Bereichsnavigation Themen:

Tradition? Welche Tradition?

Paulus übergibt dem Timotheus einen BriefZu den vielen Begriffen, die in den nachkonziliaren Wirren des letzten Jahrhunderts nahezu inhaltslos gemacht worden sind, gehört auch der der „Tradition“. Ist „Tradition“ die Summe der Lehren und Bräuche der Kirche von den Zeiten der Väter bis - ja bis wann eigentlich? Bis zum Stichjahr 1900? Oder doch besser bis 1960? Oder gibt es gar kein Stichjahr? Und wenn nicht: Wie verteilen sich die Gewichte? Ist „lebendige Tradition“ schon alles, was heute jemandem als wünschenswert erscheint und von dem er behauptet, daß es „dem Geist der Tradition“ mehr entspreche als - sagen wir mal - ein Beschluss des Konzils von Trient, oder einer des Vatikanums I, oder einer des Vatikanums II? Und was ist, wenn solche Beschlüsse oder Erklärungen sich dem Anschein nach oder tatsächlich widersprechen? Konnten die „Traditionen“ eines Jahrtausends nach „dem Konzil“ als überlebt beiseite gtan werden, während die seitdem eingeführten Neuerungen eine neue „Tradition“ von 50 Jahren bilden, die für Zeit und Ewigkeit unwiderruflich bleibt, getreu dem Motto Erich Honeckers „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“?

Einem guten Teil der hier aufgeworfenen Fagen widmet sich eine  zweiteilige Betrachtung von Clemens Victor Oldendorf „Zum Begriff der Tradition“, und „Ein Entwicklungsgang zum Mantra der Kontinuität?“, die wir im folgenden hier übernehmen. Der Autor warnt dabei vor der Gefahr einer positivistischen Konzeption von Offenbarung und Lehramt, in die eine Überhöhung des „isolierten Glaubenssinns der gegenwärtigen Kirche“ führen kann - und diese Gefahr sieht er nicht erst in der Entwicklung der vergangenen 50 Jahre. Im zweiten Teil untersucht er die Möglichkeiten und Grenzen einer Weiterentwicklung bzw. Vertiefung der Lehre und versucht - auch im Blick auf die von Erbischof Müller jüngst eingeführte Begrifflichkeit „Dogmatischer Implikationen“ eine Bestimmung des Grades an Verbindlichkeit der verschiedenen Konzilsdokumente.


Teil I:„Zum Begriff der Tradition“

Abgeschlossenheit, Beharrungskraft und Lebendigkeit

Von Clemens Victor Oldendorf

 

Teil I: „Zum Begriff der Tradition“

Im Vorfeld der Dogmatisierung der Leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel, die Pius XII. am 1. November 1950 als Glaubensatz verkündet hat, stellte sich ein Begründungsproblem. Biblisch ist der Inhalt dieses Dogmas nicht bezeugt. Für einen Traditionsbeweis kann man erst relativ spät, etwa um die Wende vom 6. zum 7. Jahrhundert, mit der Argumentation einsetzen. Im Motu proprio Ecclesia Dei afflicta vom 2. Juli 1988 wurde an sich nur festgestellt, dass mit der Bischofsweihe, die Erzbischof Marcel Lefebvre am 30. Juni 1988 vier Priestern der von ihm gegründeten Priesterbruderschaft St. Pius X. ohne Apostolisches Mandat und sogar gegen den ausdrücklichen Willen Johannes Pauls II. erteilt hatte, die Exkommunikation von Weihespendern und Geweihten eingetreten war.

Eine solche Bischofsweihe wurde darin als „schismatischer Akt“ qualifiziert, der allerdings sorgfältig von einem vollendeten Schisma zu unterscheiden ist. Der Vorwurf einer Häresie an die Traditionalisten um Erzbischof Lefebvre wurde ausdrücklich nicht formuliert. Ein schismatischer Akt gleicht offenbar einem Keim, dem ein voll entfaltetes, formelles Schisma entspringen kann, jedoch nicht zwangsläufig entspringen muss. Zu keinem Zeitpunkt haben etwa die von Lefebvre geweihten Bischöfe ordentliche Jurisdiktion beansprucht, es gibt keine territorialen Zuständigkeitsbereiche, die unter ihnen aufgeteilt worden wären, niemals kam es zur Schaffung eigener,  „lefebvrianischer“ Diözesen.

Weil die Bischofsweihen vom 30. Juni 1988 also nicht wirklich auf einer prinzipiellen Leugnung des Päpstlichen Jurisdiktionsprimates beruht hatten und auch in der Folge kein formelles Schisma ausgeprägt worden war, konnte auf Anordnung Benedikts XVI. den vier 1988 geweihten Bischöfen am 21. Januar 2009 die Tatstrafe der Exkommunikation erlassen werden, nachdem sie zuvor um Aufhebung des Exkommunikationsdekretes gebeten hatten. Damit wollte Benedikt XVI. die vollständige Normalisierung der Situation der Priesterbruderschaft St. Pius X. in der Gesamtkirche begünstigen und erleichtern.

1. Unvollständiger, widersprüchlicher Traditionsbegriff?

Wenn auch im Motu proprio von 1988 zur Begründung der Exkommunikation nur von einem schismatischen Akt die Rede gewesen war und nicht von einer Häresie, so sprach doch Ecclesia Dei afflicta Nr. 4 von einer „Wurzel“, auf die dieser schismatische Akt zurückzuführen sei, und diese Wurzel wurde sehrwohl als lehrmäßiger Irrtum, zumindest als eine theologische Einseitigkeit oder Vernachlässigung beschrieben. Es handele sich dabei um einen „unvollständigen und widersprüchlichen Begriff der Tradition“. Unvollständig sei er, so heißt es dort, weil er den „lebendigen Charakter der Tradition“ nicht genug berücksichtige, „unzutreffend und widersprüchlich“, weil er sich dem universalen Lehramt des Papstes und der Bischöfe widersetze: „Denn niemand kann der Tradition treu bleiben, der die Bande zerschneidet, die ihn an jenen binden, dem Christus selbst in der Person des Apostels Petrus den Dienst an der Einheit in seiner Kirche anvertraute“. Diese Begründung kommt also bereits wieder stärker auf den schismatischen Aspekt der Situation zurück.

