Motu Proprio: Summorum Pontificum

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Zusatzinfo

Zur Bedeutung des Motu Proprio „Summorum Pontificum“

Nostalgie oder Avantgarde?
Warum die „Alte Messe“ keine alte Messe ist

Von Guido Rodheudt

21.12. 2008

In letzter Zeit hat sich in der Szene traditionsverbundener Menschen ein Begriff eingebürgert, der den Unbedarften fatal an die Fans von Captain Kirk und seiner Mannschaft erinnert. Denn ähnlich, wie sich die Liebhaber des Raumschiff Enterprise als „Trekkis“ bezeichnen, so geben sich die Anhänger der sogenannten „Alten Messe“ gerne selbst den Namen „Tradis“ und werden dadurch – gewollt oder ungewollt - zum Fanclub. Sie ordnen den Traditionsverbundenen in einen bestimmten Karton ein. Es ist der Karton, in dem sich seit einiger Zeit Dinge wie Schallplattenspieler, Kittelschürzen, Max-Rabe-CDs, Telefonapparate mit Wählscheibe und Handkaffeemühlen befinden. Auf ihm steht geschrieben „Gute Alte Zeit“ oder „Nostalgie“.

Aber was ist Nostalgie, die einen Menschen dazu führt, Dinge zu kaufen, die der allgemeine Fortschritt längst entsorgt hat, weil sie von andern – zeitgemäßeren und funktionableren – abgelöst wurden? Wieso sehnen sich Menschen nach Unpraktischem, während sie doch von Praktischem umgeben sind. Wo liegt der Reiz der Dampflok oder des Kaminofens gegenüber dem ICE oder der Zentralheizung?

Denn es gibt ja kein Zurück. Die Zeit ist über die Dinge und die Lebensart hinweggeschritten. Und das Bedürfnis nach dem „Guten Alten“, das ja zum Zeitpunkt seiner Ablösung keineswegs das „gute“ Alte war, sondern das Überholte und Ausgediente, entsteht immer mit einem gewissen zeitlichen Abstand zu der Zeit, in der die Dinge waren. In dem Zeittunnel, der sie mit ihrer Wiederkehr in der Gegenwart verbindet, verpuppen sie sich in einen Kokon der Verklärung. Die Songs von Max Rabe erinnern nicht an die schlechte Zeit der Weltwirtschaftskrise zwischen den Weltkriegen, in denen sie entstanden sind, oder gar an die Bombennächte der 40er-Jahre, sondern lassen die glamourösen Ballnächte im Hotel Adlon in Berlin oder an die Mode der Goldenen Zwanziger vor dem geistigen Auge erscheinen, in denen Männer Herren und Frauen Damen waren. Und mit der Kittelschürze assoziiert man nicht in erster Linie ein diskriminierendes Hausfrauenimage, sondern die Zeit, in der es noch keine Patchwork-Familien gab. Etwas, das heute selten geworden ist und nach dem man sich sehnt.

Daher gründet die Nostalgie in der Erfahrung, daß der Fortschritt auch Verluste riskiert und etwas einmottet, das wichtig war. Leider ist es verschollen. Man kann es nicht mehr in seinem ursprünglichen Zusammenhang erleben. Es bleibt ein Zitat aus einer vergangenen Zeit. Man kann von ihr träumen. Man kann sich in seiner Phantasie in das Haus der Großmutter oder in den Ballsaal des Wintergarten-Varieté wünschen. Aber man würde aus dem Haus der Großmutter flugs wieder ausziehen, wenn man es real bewohnen sollte, weil es darin keine Dusche und keinen Internetanschluss gibt. Die Rückholversuche des Nostalgikers schmelzen wie Schnee in der Sonne, wenn die Gegenwartswirklichkeit sie einholt und klarstellt, daß es keinesfalls wünschenswert ist, in der verträumt verklärten Zeit wirklich zu leben.

Der Nostalgiker ist das reine Gegenteil von einem Traditionalisten, weil er den Formen der Vergangenheit in seiner nichternsthaften Sehnsucht die Überlebensfähigkeit in der Gegenwart raubt. Sich selbst macht er darüber hinaus zu einem passiv zuschauenden Zaungast der Geschichte, dem die Nostalgie hilft, zu erfahren, wo er herkommt, aber niemals verrät, wo es mit ihm hingeht. In ihrer Wirkungslosigkeit ist die Nostalgie politisch korrekt. Sie belästigt die Allgemeinheit nicht mit objektivierenden Forderungen.

