der hebräischen Bibel von Naftali Herz, die dem Leser an der entsprechenden Stelle ein „Sie haben mich umstellt wie Leuen / der Übeltäter Bande mich umringt / wie Löwen Hände mir und Füße / - ich wills erzählen – alle meine Knochen“ zumutet.

Rein sprachwissenschaftlich sind solche Probleme oft nicht aufzulösen. Das mit „durchbohren“ übersetzte „ka’ari“ kommt in der ganzen hebräischen Bibel genau einmal, nämlich nur an dieser Stelle, vor – wenn es denn überhaupt vorkommt und nicht durch alternative Abteilung der Worte zum Verschwinden gebracht wird. Auch die (ältere als die masoretische Fassung!) griechische Septuaginta bietet mit einem überaus selten gebrauchten Wort wenig Hilfe, und erst in der Vulgata des Hieronymus kommt mit dem Verb „fodere“ (ein Loch graben oder bohren) ein wenig mehr Klarheit in die Sache. Aber diese Wortwahl beruht natürlich schon auf einer von christlichen Gelehrten vorgenommenen Kommentierung – und solche Kommentare unterscheiden sich nunmal bei Masoreten und frühchristlichen Bibelauslegern beträchtlich. Wir lesen die Bibel als (in der masoretischen Tradition stehende) Juden oder als (in der apostolischen Tradition stehende) Christen. Eine der reinen Wissenschaft verpflichtete überparteiliche und endgültige Bibelübersetzung, die die darin begründeten Widersprüche aufhebt,  gibt es nicht - und wer es dennoch behauptet, macht sich und seinen Lesern etwas vor.

All das kann den Wert von Texten wie des Psalm 21 nicht mindern – es macht es nur schwerer, diesen Wert zu erschließen. Es gehört nun einmal – leider – zum Wesen von Prophetien, daß sie nur undeutliche und oft mehrdeutige Bilder von zukünftigen Ereignissen vermitteln – darin sind den mit modernsten High-Tech-Verfahren erstellte Wetterberichten oder Wahlprognosen gar nicht so unähnlich. Die Umsetzung in dichterische Sprache – und eine andere Sprache stand in der Frühzeit kaum zur Verfügung – hat solche Undeutlichkeiten zweifellos noch vermehrt. Dennoch haben das gläubige Volk Israels und seine Gelehrten es für der Mühe wert gehalten, solche aus frommer Schau und geistiger Eingebung gewonnenen Bilder in ihren heiligen Liedern und Schriften aufzubewahren und weiterzugeben – auch da, wo der ursprüngliche Sinn für sie kaum oder gar nicht mehr zu erkennen war.

Bezeichnend dafür ist der aus den Passionsberichten der Evangelisten überlieferte Umstand, daß die jüdischen Gaffer, die den letzten Schrei des sterbenden Erlösers hörten, die Anrufung Gottes mit dem (in der Umgangssprache nicht mehr gebräuchlichen, aber im Psalmtext erhaltenen) althebräischen Wort „Eli“ gar nicht erkannten und vermuteten, der Gekreuzigte rufe Elias um Hilfe an. Insofern können wir dankbar sein, daß wir in der vor jedem Einfluß der Masoreten niedergeschriebenen jüdischen Septuaginta und deren frühen Übertragungen durch lateinische Christen eine Textgrundlage haben, die helfen kann, zumindest einige „schwierige Stellen“ der biblischen Überlieferung besser zu verstehen.

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