In Nr. 5 b) heißt es dann: „Wir möchten ferner auch die Theologen und Fachgelehrten der anderen kirchlichen Wissenschaften darauf aufmerksam machen, dass auch sie von den augenblicklichen Umständen herausgefordert sind. Die Breite und Tiefe der Lehren des Zweiten Vatikanischen Konzils machen nämlich neue und vertiefte Untersuchungen notwendig, in denen die Kontinuität des Konzils mit der Tradition klar hervorgehoben wird, vornehmlich in jenen Bereichen der Lehre, die, weil sie vielleicht neu sind, von einigen Teilgruppen der Kirche noch nicht recht verstanden wurden.“

2. Die hermeneutische Frage

Hier ist offensichtlich das Stichwort der Kontinuität vorgegeben, von dem der gegenwärtige Heilige Vater in seiner programmatischen Ansprache vom 22. Dezember 2005 ausgegangen ist, in der er einer unstatthaften „Hermeneutik des Bruches oder der Diskontinuität“ die authentische „Hermeneutik der Reform“ entgegengesetzt hat. Diese wird vereinfachend und popularisiert häufig als „Hermeneutik der Kontinuität“ angeführt, doch nimmt das dem Interpretationsansatz Benedikts XVI. seine eigentliche Originalität und Pointe. Indem der Papst das Gegensatzpaar „Diskontinuität/Reform“ bildet, setzt er Reform mit Kontinuität gleich, entzieht also vor allem jenen Bruchhermeneutikern, die das II. Vaticanum als Bruch feiern, den Begriff der Reform, für den sie eigentlich schon während des Konzils und der gesamten Zeit seither ein Monopol und eine Deutungshoheit über das Konzil beansprucht haben. Nun muss man zugeben, dass vom Ansatz Benedikts XVI. her natürlich auch jene mit dem Label der Bruchhermeneutik zu versehen sind, die im Vatcanum II undifferenziert den pauschalen Traditionsbruch sehen, den sie als den „Sündenfall“ der „Konzilskirche“ verwerfen und kategorisch zurückweisen.

1979 schon sagte der selige Papst Johannes Paul, dass das Konzil „im Lichte der Tradition interpretiert werden“ müsse (und nicht etwa die gesamte vorangegangene Lehrtradition im Lichte des – jeweils – letzten Konzils), und in diesem Sinne spricht der jetzige Papst von der Notwendigkeit einer „Hermeneutik der Kontinuität“. Man würde diese aber tatsächlich zu sehr vereinfachen und missverstehen, wenn man meinte, Benedikt XVI. bestreite damit jedes Vorhandensein oder jede Legitimität bestimmter Diskontinuitäten in der Glaubens- und Kirchengeschichte.  Dies wäre tatsächlich ein nicht unbedingt im strengen Sinne theologisch, aber historisch irriger Traditionsbegriff. Vor allem aber – und das ist entscheidend – die Diskontinuitäten, die sich in diese Hermeneutik legitim einfügen (womit darauf hingewiesen sei, dass es auch illegitime Diskontinuität geben kann, die sich nicht einfügt!), sind niemals der Interpretationsschlüssel des Ganzen von Glaube und Kirche. Der Kontext, in den legitime Diskontinuitäten eingeschrieben sind, erschließt sich niemals von diesen her, sondern wird erst durch die Kontinuität hergestellt, die nicht bloß als eine lineare Chronologie aufzufassen ist, sondern mehr als Kohärenz verstanden sein will, einem durchaus heterogenen Gewebe eher vergleichbar, als einem unabgerissenen oder unentwegt fortgesponnenen, homogenen, einzelnen Faden.

Ohne die Terminologie des Heiligen Vaters verbessern zu wollen, sollte man deshalb einmal in Erwägung ziehen, die Hermeneutik der Reform noch präziser als eine Hermeneutik der Kohärenz oder in Kohärenz zu verstehen. Der in Ecclesia Dei afflicta  Nr. 4 skizzierte, defizitäre Traditionsbegriff vernachlässigt zunächst die Lebendigkeit der Tradition und koppelt sich sodann von den jeweils aktuellen Trägern des Lehramtes ab, beziehungsweise begibt sich zum aktuellen Lehramt seit Vaticanum II in eine pauschale oder sogar prinzipielle Opposition. Wir müssen fragen: Worin besteht die Lebendigkeit der Tradition, oder noch genauer: in welchem Sinne ist die Tradition lebendig?

3. Der Heilige Geist als geschichtlicher Beistand der Kirche im Zeugnis der Heiligen Schrift

An dieser Stelle ist zunächst das Zeugnis der Heiligen Schrift zu befragen.Wir werden vor allem im Johannesevangelium fündig. Die entsprechenden Stellen seien hier zunächst in der Reihenfolge ihres Vorkommens im Evangelium des Johannes angeführt, anschließend ausgewertet. In Joh 14, 16f  lesen wir die Aussage Christi: „Und ich werde den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Beistand geben, damit er bei euch bleibe in Ewigkeit, den Geist der Wahrheit, welchen die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht und ihn nicht kennt; ihr aber werdet ihn kennen, denn er wird bei euch bleiben und in euch sein.“ V. 26 fährt fort: „Der Tröster aber, der heilige Geist, den der Vater senden wird in meinem Namen, er wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was immer ich euch gesagt habe.“ Joh 15, 26f sagt Jesus: „Wenn aber der Tröster kommen wird, den ich euch vom Vater senden werde, den Geist der Wahrheit,  welcher vom Vater ausgeht, so wird er von mir Zeugnis geben. Und auch ihr werdet Zeugnis geben, weil ihr von Anfang an bei mir seid.“ Joh 16, 7 heißt es dann: „Doch ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, dass ich hingehe; denn wenn ich nicht hingehe, so wird der Tröster nicht zu euch kommen; wenn ich aber weggehe, so werde ich ihn euch senden. In VV. 13-15 folgt: „Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, so wird er euch in alle Wahrheit einführen; denn er wird nicht von sich selbst reden, sondern alles, was er hört, wird er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkünden. Dieser wird mich verherrlichen, denn er wird von dem Meinigen nehmen und euch verkünden. Alles, was immer der Vater hat, ist mein; darum habe ich gesagt: Er wird von dem Meinigen nehmen und wird es euch verkündigen.“