Ganz im Gegenteil der Traditionalismus. Er will den Formen der Vergangenheit eine Gegenwartsbedeutung zurückschenken. Deswegen wirkt er gefährlich und manchmal auch aggressiv. Man traut ihm nicht, weil er der Gegenwart misstraut, daß in ihr in jedem Fall alles gut und bewahrenswert ist. Gerade deswegen ist der Traditionalismus nicht konservativ, sondern reaktionär. Ja mehr noch: er ist Avantgarde. Er löst den Anspruch nach vorne zu gehen durch die Schau auf das Überkommene und Bewahrenswerte ein., was im Zeitalter einer zukunftsbeflissenen Herkunftsverkennung nicht unwidersprochen hingenommen werden kann.

Was Hugo Ball und die Dadaisten der 1920er Jahre waren, das ist heute der Verfechter der Alten Liturgie in der katholischen Kirche, der sie nicht nostalgisch verehrt, sondern sie in aufsässiger Unmodernität restaurieren will. Für die einen skurril, für die anderen etwas Entartetes – eben das, was die Avantgarde für das Bürgertum ist.

Etwas Kühnes und Wagemutiges

Nach ihrer Herkunft aus dem militärischen Vokabular (frz. „Vorhut“) ist Avantgarde etwas Kühnes und Wagemutiges. Die Avantgarde hat eine Vision, sie ist nicht bürgerlich und sitzt nicht im Sessel. Sie hängt sich aus dem Fenster und verfolgt ein Ideal. Es muß nicht unbedingt das Ideal des Fortschritts sein. Aber es ist auch nicht zu leugnen, daß die Avantgarde, da wo sie im politischen oder künstlerischen Gewand auftritt, fortschrittlich sein will. Sie will eine Vorreiterrolle haben und mag keine Stagnation in bestehenden Verhältnissen, sofern diese Verhältnisse dazu angetan sind, dem Ideal nicht nahe treten zu können.

Die Avantgarde hat zwei blutsverwandten Erzfeinde: die Mode und den Trend. Denn Mode, sagt Chesterton, ist ein „Ideal, das nicht zufrieden stellt. Die letzte Mode ist stets eine Revolte gegen die vorletzte; wahrscheinlich die Wiederherstellung der vorvorletzten. Das Neue revoltiert gegen das weniger Neue, aber kaum jemals gegen das wirklich Alte. „Die Tochter entsetzt die Mutter, indem sie sich wie ihre Großmutter kleidet.“

Die Avantgarde möchte das Ideale. Sie will es nicht hervorbringen aber in seine Nähe kommen. Daher verachtet sie alles, was dabei aufhält: die bürgerliche Bequemlichkeit, den trägen Trott fertiger Antworten, den Mainstream, der alles in sinnloser Flut fortreißt, den Pluralismus, der sich in der goldenen Regel sonnt, daß es keine goldene Regel gibt (George Bernard Shaw) und daher jeden Führungsanspruch ablehnt.

Aber gerade das will sie ja, die Avantgarde. In der Kunst, in der Literatur, in der Politik frech und kühn behaupten, es gäbe etwas, das weder aus den alten Sesseln noch aus den neuen Märkten stammt, das weder alt noch neu, sondern gültig ist. Deswegen ist sie auch sperrig und passt in die meisten Schädel nicht hinein.

Keine spirituelle Wohlfühlstunde

Es mag die Machtübernahme der Krämerseelen in der Kirche sein, die schuld daran ist, daß sie den einzigen Ort, an dem der Mensch in Reinheit seine Ideale findet und sich sogar mit ihnen unterhalten kann - ihren Kultraum - ausgemistet hat wie den Stall des Augias. Und dabei in den Worten, Klängen und Formen - den Schatzkammern des Kultes - die Heiligkeit und Unberührbarkeit des Anwesenden unter dem Mantel der Reform herausgekehrt hat wie Herakles den Mist der dreitausend Rinder, den König Augias dreißig Jahre lang aus seinem Stall nicht mehr hatte entfernen lassen. Die Kirche hat zugelassen, daß das Praktische wichtiger werden konnte als das Heilige, und aus der „Heiligen“ Messe eine „Alte“ Messe wurde.

