Jesus - Gottes und Menschensohn
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- 10. Januar 2016
Im überlieferten Ritus ist heute der Sonntag in der Oktav von Erscheinung des Herrrn mit dem Fest der hl. Familie. Das Evangelium ist der Bericht des Lukas-Evangeliums über den Aufenthalt des jugendlichen Jesus im Tempel, zu dem letzthin Merkwürdiges aus Rom zu vernehmen war - Fr. Hunwicke hat dazu aus der Sicht des Theologen einiges Nötige gesagt. Auf andere Weise fast noch eindrucksvoller ist das, was Franz Michel Willam bereits vor fast 100 Jahren in seinem Buch über das Leben Mariens ausgeführt hat. Seine Perspektive ist die des tief im Glauben verwurzelten Schriftstellers, der all das, was er in der heiligen Schrift gelesen, im heiligen Land gesehen, im Studium gelernt und als Kenner der menschlichen Seele erworben hat, in einer Synthese zusammenführt.
Zunächst setzt Willam den Rahmen für seine Darstellung und Interpretation des Ereignisses:
Die Gemälde, die Jesus auf dem Wege nach Jerusalem darstellen, verführen dazu, bei dem zwölfjährigen Pilgerknaben an ein Kind zu denken. Mit zwölf Jahren ist aber ein junger Mensch im Orient geistig schon so entwickelt wie bei uns ein sechzehn- bis zwanzigjähriger. Bei Jesus handelt es sich aber nicht bloß um einen gewähnlichen Knaben, sondern, wenn man so sagen darf, um ein religiöses Genie. So war Jesus in der Erfassung alles Lebens - echte Religion hat immer zuerst mit dem Leben zu tun - seinen Altersgenossen als Mensch weit voraus, vom eingegossenen und vom göttlichen Wissen ganz abgesehen. (...) Alles, was bei der Pilgerfahr vorging, beobachtete Jesus schärfer, zugleich war es ihm ferner als den anderen. Er horchte gleichsam in sich hineinund war von einem einzigen Gedanken erfüllt: Der Tempel! Das war der Ort, wo Gott Vater weilte, und wo man zu ihm in viel wirksamerer Weise beten konnte als etwa daheim oder in der Synagoge, der Ort, wo allein man ihm Opfer darbringen durfte...
Im Bereich seiner menschlichen Erfahrung hatte Jesus während der Pilgerfahrt noch keine klare Vorstellung, was diese seine erste Begegnung mit dem Vater für Folgen haben würde. Es ist keine Rede davon, daß er etwa jetzt schon im Sinn hatte, sich den Eltern zu entziehen und in Jerusalem zu bleiben. Er fühlte nur jeden Augenblick, daß er jetzt auch als Mensch von der Liebe zu Gott in einer Weise erfaßt wurde, wie das bisher nicht geschehen war. (...)
Was muß Jesus im Anblick des großen Opferaltares doch alles gefühlt haben, wo schon einfache Menschen so vieles im Schauen erfaßten! Jesus stand da, die weiße Marmorwand des Temepels leuchtete und das Gold funkelte. Er sah unbewegt auf den dunklen Eingang mit dem Vorhang: Dort im Allerheiligsten wohnte Gott! In seiner Seele gab es nur mehr einen Ruf: Hin zu Ihm. Es war ihm, als wäre sein ganzes bisheriges LebenLeben einzig nur eine Vorbereitung auf diesen Augenblick gewesen. Und jetzt wandelte und verwandelte sich alles in ihm in einem ungeheuren Wachsen. Mit jeder Stunde, die er in diesen Tagen im Temepel zubrachte, wurde er anders. (...)
Den Moment des Wieder-Zusammentreffens der getrennten Familie beschreibt Willam so:
Das erste, was Maria dachte, muß gewesen sein: Jesus hat uns nicht verloren - er hat uns verlassen! Dem entsprachen auch ihre Worte: „Kind, warum hast Du uns das getan! Dein Vater und ich haben Dich mit Schmerzen gesucht!". Jesus antwortete: „Warum habt ihr mich gesucht. Habt ihr nicht gewußt, daß ich in dem sein Muß, was meines Vaters ist?" Von diesen Worten Jesu bemerkt der Evangelist, daß sie Maria damals nioch nicht verstanden habe. Es hat schon Leute gegeben, die sich an diesem Hinweis stießen. Aufrichtig gesagt, wir verstehen sie auch heute noch nicht so vollkommen, daß sie uns eindeutigen Sinnes sind. ...
Mag man die einzelnen Worte wie auch immer deuten, im Hintergrund jeder Erklärung steht die Tatsache, daß Jesus vor Joseph, dem gesetzlichen Vater, sich auf einen anderen Vater, auf „seinen Vater" beruft, und dies im Tempel und nach einem Zurückbleiben im Tempel. Jeder gewöhnliche wohlerzogene Knabe Israels hätte nach einer solchen Frage seine Eltern um Verzeihung gebeten. Jesus tat es nicht. Seine Worte wirkten aber wohl nicht so hart, als sie uns klingen. Gerade bei solchen Sätzen entscheidet der Klang und mehr der Blick der Augen und dies erst recht zwischen Mutter und Kind. Der Evangelist nennt die Antworet Jesu einen „Ausspruch" also nicht ein gewöhnliches Wort, sondern eine Rede, die mit den Sprüchen der Propheten zu vergleichen ist. ...
Zum ersten Mal tat sich hier das Göttliche in Jesus auf eine Weise kund, daß es sich auch zwischen Maria und ihrem Sohne als etwas Unnahbares auswirkte. Im Evangelium heißt es denn auch, daß Maria und Joseph die Antwort Jesu nicht verstanden hätten. Dieser Satz des Evangeliums ist von ganz entscheidender Bedeutung. Durch diese Bemerkung ist nämlich im eigentlichen Sinne des Wortes festgestellt, daß Maria bis zu diesem Zeitpunkte keinerlei Sonderoffenbarung über ihr Verhältnis und Verhalten zu Jesus bekommen hatte und daher auch nicht im Stande war, bei neuen unvorhergesehenen Lagen aus sich heraus sofort die richtige Haltung zu finden. ... Trost und Überraschung zugleich war es dann für Maria und Joseph, als Jesus hierauf sich ihnen wieder anschloss und nach Nazareth zurückkehrte. Wäre es jetzt nicht naheliegender gewesen, sich einem Gesetzeslehrer in Jerusalem anzuschließen und in der Nähe des Tempels zu bleiben? Doch „Er zog mit ihnen hinab nach Nazareth".
Selbst wenn nicht alles an dieser Interpretation Willams haltbar sein sollte, gibt sein hier nur auf wenige Kernaussagen reduzierter Gedankenbogen wertvolle Anstöße für eigenes Weiterdenken. Und er bietet auch ganz nebenbei einen Schlüssel dafür, warum das Gedächtnis dieses Ereignisses in der überlieferten Liturgie der Oktav von Epiphanie zugerechnet wird und nicht der von Weihnachten: Zum ersten Mal offenbart sich Jesus der irdischen Familie gegenüber als der Menschensohn.