Bemerkenswert ist, dass all diese Zitate bis auf eine Ausnahme dem 14. und dem 16. Kapitel bei Johannes angehören. Zwei Verse sind aus dem 15. Kapitel,  das insgesamt die Verbindung Jesu mit seinen Jüngern und deren Bindung an Jesus zum Gegenstand hat; zentral ausgedrückt im Gleichnis vom Weinstock und den Rebzweigen (vgl. Joh 15, 1-10), durchaus ein wichtiges Bild für die Kirche im Wechsel der Zeitläufte, außerdem das Bild einer organisch-eucharistischen Kirche mit der Betonung des wechselseitigen „Bleibens“. Schließlich ist zu diesen Bibelstellen noch Lk 10, 16 hinzuzunehmen, wo Jesus spricht: „Wer euch hört, hört mich, und wer euch verachtet, verachtet mich; wer aber mich verachtet, verachtet den, der mich gesandt hat.“ Wenn wir nun darangehen, diese biblischen Texte näher zu untersuchen, so finden wir mehrere Funktionen, die dem Heiligen Geist zugeschrieben werden. Während Jesus von den Jüngern weggeht, ist der Heilige Geist der andere Beistand, der (1) in Ewigkeit, das heißt hier vor allem: durch die ganze Geschichtsdauer der Kirche hindurch, bei den Jüngern bleibt. Er hat (2) die Aufgabe, die Kirche alles zu lehren und sie an die gesamte Offenbarung in Jesus Christus zu erinnern. In diesem Erinnern fällt auf, dass der Heilige Geist der Offenbarung Jesu Christi nichts hinzufügt oder sie ergänzt, vielmehr wiederholt er sie gleichsam und hält sie gegenwärtig. (3) gibt der Heilige Geist Zeugnis von Jesus Christus und (4) befähigt er die Jünger zu diesem Zeugnis. Zeugen werden sie dadurch, dass sie (5) von Anfang an bei Jesus sind und ausharren, worin wir eine biblische Andeutung des kirchlichen Kriteriums der Kontinuität und der Tradition erblicken können. Dass der Heilige Geist die Offenbarung Christi in der Kirche bezeugt und lebendig hält, wird dadurch unterstrichen, dass er (6) nicht von sich selbst redet, sondern dass er (7) alles redet, was er hört. Er selbst empfängt die Offenbarung Jesu Christi zur Bezeugung in der Kirche (vgl. Röm 10, 17). Der Heilige Geist ist in einem ganz spezifischen Sinne der Geist des Glaubens.  Schließlich ist der Heilige Geist ein prophetischer Geist, insofern er (8) Zukünftiges verkünden wird. Der Heilige Geist vollbringt (9) in der Kirche das kultische Werk der Verherrlichung Jesu Christi, indem er von demjenigen nimmt, was Jesus ist und das dieser auf den Vater und die eigene Sendung durch den Vater zurückführt. Der Heilige Geist schöpft gleichsam aus der Offenbarung Jesu Christi; deren Verkündigung ist dessen Verherrlichung – Gottesdienst.

Die Lukasstelle, in der Jesus das Hören auf das Apostelwort mit dem Hören auf sein Wort identifiziert, setzt das Nichthören mit Verachtung gleich. Diese Verachtung ist das Gegenbild der Verherrlichung, insofern Kultverweigerung. Wie das „Meinige Jesu“, von dem der Heilige Geist „nimmt“, von Jesus auf die Sphäre des Vaters zurückgeführt wird, so ist auch die Verachtung der doxologischen Verkündigung der Offenbarung Jesu Christi durch den Heiligen Geist letztlich Verachtung des Vaters. Wenn wir das alles zusammennehmen, ist vielleicht der prophetische Aspekt als ausgesprochen dynamisch aufzufassen, ansonsten überwiegt indes ganz klar nicht ein produktiver, sondern ein reproduktiver Eindruck die Charakteristika des Geistwirkens in der Kirche. Es bewirkt eine Vergegenwärtigung der Offenbarung Jesu Christi in der Zeit und im jeweiligen Heute der Kirche. Ihrem Inhalt nach ist aber diese Offenbarung wesentlich abgeschlossen und die geistgewirkte Präsenz der Offenbarung Jesu Christi in der Kirche somit gleichzeitig permanent aktuell und konservativ.

4. Der Traditionsbegriff im Bemühen des Konzils von Trient

Das Konzil von Trient hat sich im Horizont der Infragestellungen der Reformatoren in besonderer Weise mit dem Problem der Tradition befasst. In einem Text aus dem Jahre 1965 hat der junge Joseph Ratzinger einen „Versuch zur Frage des Traditionsbegriffs“ unternommen, in dem er die tridentinische Diskussion und die Ebenen oder Linien des Traditionsbegriffs des Trienter Konzils, die sich unterscheiden lassen, bewusstmacht und auswertet. Dieser Text ist bis heute lesenswert, kann aber hier in seinen Thesen nicht ausführlich referiert werden. Er ist in der Quaestio disputata 25 zum Thema „Offenbarung und Überlieferung“ Freiburg i. Br. 1965, S. 25-69, greifbar, zu der außer Joseph Ratzinger Karl Rahner einen Beitrag beigesteuert hat. Vermutlich wird Ratzingers Aufsatz in Band 9 der im Erscheinen begriffenen Gesammelten Schriften, die Erzbischof Gerhard Ludwig Müller bei Herder herausgibt, berücksichtigt werden. Wann dieser Band erscheinen kann, steht aber laut Auskunft des Verlages derzeit noch in den Sternen. Ratzinger arbeitet drei, vielleicht vier, wesentliche Traditionsentwürfe heraus. Zuerst ganz gerafft einige Grundsätze für die Auswertung des Traditionsdekretes des Konzils von Trient, in dem die Vorarbeiten Kardinal Cervinis deutlich erkennbar bleiben. Offenbarung wird nicht, wie wir es eher gewohnt sind und gerade von Trient erwarten würden,  auf zwei Quellen zurückgeführt, Tradition und Schrift. Unter Schrift wird an sich das Alte Testament verstanden, die neutestamentliche Schriftwerdung selbst als Traditionsprozess aufgefasst. Evangelium ist ganzheitlich die Heils- und Frohbotschaft Jesu Christi, teils verschriftlicht, teils aber mündlich. Ein ursprüngliches partim – partim des Entwurfs ist freilich im Dekret auf das neutralere et – et beschränkt.