Um die Tragödie der pubertierenden Phase der Kirchengeschichte im 20. Jahrhundert recht erfassen zu können, ist es nötig, sich an die Wurzel des christlichen Kultmysteriums zu begeben, dahin, wo es noch unstrittig war, daß es einen Gott gibt, dem man Anbetung zu zollen hat. Als das Opfer noch der gängige Ausdruck für die Huldigung des Geschöpfes war.

Denn es gehört zur Entwicklung der Kirche, daß sie sich stets als eine opfernde Gemeinschaft verstand, die sich – schon in den Tagen der Apostel – um den im Mysterium gegenwärtigen Herrn versammelte. Nicht um sich selbst darin zu finden. Allenfalls um darin „Leib Christi“ zu werden, wie es der Hl. Augustinus fordert. Eine Kommunion der besonderen Art, ein Akt der Hingabe, in dem der Sich-Hingebende selbst gründet.

Der christliche Kult ist schon an seinen Anfängen niemals nur eine äußere Sache. Er zielt nicht auf einen Zweck und möchte auch nicht verzweckt werden. Er ist ein Geschehen, das ganz und gar für sich steht – und das heißt: für Gott. Er ist der Handelnde, der Sich-schenkende, der den Teilnehmer nicht bloß auf die Zuschauerbühne oder auf die Ränge des Hörsaals ruft, damit Er ihm etwas mitteilt. Er möchte sich selbst geben. Aber nicht gratis und ohne Gegenleistung. Er verlangt alles, von denen, die Ihn suchen. Er verlangt die ganze Hingabe von denen, die in Seine Nähe kommen. Sie sollen sich in Ehrfurcht, Lobpreis, Dank und Bitte - und insbesondere abgewaschen von ihren Sünden - dem Heiligen nahen. Und zwar weil es heilig ist und das heißt: von Gott stammend.

Es entwickelt sich ein arcanum, der – wenn auch strikt öffentliche -, so doch nicht für jedermann - mir nichts, Dir nichts - zugängliche Kult. Der Leib und das Blut Christi, die der Welt das Heil schenken, sollten keine Einmaligkeit für die dramatische Stunde von Golgatha bleiben. Das Blut sollte auf mystische, aber deswegen nicht weniger reale Weise durch die Zeit fließen.

Dieses Opfer, dargebracht von der Kirche durch die Hand ihrer Diener, ist das Zentrum des ganzen christlichen Lebens. Der Kreuzestod Christi und Seine glorreiche Auferstehung, werden ein für den Einzelnen nachvollziehbares Geschehen. Jeder darf sich unter das Kreuz und vor den Eingang des Grabes stellen. Die Liturgie des Christentums gewinnt einen neuen Charakter. Sie überbietet alles bis dahin Dagewesene: den Tempelkult zu Jerusalem und auch die heidnischen Kulte und Mysterien. Sie holt den allmächtigen, zeitlosen, ewigen Gott in den Raum und die Zeit. Und schenkt dem Menschen, der sich mit in diesem Raum befindet, Anteil an Seinem göttlichen Leben.

Mehr als bloß Begegnung ist dieses Zusammentreffen. Es ist Communio, Vereinigung mit Gott, die dort geschieht. Man trifft sich nicht, um des Religionsstifters zu gedenken, sich an ihn und seine Taten zu erinnern, in seinen Worten zu schwelgen oder sich gegenseitig zu bestätigen, daß man mit ihm auf dem richtigen Weg ist. Es ist die verborgenen Anwesenheit Seiner selbst, die den Menschen formt, begnadet und ihm Kraft schenkt, in der Welt der Schatten zu leben.

Nicht umsonst bezeichnet man die Eucharistie auch später als „Messopfer“, weil darin anklingt, daß die Messe mehr ist als Unterricht oder eine spirituelle Wohlfühlstunde. Sie ist das Erlösungsgeschehen von Golgatha auf dem Altar. Von ihm trennt die Teilnehmenden nur ein winziger Schritt. Lediglich die Augen können nicht sehen, was hier auf dem Altar geschieht. Aber es geschieht dennoch real, nicht bloß symbolisch. Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, schenkt sich hin und damit alles, was möglich ist zu schenken.