Die Quelle der Traditio wird demgegenüber  gerade in den universalen Consuetudines Ecclesiae wahrgenommen, die auf apostolischen Ursprung zurückgeführt werden. Eine Sonderstellung unter diesen Consuetudines nehmen bezeichnenderweise gerade die liturgischen Usus, die Ritus recepti et approbati (vgl. DH 1613) ein. Es lassen sich also mehrere Modi unterscheiden, in denen uns die Offenbarung vergegenwärtigt und tradiert wird: (1) Die Heilige Schrift des Alten Testaments, (2) das Evangelium in seiner vierfachen Verschriftlichung (zusammen mit den anderen neutestamentlichen Schriften)  und als mündliche Kunde, (3) die in der Kirche überlieferten und gegenwärtig praktizierten liturgischen Riten. Diesbezüglich ist zu beachten, dass Trient noch nicht die Auffassung vertritt, dass solche Riten zuerst von der kirchlichen Autorität vorgeschrieben, eingeführt und dann praktiziert werden, sondern, dass sie deswegen praktiziert werden, weil sie von der Kirche empfangen und bisher überliefert wurden und gerade deshalb in dieser überlieferten Gestalt auch in Zukunft zu bewahren und lebendig zu erhalten sind. So ist der liturgische Ritus ein besonders gutes Beispiel für die Lebendigkeit der Tradition. Ein überlieferter Ritus ist nicht ein altes liturgisches Buch, sondern in der Kirche eigentlich nur gegenwärtig, indem er der liturgischen Feier konkret als Vorgabe ihres Ablaufs zugrundeliegt. Dies ist das sozusagen rituelle Traditionskonzept, das auf Trient Einfluss nimmt.

Dass unter Evangelium die schriftlich niedergelegten Evangelien verstanden werden, der Begriff aber nicht auf diese schriftliche Form festgelegt wird, sondern insgesamt die Offenbarung in Jesus Christus bezeichnen kann, deutet bereits eine Dynamik an, die uns auf den vierten tridentinischen Ansatz hinführt, den Begriff Tradition zu fassen. Es ist ein (4) pneumatischer oder pneumatologischer Traditionsentwurf. Biblisch haben wir ihn schon aufgezeigt. Er meint die geistgewirkte Repräsentation der Offenbarung Jesu Christi die ganze geschichtliche Existenz der Kirche hindurch. Die Überraschung, der wir jetzt vielleicht gegenüberstehen, ist also, dass die Lebendigkeit der Tradition nicht eine modernistische Verirrung ist, sondern sich biblisch und auf Trient konziliar bezeugt findet. Freilich -  bereits biblisch und auch auf Trient ist die Tradition inhaltlich abgeschlossen, weil sie inhaltlich der in Jesus Christus gültig „aus“-gesprochenen Offenbarung entspricht. Lebendig ist sie unter dem beständigen Beistand des Heiligen Geistes wiederum auf zwei Ebenen oder besser: auf den zwei Seiten einer Medaille, nämlich dem jeweils aktuellen Lehramt und dem Glaubenssinn der gegenwärtigen Kirche.

5. Isolierter Glaubenssinn der gegenwärtigen Kirche als Gefahr einer positivistischen Konzeption von Offenbarung und Lehramt

Damit kommen wir endlich auf das Mariendogma von 1950 zurück, für das es keinen biblischen und erst einen sehr spät einsetzenden Traditionsbeweis gibt.  Deswegen wurde zur Begründung und Rechtfertigung des Dogmas damals sehr stark betont, dass sein Inhalt in der gegenwärtigen Kirche allgemein geglaubt werde. Hans Barion schrieb in seinem Aufsatz „Mariens Himmelfahrt in katholischer Sicht. Die Berufung auf den Glaubenssinn der Kirche“, der  in Thomas Marschlers Buch „Kirchenrecht im Bannkreis Carl Schmitts. Hans Barion vor und nach 1945“, Bonn 2004, S. 498-500, wieder leicht zugänglich gemacht wurde, sogar, dieses Dogmas eigentliche Bedeutung sei nicht sein Inhalt, sondern bestehe darin, „gezeigt zu haben, dass der Glaubenssinn „der gegenwärtigen Kirche“ (S. 499) das Enthaltensein einer Wahrheit im Depositum  verbürgen könne. Wenn dies bedeuten soll, dass der „durch das kirchliche Lehramt, in erster Linie durch den Papst geleitete Glaubenssinn der Kirche“ (S. 500) gegebenenfalls als alleiniger Ersatz an die Stelle eines Schrift- und vor allem eines umfassenden Traditionsbeweises treten könne, würde das letztlich implizieren, dass jede fromme, freilich keinesfalls irrige Ansicht, die in der Gesamtkirche in Fragen des Glaubens oder der Sitten entsteht oder phasenweise auftaucht, zum Dogma aufsteigen könnte und dadurch dann in Zukunft als Offenbarungswahrheit zu tradieren wäre. Das wäre ein gefährlicher, theologischer Positivismus, der allerdings bei Barion nicht überrascht. Ähnlich äußert sich übrigens Ratzinger, wenn er in seinem kleinen Büchlein „Die Tochter Zion. Betrachtungen über den Marienglauben der Kirche“, Einsiedeln 41990 sagt, „daß die entscheidende Triebkraft zu dieser Aussage die Verehrung für Maria war; daß das Dogma sozusagen weniger im Inhaltlichen einer Aussage als im Akt der Huldigung, der Verehrung seinen Ursprung, seine Triebkraft und auch seine Zielsetzung hat“ (S. 73).

6. Glaubenssinn in solider Fundierung der Väterepoche

In seiner „Theologie der Kirchenväter“, Freiburg i. Br. 22010, schreibt Michael Fiedrowicz: „Der Glaubenssinn der einfachen Gläubigen bildete keine Gegeninstanz zum kirchlichen Lehramt, konnte aber, wie die arianischen Wirren zeigen, bei dessen weitgehendem Versagen zur einzig verbleibenden Bezeugungsinstanz des wahren Glaubens werden. (…) Wenn der Glaubenssinn gegen alle theologischen Manipulationen und ständigen Neuinterpretationen des depositum fidei letztlich immun blieb und sich damit als dessen legitime Bezeugungsinstanz auswies, dann gründete dies darin, dass der sensus fidelium –  im Unterschied zu heutigen Tendenzen seiner Deutung – damals nicht als produktiver, sondern als konservativer Faktor wirkte, nicht subjektives religiöses Empfinden, sondern die Überlieferung der Kirche bezeugte. Der Glaubenssinn wirkte als Beharrungskraft, die glaubenswidrige Neuerungen instinktiv erkannte und demgegenüber die Treue zum Ursprünglichen bewahrte“ (S. 288f).

7. Pneumatischer Traditionsbegriff und Lebendigkeit der Tradition

Das Ordentliche Lehramt ist nicht in allen seinen Aussagen unfehlbar, und das II. Vatikanische Konzil hat zusätzlich ganz bewusst darauf verzichtet, von der Unfehlbarkeit feierlicher Lehrverkündigung Gebrauch zu machen. Beide, das Ordentliche Lehramt des Papstes und der Bischöfe und das II. Vaticanum in seinem außerordentlichen, aber spezifisch pastoralen Eigencharakter, sind im Sinne des pneumatischen Traditionsentwurfs des Konzils von Trient, der biblisch belegt und in der Väterepoche gestützt ist, Ausweise der Lebendigen Tradition. Das II. Vaticanum stand als legitim einberufenes und durchgeführtes Konzil, das, ohne die Unfehlbarkeit zu beanspruchen, gültige Aussagen eigener Verbindlichkeit getroffen hat, unter dem allgemeinen pneumatischen Beistand für Lehramt und Glaubenssinn der Kirche. Diese Lebendigkeit bedeutet aber nicht Zusatz zur oder Zuwachs an der Offenbarungswirklichkeit, sondern nur vertieftes Eindringen in diese Wirklichkeit und Erkenntnisfortschritt in der Gemeinschaft der Kirche. Einen irrigen Begriff der Lebendigen Tradition könnte man also entweder demjenigen zum Vorwurf machen, der behaupten wollte, der allgemeine pneumatische Beistand für Lehramt und Glaubenssinn begleite nicht die gesamte Geschichtsdauer der Kirche, sondern sei mit oder seit dem II. Vaticanum unterbrochen worden, oder aber demjenigen, der diesen pneumatischen Beistand als Möglichkeit inhaltlicher Ergänzungen zum Offenbarungsgut versteht.  Wenn Ecclesia Dei afflicta  Nr. 5 b) daher von  „jenen Bereichen der Lehre, die, weil sie vielleicht neu sind, von einigen Teilgruppen der Kirche noch nicht recht verstanden wurden“  spricht, ist zu betonen, dass es sich bei diesen neuen Elementen sogar um legitime Diskontinuitäten handeln kann.

Das beste Beispiel für eine solche legitime Diskontinuität ist wahrscheinlich die Lehre des II. Vaticanums zur Religionsfreiheit, denn die vorangehenden Äußerungen des Lehramtes zu dieser Frage während des 19. Jahrhunderts beanspruchten ebenso wenig Endgültigkeit oder Unfehlbarkeit wie das II. Vatikanische Konzil selbst. Diesem ging es dabei auch nicht darum, eine Glaubenslehre vorzutragen, sondern darum, einen positiven Wert der neueren Geistesgeschichte in das Verhältnis der Kirche zur Welt zu integrieren. Jedenfalls methodisch ist das kein Bruch, denn schon die Kirchenväter sind mit den echten Werten der paganen Philosophie und Kultur nicht anders verfahren. Die Religionsfreiheit in der Lehre des II. Vatikanischen Konzils kann mit ihrem Ursprung in der profanen Geistesgeschichte übrigens prinzipiell nicht Häresie sein, weil sie auch nicht Dogma sein könnte. Solche legitimen Diskontinuitäten zu diskutieren, bedeutet allerdings nicht mangelndes Verständnis oder mangelnde Treue und Ehrfurcht gegenüber dem Lehramt und dem Papst und den Bischöfen als denjenigen, die es ausüben. Vor allem aber sind auch solch legitime Diskontinuitäten nicht der Verständnisschlüssel des Ganzen von Glauben und Kirche, sondern ihrerseits im Kontext von Kontinuität und Kohärenz zu deuten und im Zweifelsfalle nicht einfach lehramtspositivistisch als legitim zu behaupten, sondern als legitim nachzuweisen.

Der pneumatische Traditionsentwurf des Konzils von Trient und die Stellung des Glaubenssinnes der gegenwärtigen Kirche kann – so abgesichert – vielleicht behilflich sein, Missverständnisse des lebendigen Charakters der Tradition zu beseitigen und das II. Vaticanum, als Ganzes und in einzelnen seiner Aussagen betrachtet, deutlicher und klarer als bisher in das Kohärenzgefüge des Lehramtes harmonisch eingeflochten zu erkennen beziehungsweise dort, wo diese Harmonie atmosphärisch tatsächlich gespannt ist, diese Spannung in solider theologischer Arbeit an den fraglichen Konzilstexten, Passagen und Formulierungen und in lehramtlicher Anstrengung bei der Rezeption der Texte des II. Vaticanums konstruktiv aufzulösen.

8. Glaubwürdige Ökumene auf dem Prüfstand

Jedenfalls ist es verfehlt, der Priesterbruderschaft St. Pius X. in ihrer offiziellen theologischen Position einen irrigen oder sogar häretischen Begriff der Lebendigen Tradition zu unterstellen, weil die Priesterbruderschaft weder die biblisch, patristisch und im Konzil von Trient (!) belegte Wirklichkeit der pneumatischen Vergegenwärtigung der Offenbarung Jesu Christi in der Kirche leugnet oder als prinzipiell unterbrochen betrachtet, noch die Legitimität des II. Vaticanums als Konzil bestreitet oder es in der Gesamtheit seiner Aussagen zurückweist.