Die körperliche Ausrichtung der Zelebration ist dabei – naturnotwendig – der Osten und das Kreuz. Niemals die Gemeinde. Denn es gilt sich gemeinsam dem Heiligen zuzuwenden. Es geht um die Kommunikation des Menschen mit Gott und die ist von ihrem Wesen her nicht gleichberechtigter Dialog, sondern geschuldete Anbetung, religio. Nur hier ist in der Alten Welt Dramaturgie erlaubt!

Eine weitere Dimension ist von Anfang an wesentlich und unverzichtbar: die Musik. Sie verschönert nicht den Gottesdienst, sie verklanglicht ihn. Noch heute ist eine byzantinische Liturgie ohne Gesang undenkbar. Es gibt in den orientalischen Riten keine „Stille Messe“, weil zur Liturgie das gesungene Wort gehört. Die menschliche Stimme soll in ihrer Singfähigkeit genutzt werden, um die Schönheit und Einheit Gottes abzubilden.

Die musica sacra ist nichts Hübsches. Sie ist schön und sie trägt – aus sich – dazu bei, daß die Anwesenheit des Verborgenen eine körperliche Dimension gewinnt. Sie führt nicht nur den Menschen pädagogisch in die Nähe Gottes. Sie lässt eine Saite der anwesenden Gottheit in Raum und Zeit klingen. Erstes Zeichen des liturgischen Verfalls ist daher durch die Jahrhunderte, daß die Musik zum Dekorationsgegenstand verkommt.

Anbetung und nicht Machen

Mit dieser Grundausstattung schreitet die liturgische Entwicklung in die Zeit. Sie entfaltet in den Formen der Inkulturation den Kern des Ursprünglichen auf unterschiedliche Weise in Ost und West. In einem herrscht jedoch kristallene Klarheit und Übereinstimmung beider Hemisphären der Christenheit: darüber, was die Liturgie ist und was sie nicht ist: sie ist Opus Dei und nicht Menschenwerk. Sie ist Anbetung und nicht Machen. Sie ist feierlich und nicht alltäglich. Sie ist schön und nicht banal. Ihre Ausstattung ist aufwendig und nicht praktisch. Sie klingt und scheppert nicht. Sie singt und quatscht nicht. Sie jubelt und ist daher unverständlich. Sie schaut in erster Linie nach vorne auf Christus und nicht auf den Rücken des Priesters – und noch viel weniger in sein Gesicht. Sie ist zweckfrei und nicht thematisch. Sie bemüht sich im bildenden Bereich der Kunst wie in der Musik um ikonographische Zeitlosigkeit und nicht um Unterhaltung. Sie wirft alles, was schön und gut ist, in die Schale und nicht bloß ein paar Anständigkeiten. Sie ist ein Mysterium und nicht Erläuterung. Sie ist Sakrament und nicht Symbol. In ihr wird gehandelt und nicht bloß gedacht. Sie will weniger dienen, als bedient werden. Sie wird in ausgesonderten Räumen gefeiert, die an Paläste erinnern und nicht an Hörsäle oder Sparkassen – und selbst wenn es die Armut der Umstände erfordert, sind ihre Kirchen niemals praktisch, sondern würdig eingerichtet. Sie ist prunkvoll und majestätisch und nicht bürgerlich. Ihr ist nichts zuviel und nichts gut genug. Denn sie weiß, daß sie der Vorhang ist, hinter dem der Lebendige Gott in der Zeit wirkt, solange bis dieser Vorhang beiseite geschoben wird und wir durch ihn eintreten dürfen in die himmlische Liturgie der Engel und Heiligen.

Strategische Rettungsversuche

Diese Sicht verbindet die Liturgie von Byzanz und von Rom über Jahrhunderte. Denn - unabhängig von den Unterschieden in den äußeren Formen – in einem laufen die Linien bis in das 20. Jahrhundert zusammen: da wo das christliche Kultmysterium als latreúein – als selbstloses, zweckfreies Dienen im Angesicht der Gottheit verstanden wird.

Die Versuche der Reformation damit Schluss zum machen zu Gunsten von frommen bis akademischen Bildungsveranstaltungen in nüchternen Kirchen, spalten am Ende die Christenheit und verlassen endgültig den Bereich des Kultischen. Der reformierte Christ soll singen, spielen, beten, denken, predigen, sich erinnern, um dadurch fromm zu werden oder fromm zu bleiben. Die alte Vorstellung der Väter, daß „Christus in der Kirche singt“ (Hl. Ambrosius), hat ausgedient. Dort, wo der Kult in der Reformation an sein Ende kommt, hört die Kirche über Nacht auf zu existieren.