Nach allen Befunden, die sich in der Heiligen Schrift, den Vätern und im Traditionsdekret des Konzils von Trient erheben lassen, könnte, wenn überhaupt, höchstens ein Begriff der Lebendigen Tradition, der darunter inhaltlich Neues versteht und solches substantiell Neue als legitimen Zugewinn zum Offenbarungsgut vertreten will, als irrig oder gegebenenfalls häretisch qualifiziert werden.  Strenggenommen ist dieser Irrtum bereits mit dem I. Vaticanum zurückgewiesen, wenn dort festgestellt wird, dass den Nachfolgern des Petrus der Heilige Geist nicht verheißen ist, damit sie auf seine Offenbarung hin (eo revelante) eine neue Lehre (novam doctrinam) ans Licht brächten, sondern damit sie unter seinem Beistand (eo assistente) die von den Aposteln überlieferte Offenbarung (traditam revelationem) oder das hinterlegte Glaubensgut heilig bewahren und getreu auslegen (DH 3070). Schon biblisch ist fundiert, dass es inhaltlich keine eigene Offenbarung des Heiligen Geistes gibt, sondern dass der Heilige Geist die Offenbarung Jesu Christi bezeugt (vgl. Joh 16, 13-15), aber dieser Konzilstext des I. Vaticanums schärft das sehr prägnant ein, indem das Wirken des Heiligen Geistes nicht als Offenbarung einer neuen Lehre, sondern als Beistand bei der Bewahrung und Auslegung der apostolisch überlieferten Offenbarung Jesu Christi beschrieben wird; (non) eo revelante – novam doctrinam und  eo assistente – traditam revelationem sind einander antithetisch  gegenübergestellt.

Glaubwürdige Ökumene, wie sie der Kirche mit dem II. Vaticanum aufgetragen ist, dem die Einheit der Christenheit ein Kernanliegen war, sucht nicht allein bestehende Spaltungen zu überwinden, sondern muss ebenso danach trachten, neue Spaltungen zu vermeiden. Nach einer Bemerkung Benedikts XVI. ist die Kirche auch deshalb bleibend und verbindlich dem ökumenischen Engagement verpflichtet, weil sie historisch Mitschuld getragen, dass es zu Spaltungen kam und diese sich verfestigt haben. In dem geschichtlichen Augenblick, den wir erleben, hüte sich das kirchliche Lehramt, durch Schaffung neuer doktrineller Hürden oder sogar durch Konstruktion einer „lefebvrianischen Häresie“ die Priesterbruderschaft St. Pius X. von Papst und Bischöfen abzuschneiden.


 

Teil II: Ein Entwicklungsgang zum Mantra der Kontinuität?

Der Begriff der Tradition meint sowohl einen Inhalt, als auch einen Vorgang. In unseren Überlegungen „Zum Begriff der Tradition" haben wir diesen Umstand mittels der Stichworte Abgeschlossenheit, Beharrungskraft und Lebendigkeit zu veranschaulichen gesucht. Abgeschlossenheit und Beharrungskraft deuteten dabei darauf hin, dass die Apostolische Tradition ihrem Gehalt und Bestand nach durch die noch näher zu bestimmende Kirchliche Tradition, als dem aktiven Vorgang der Vermittlung - dem entspricht das Stichwort der Lebendigkeit -, keinen Zuwachs mehr erfahren kann.

Um dies jedem Zweifel und jeder möglichen Täuschung zu entziehen, wurde aus der römischen Rechtssprache für den in der Offenbarung Jesu Christi mitgeteilten Inhalt der Terminus „depositum" übernommen. Dieses Depositum Fidei erhielt bis zum Tode des letzten Apostels Kontur, Profil und Prägung, weswegen dieser Tod zugleich für den Offenbarungsinhalt den Schlusspunkt markiert.

1. Die Tradition als Entwicklungsgang

Seither kann die Gabe vermöge der Weitergabe nicht mehr angereichert werden. Nicht, weil sie an eine Grenze gestoßen wäre, sondern weil die Offenbarungsgabe damit ihre finale, vollkommene Offenbarungsgestalt und -fülle bereits gewonnen hat.

In der beginnenden Väterepoche mit den Apostelschülern befand sich die Weitergabe der apostolisch ausgeformten Gabe selbst noch in einem apostolischen Naheverhältnis. Doch, weil die Bischöfe, was wir später im Anschluss an Erik Peterson noch näher erklären werden, nicht Nachfolge-Apostel sind, sondern Nachfolger der Apostel, trat schließlich eine Diskontinuität ein, die für die weitere Kontinuität des Traditionsprozesses sogar konstitutiv war: der Wechsel von apostolischer zu bischöflicher Weitergabe des Offenbarungsgutes Jesu Christi in seiner apostolischen Gestalt.

Gleichwohl geschieht im kontinuierlichen Prozess bischöflich-kirchlich vermittelter Weitergabe ein Fortschritt. Nicht nur im Gang durch die Geschichte, die neben dem sakramentalen Leben der Kirche auch gerade dadurch Heilsgeschichte bleibt, sondern vor allem deshalb, weil im Glaubensleben der Kirche diese Offenbarungsgabe in ihrer Gestalt mit und bei der Weitergabe durchaus immer noch besser und klarer erkannt wird und sich diese Gestalt in der gleichsam intersubjektiven Betrachtungsweise der Kirche dabei in dem Sinne sogar noch weiter entfaltet, dass nicht ausschließlich schon bisher Bekanntes schärfer gesehen, sondern auch bislang keimhaft Verborgenes überhaupt erst entdeckt und „wahr"-genommen wird. Die Offenbarungsfülle wird immer weiter ausgeschöpft, ohne sich dabei zu verringern, verbraucht zu werden oder zu erschöpfen.

So vollzieht sich in der Gemeinschaft der Kirche der nämliche Vorgang, der auch für das Glaubensleben des einzelnen Christen wünschenswert ist und durchaus der Regelfall sein sollte: wachsende Einsicht in den Glauben und seinen Zusammenhang, gereifter Glaubensakt, reife Glaubensgewissheit.

Dieses Eindringen in die Offenbarungswirklichkeit zielt aber gerade nicht auf ihre Mikroskopierung, sondern auf Ganzheitsschau des Glaubens. Ganz so, wie man ein Gemälde auch nicht immer besser sehen kann, desto näher man ihm tritt und bis man schließlich mit der Nasenspitze auf die Leinwand stößt, sondern nur dadurch, dass man die optimale Distanz und Beleuchtung wählt, um das Bild betrachten zu können, wobei immer wieder vermeintlich neue Details der Bildkomposition ins Auge fallen und sogar helfen können, den besonderen Reiz, das Geheimnis der Schönheit und Gesamtwirkung des Werkes zu entschlüsseln Dazu müssen sich solche Details nicht einmal unbedingt in den Vordergrund drängen, sondern häufig nur in ihrer gezielten Zurückhaltung für das Ganze der Bildkomposition und in ihrer Akzentsetzung erkannt werden.

Die Analyse von Leinwandsegment, Oberflächenstruktur und .Farbpigment ist demgegenüber freilich bisweilen die Aufgabe eines Restaurators, Zugang zum Kunstwerk und dem, was es darstellt, verschafft sie indes nicht.

Wenn wir das Offenbarungsgut und seine apostolische Traditionsgestalt mit einem Gemälde verglichen haben, dann ist es schließlich naheliegend, die Vielgestaltigkeit an geistlichen und auch kulturellen Traditionen, die in der Kirche, beispielsweise in verschiedenen Ritenfamilien oder Spiritualitäten, harmonisch ko-existieren, jeweils mit einem Rahmen zu vergleichen. Es kann verschiedene, passende Rahmen für das Gemälde geben, ein jeder gibt dem Gemälde einen eigenen Ausdruck und Charakter, stets aber ist es ein- und dasselbe Gemälde, das zur Wirkung kommt.

Für das, was wir bis hierher dargelegt haben, bilden insbesondere John Henry Kardinal Newmans Zustimmungslehre und sein ausführliches Essay über die Entwicklung der Glaubenslehre den gedanklichen Horizont und bleibend aktuellen Bezugspunkt. Beide Werke wurden von Matthias Laros 1961 beziehungsweise 1969 als die Bände 7 und 8 in der deutschen Newmanausgabe herausgegeben und sind im Mainzer Matthias-Grünewald-Verlag erschienen..

2. Vom Konziliar-Obligaten

Wenn Erzbischof Gerhard Ludwig Müller gegenüber der Priesterbruderschaft St. Pius X. auf der „Verbindlichkeit" des II. Vatikanischen Konzils besteht, was er erst jüngst in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung (21. Juli 2012, S. 2) nochmals getan hat, ist ihm darin nicht zu widersprechen.

Allerdings ist die eigene Verbindlichkeit des 21. Ökumenischen Konzils herauszustellen, für welche sich dieses Konzil selbst entschieden hat, indem es freiwillig darauf verzichten wollte, die Unfehlbarkeit feierlicher Lehrverkündigung für sich in Anspruch zu nehmen und entgegengesetzte Lehrirrtümer autoritativ zu verurteilen.

Das Obligatorische des II. Vaticanums und seiner Aussagen kann aber nicht etwa schon umfassend richtig charakterisiert werden, wenn man seine Verbindlichkeit exklusiv formal auffasst. Diese formale Seite ist – gerade in ihrer Neuartigkeit – ein wichtiger Aspekt und sogar innerhalb der Konzilstexte nochmals gestuft. Trotzdem ist auch dem Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück beizupflichten, wenn er in seinem gerade im Druck befindlichen Communio-Artikel unter dem Titel „Ein ‚reines Pastoralkonzil'?", Heft 4/2012, S. 441-457, feststellt, dass die einzelnen Konzilsaussagen ihre Bedeutung nicht allein vom isoliert formalen Rang der Dokumente, in denen sie enthalten sind, ableiten, sondern mehr noch und eigentlich entscheidend von der inhaltlich begründeten Autorität der Quellen, aus denen sie geschöpft werden: die Heilige Schrift, die Kirchenväter, die Scholastik, die Lehrentscheidungen der vorangegangenen Konzilien, schließlich die Verlautbarungen der Päpste mit dem wiederum gestuften Verbindlichkeitsanspruch der darin vorgetragenen Lehren.

Neben der formalen Hierarchie der Konzilstexte kommt folglich den Aussagen des II. Vaticanums inhaltlich jeweils zusätzlich zu ihrer formalen Verbindlichkeit und diese komplettierend, diejenige Autorität zu, die der Quelle entspricht, der die jeweilige Konzilsaussage entnommen oder aus der eine Formulierung des Konzils entwickelt worden ist (vgl. hier: S. 445; ich danke Prof. Tück, dass er mir seinen Aufsatz freundlicherweise bereits vorab zur Verfügung gestellt hat).

Freilich, konstruktive Kritik an den Konzilstexten sowie ihrer Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte und Umsetzung kann nur auf der Grundlage der grundsätzlichen Bejahung des II. Vaticanums als einem legitim einberufenen und durchgeführten Konzil der Gesamtkirche geübt werden. Sie kann wohl auch nur auf der Basis einer generellen Zustimmung zu den Aussagen des II. Vatikanischen Konzils gemäß seiner formalen und inhaltlichen Verbindlichkeit und deren Nuancierungen beruhen. Die Kritik muss konkret und gezielt sein; die Zustimmung darf nicht nur ausgesuchte Details umfassen.

3. Über Dogmatisch-Implikatives

In diesem Sinne ist es ferner zutreffend, wenn der neue Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre in dem schon erwähnten Interview mit der Süddeutschen Zeitung ausführt, die Lehren und Reformen des II. Vatikanischen Konzils, die die Priesterbruderschaft St. Pius X. problematisch sieht und kritisiert, hätten „dogmatische Implikationen", die nicht abgelehnt werden könnten, „ohne den katholischen Glauben zu beeinträchtigen."