Das Konzil von Trient wird zwischen 1545 und 1563 eine Antwort auf diese Entwicklung geben. Und zwar unter anderem eine liturgische. Es erfindet dabei nichts Neues. Aber es katalogisiert und ordnet die liturgischen Schatzkammern neu, um sie unangreifbar zu machen gegen die Wirren der Zeit.

Wie bei vielen Notstandsmaßnahmen, geht dies auch nicht ohne Verluste ab. Die sogenannte „Messe des Konzils von Trient“ hat den herben Charakter einer rubrikalen Form an sich, die vieles aus dem Formenreichtum der Alten Kirche hinter sich lässt oder diesen Formenreichtum in eine instant-artige Trockenheit eindampfen lässt. Der Altar wird zum regulären Ort des liturgischen Geschehens und seine beiden Außenseiten stutzen die alten Prozessionswege zu ein paar rudimentären Körper-Drehungen des Priesters. Oder der einst konstitutive feierliche Gesang wird zum fakultativen Feierlichkeitselement, das dem bereits vom Priester gebeteten Sprechtext hinzugefügt wird und damit seine alte Rolle des integralen Bestandteils im liturgischen Geschehen verliert.

Alles in allem sind es aber keine Neuschöpfungen oder wesentlichen Veränderungen, die aus dem Tridentinischen Konzil die „Tridentinische Messe“ hervorgehen lassen. Es sind notwendige strategische Rettungsversuche, die dazu angetan waren, das Glaubensgut und die Liturgie gegen die Anwürfe des Zeitgeistes zu retten.

Das Konzil von Trient – so stellen wir fest – war zwar bemerkenswert wichtig, hat aber in diesem Zusammenhang nichts wirklich Neues erfunden – schon einmal gar keine – für die damaligen Verhältnisse – „neue“ tridentinische Messe.

Insofern entspricht es nicht den Tatsachen, wenn in der gegenwärtigen Diskussion ständig suggeriert wird, es gehe beim Motu proprio „Summorum Pontificum“ des Hl. Vaters, Papst Benedikt XVI. vom 7. Juli 2007 um die Wiederherstellung einer Liturgie aus dem 16. Jahrhundert. Denn es handelt sich im wesentlichen um die Liturgie des ersten Jahrtausends, um die Liturgie des Hl. Papstes Gregors des Großen, um jene „alte“ Liturgie, die uns in ihrem Kern – z.B. im römischen Meßkanon - sogar bis in die Verfolgungszeit des dritten Jahrhunderts zurückführt.

Hinter das Konzil zurück

Es geht bei der erstaunlichen Publikation des Hl. Vaters um etwas völlig anderes: es geht um die Wiederherstellung des christlichen Kultmysteriums, das zwischenzeitlich verloren gegangen war. Es geht um die Liturgie der Kirche insgesamt und nicht um eine bestimmte zeitgebundene Form. Es geht um das, was über das Sein und Nichtsein von Liturgie entscheidet und das – offensichtlich – bereits unter dem Geröll der zeitgeistlichen Abraumhalden des 20. Jahrhunderts begraben zu werden gedroht hatte.

Aber hatte nicht das Zweite Vatikanische Konzil den Anspruch erhoben, so vieles Alte wiederherzustellen und gerade mit den zweifelsfreien Unstimmigkeiten, Verkrustungen und Überlagerungen in der Liturgie aufzuräumen? Wozu muß der Papst jetzt „hinter das Konzil zurück“, wie es heißt?

Die Antwort ist einfach: es sind weder die akademischen Diskussionen unter Liturgiewissenschaftlern, noch die nostalgischen Bedürfnisse ästhetisch geprägter Menschen daran schuld, daß es ein Motu proprio gab. Es ist schlichtweg die Tatsache, daß die sogenannte liturgische Erneuerung in der Kirche durch Abnutzung demaskiert ist. Ihr ist die Schminke längst von den Wangen gelaufen.

Denn das, was nach dem Zweiten Vatikanischen Konzils aus der Liturgie gemacht wurde, ist ja weniger eine Erneuerung oder Neugestaltung. Es ist vielmehr das Aufparadieren eines liturgischen Gemischtwarenladens, in den man unverbunden und oft geradezu wahllos die Versatzstücke der Vergangenheit neben neue Ideen gestellt hat. Umzusetzen von Priestern, die nicht mehr am Rollator der Rubriken spazieren gehen können, sondern sich die choreographischen Muster ihres liturgischen Auftretens selbst überlegen müssen – ein einigermaßen schwieriges Unterfangen für Männer in einer Zeit, in der so gut wie alle profanen Manieren getötet sind.

Hinzu kommen die Folgen kontraproduktiver Einfälle, die in ihrem Kern das Wesen der Liturgie nicht erneuern, sondern beerdigen halfen: der faktische Verlust der Gott-bezogenen Zelebrationsrichtung, die Handkommunion und das Aussterben der Kultsprache, die einen unvergleichlichen Einheits- und Identitätsverlust der ältesten globalen Organisation der Welt riskiert hat.

Wo der Hund begraben ist

In diesen alltäglichen Phänomenen – es gibt fast ausschließlich Volksaltäre, fast ausnahmslos die Handkommunion und nirgends mehr ein Wort Latein – liegt der Hund der Krise begraben. Es geht weniger um die akademische Hüstelei im Hinblick auf liturgiehistorische Fragen oder archäologische Befunde, auch nicht um das unreflektierte Festhalten an tridentinischen Schrumpfformen. Es geht um die Frage, ob der Kult der Kirche in seiner Praxis noch wirklich heilig ist und mit dem Lieben Gott noch etwas zu tun hat. Und das heißt mit anderen Worten: es stellt sich die bange bis tabuisierte Frage, inwieweit der Kult der Kirche überhaupt noch existiert.

Man darf dem Papst wohl zugute halten, daß er vieles von dem Gesagten im Hinterkopf hatte, als er sich entschied „aus eigenem Antrieb“ „Summorum Pontificum“ zu schreiben. Sein Schreiben ist keineswegs als Bonbon für die Nostalgiker zu verstehen, sondern vielmehr als letzter Rettungsversuch, das christliche Kultmysterium vor dem völligen Untergang zu bewahren. Und so wie es sich natürlich versteht, daß der päpstliche Text diese Intention eher diplomatisch verschweigt, die Schriften des Cardinals Ratzinger aus den vergangenen fünfundzwanzig Jahren lassen mehr als tief darauf blicken, was sein eigentliches Anliegen ist: Denn es geht ihm nicht um die Beruhigung einer kirchenpolitischen Ranküne zwischen Linken und Rechten, Tradis und Sponties, Nostalgikern und Modernen. Es geht ihm offensichtlich um die Zukunft - um die Zukunft der Kirche und des in ihr fortlebenden und im Kult anwesenden Christus!

Der Papst ist schließlich über Jahre selbst einer jener verdeckten Fahnder gewesen, die die unheilvollen Schwächen der „Neuen Messe“ gnadenlos enttarnten. Wir haben schon früher von ihm lernen dürfen, daß die Gefahr der Verdunstung Gottes in den läppischen, bürgerlichen Formen der gegenwärtigen Gottesdienstlandschaft besteht.

Es ist Gott, der sich nicht mehr finden lässt, wenn Zelebranten in ihr Publikum grinsen. Es ist Gott, der sich nicht mehr als Geheimnis und erhabener König in die Herzen der Kinder einwurzeln kann, wenn man sie um den Altar schart, wie man zuhause am heimischen Herd der Mama beim Kuchen- oder Plätzchenbacken zuschaut. Es ist das Heilige und ganz Andere, das Gott ist, auf das niemand mehr stoßen kann, wenn er in der Messfeier seinen Alltag mit praktischen Tipps aufbereitet bekommt. Es ist die wirkliche Präsenz des Höchsten im Sakrament des Altares, die nicht mehr geglaubt werden kann, wenn der Leib des Herrn auf eine Weise in die Hand gedrückt wird, die jeder rheinische Karnevalsorden sich verbitten würde. Es ist der Verlust des gerade für unsere Zeit der Durchschaubarkeiten und des gläsernen Menschen so wichtige Raum des Geheimnisses, wenn die letzten Reservate des Numinosen durch die fast völlige Abschaffung einer kultischen Sprache ausgeräuchert worden sind. Es ist das Bewusstsein der Zeitlosigkeit, das getilgt wird, wenn es nicht einen hörbaren Zeitbogen wie den Gregorianischen Choral gibt, der den Menschen in die Welt Gottes eintaucht und nicht in ein bestimmtes Jahrhundert.

Es ist Gott, der verloren geht, wenn nicht bald die Heiligkeit und Schönheit des Kultes den Platz zurückerhalten, den sie beanspruchen müssen, um der Kirche Atem statt Abluft zu schenken. Hier soll die „Alte Messe“ die Pädagogin sein, das zu bewerkstelligen, was Benedikt XVI. mit dem Begriff der „Reform der Reform“ gemeint hat: die (Wieder)-Herstellung eines einheitlichen Ritus, der so stark ist, daß ihm kein Zelebrant und kein Liturgiekreismitglied die Heiligkeit mehr nehmen kann. Das Bemühen um die „Alte Messe“ entspringt weder einem rein historischen oder ästhetischen Interesse, noch geht es um Kirchenpolitik oder Machtspiele. Und ebenso wenig um eine Konzession an den Zeitgeist der Gegenwart, der ja schon seit geraumer Zeit durchaus auf einem Trend zur Musealisierung und zur Nostalgie surft. Es geht um den unaufgeregten und jenseits allen Dünkels geführten Kampf für das, was weder alt, noch neu, sondern immer gültig ist. Ein klassisches Anliegen der Avantgarde, die sich nicht einordnen lässt in die Klischees psychologischer Erklärungen, weshalb heute so etwas wie Traditionalismus en vogue ist, sondern selbstbewusst darauf beharrt zu wissen, was richtig ist, die sich nicht mit Reservatsbedingungen zufrieden stellt, die den Gläubigen Formulare zur Genehmigung ihres Anliegens unterschieben, auf denen sie ihren Wunsch auf eine Weise nach einer klassischen Liturgie bekunden müssen, die fatal an die Antragstellung auf Harz IV erinnert.

Die Wiederherstellung des Heiligen

Es wird also die „Avantgarde der Tradition“ (Martin Mosebach) sein, die allein helfen kann, den Kult der Kirche zu retten. Die „Tradi-Nostalgie“ im Umgang mit den alten Formen“ wird dies nicht vermögen. Sie sammelt das vergangene in Kartons. Es geht aber nicht ums Aufsammeln, es geht ums Wiederherstellen! Um ein Wiederherstellen des Heiligen. Damit die Latreua, die zweckfreie Anbetung im Kult, nicht in den bürgerlichen Latrinen der Gegenwart hinuntergespült wird.

Schon jetzt zeichnet sich ab, daß sich eine Kirche als ganze überflüssig macht, die den Menschen Konstrukte zum Verbleib anbietet. So wie es die zeitgenössische Architektur macht, wenn sie die Menschen in Gebäude einquartiert, die nicht gewachsen – ja nicht einmal gebaut – sondern strategisch und ohne Tradition hochgezogen sind. Der Mensch sehnt sich jedoch nach Gewachsenem, nach dem, was sich sedimentartig aufgeschichtet hat, damit daraus eine bergende Behausung wird. Es ist die ganze Frage daher nebenbei auch eine Frage der wahren Humanität, wenn die Göttlichkeit Gottes zur Rede steht, die niemals ein Phänomen der Nostalgie ist.

Die „Alte Messe“ ist eben keine alte Messe, so etwas wie unser „Alter Kaiser Wilhelm“, der mit Pickelhaube über dem Gründerzeitsofa der Nostalgiker hängt und aus einer verschollenen Zeit auf Laptops und MP-3-Player herabschaut. Die „Alte Messe“ ist nötig zur Gesundung der Kirche. Allein, sie braucht eine Avantgarde, die sie auf den Leuchter zurückstellt.

Sie ist die Messe von morgen, weil es ohne sie kein Morgen geben wird.


Dieser Beitrag erschien in der Dezember-Ausgabe des Vatikan-Magazins. Wir veröffentlichen ihn hier mit Erlaubnis des Autors, Pfarrer Rodheudt, im für alle zugänglichen HTML-Format. Darüberhinaus gibt es noch eine Möglichkeit, den Artikel als PDF (540 Kb) im Original-Layout des Vatikan-Magazins downzuloaden.