Solche dogmatischen Implikationen ergeben sich eben aus den Quellen, auf die für diese Lehren zurückgegriffen wird, die Heilige Schrift, die Väter, die scholastische Theologie, das vorangegangene Lehramt früherer Konzilien und Päpste. Solche dogmatischen Implikationen können indes nicht einfach behauptet werden, sondern sind im einzelnen festzustellen und zu gewichten. Gerade für die konziliare Lehre über die Religionsfreiheit scheint es, dass Müller eine solche dogmatische Implikation als Argument gegen die Kritik der Priesterbruderschaft St. Pius X. nicht nachweisen kann, da es dem Konzil dabei nicht darum ging, eine Glaubenslehre vorzutragen, sondern es einen positiven Wert der neueren Geistesgeschichte in das Verhältnis der Kirche zur Welt aufnehmen wollte. Insofern die Kirchenväter mit den echten Werten der paganen Philosophie und Kultur nicht anders verfahren sind, was etwa Christian Gnilka in seiner Chrêsis schon 1991 überzeugend gezeigt hat, und die Aussagen des vorkonziliaren Lehramts die Verbindlichkeit der Konzilsaussagen zu diesem Thema nicht überragen, kann man mit diesem Hinweis auf die Kirchenväter die Vorgehensweise des Konzils sicher methodisch legitimieren, nicht aber den so integrierten Wert inhaltlich als dogmatisch oder gar als Bestandteil des Depositum Fidei ausweisen.

Was die aus der Erklärung zur Religionsfreiheit hervorgegangenen Reformen des Konzils und deren konkrete Anwendung betrifft, so kann die Kritik der Priesterbruderschaft St. Pius X. angesichts einer lange Zeit monopolistisch dominanten Hermeneutik der Diskontinuität, die der Heilige Vater Benedikt XVI. selbst als unzulässig zurückgewiesen hat, erst recht berechtigt sein.

In anderen Fällen, wo von der Piusbruderschaft kritisierte Texte des Konzils tatsächlich dogmatische Implikationen enthalten, müssten diese Implikationen anhand der Quellen dennoch nachgewiesen, konkret benannt und bewertet und müsste vor allen Dingen bewiesen werden, dass die theologische Kritik eine Zurückweisung dieser dogmatischen Implikationen ist oder beinhaltet und nicht vielmehr eine Kritik der, aus einer Bruchhermeneutik resultierenden, Schlussfolgerungen oder praktischen Umsetzungen darstellt.

Eine solche Kritik wäre ja eigentlich nur der Ruf nach einer Korrektur im Sinne der von Papst Benedikt selbst geforderten Hermeneutik der Reform, die vereinfacht auch als Hermeneutik der Kontinuität angeführt wird. Eine Vereinfachung, die zwar in der päpstlichen Ansprache vom 22. Dezember 2005 nicht ursprünglich vorkommt, in Anmerkung 6 des Nachsynodalen Apostolischen Schreiben Sacramentum Caritatis jedoch sogar vom Papst höchstpersönlich übernommen worden ist.

4. Dogmatisch-Marginales

Wenn Erzbischof Müller dogmatische Implikationen gegenüber der Priesterbruderschaft St. Pius X. (und hoffentlich genauso konsequent gegenüber Abweichungstendenzen nach links) derart streng auffasst, dass er meint, auf Texte des II. Vaticanums, die dogmatische Implikationen enthalten, könne sich einerseits keine Kritik richten, ohne dass diese die Unversehrtheit des katholischen Glaubens beeinträchtige, muss die Frage erlaubt sein, ob es andererseits möglich und statthaft ist, beispielsweise die biologisch-körperliche Komponente und Dimension der Jungfräulichkeit Mariens, wenn nicht zu leugnen, so doch so stark zu marginalisieren, wie Müller es als Theologieprofessor in seinem Lehrbuch der katholischen Dogmatik (vgl. S. 498) getan hat, ohne nicht minder den katholischen Glauben zu beeinträchtigen.

5. Apostolisch-episkopal Differentes

In der Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung des II. Vaticanums Dei Verbum lesen wir in Nr. 8: „Diese apostolische Überlieferung kennt in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes einen Fortschritt: es wächst das Verständnis der überlieferten Dinge und Worte durch das Nachsinnen und Studium der Gläubigen, die sie in ihrem Herzen erwägen (vgl. Lk 2,19.51), durch innere Einsicht, die aus geistlicher Erfahrung stammt, durch die Verkündigung derer, die mit der Nachfolge im Bischofsamt das sichere Charisma der Wahrheit empfangen haben; denn die Kirche strebt im Gang der Jahrhunderte ständig der Fülle der göttlichen Wahrheit entgegen, bis an ihr sich Gottes Worte erfüllen."

Der Beistand des Heiligen Geistes, also der pneumatische Beistand in Lehramt und Glaubenssinn der Kirche, wurde bereits in unserem ersten Beitrag zum Traditionsbegriff ausgewertet und auch in der Lehre des Konzils von Trient nachgewiesen. Dazu haben wir uns auf eine frühe Arbeit Joseph Ratzingers zum selben Gegenstand gestützt und müssen die Argumentation hier nicht abermals wiederholen.

Im vorliegenden Aufsatz, der der Vertiefung des ersten Beitrags zum Themenfeld der Tradition und der weiteren Absicherung der darin vorgetragenen Thesen dienen möchte, wurde eingangs bereits ein Vorgriff getan auf die Differenz, die zwischen Apostel- und Bischofsamt besteht. In seinem theologischen Traktat „Die Kirche" hat Erik Peterson diese Differenz exegetisch in ihrer vollen Bedeutung herausgestrichen.

Dieser wichtige Text ist in den Ausgewählten Schriften greifbar, die Barbara Nichtweiß seit den 1990iger Jahren im Würzburger Echter-Verlag herausgegeben hat. Der Text mit der bedeutsamen Passage, auf die wir uns hier beziehen, ist in Band 1, S. 93-104, vgl. hier besonders: S. 98-102, veröffentlicht, der 1994 erschienen ist.

Die Apostel waren die ersten Bischöfe. Jeder einzelne Apostel war Träger persönlicher Unfehlbarkeit. Die Offenbarung Jesu Christi wurde in der Kirche bis zum Tod des letzten Apostels inhaltlich vollständig ausgeprägt und gewann so eine verbindliche, apostolische Gestalt, die bis zum Tod des letzten Apostels endgültig ausgeformt war. Bis zu diesem Zeitpunkt war auch der Prozess der Weitergabe dieser apostolischen Offenbarungsgestalt selbst apostolisch. Die Apostolischen Väter besaßen als Apostelschüler daran noch eine gewisse persönliche Anbindung, doch mit dem vollständigen Übergang vom „Apostolat" zum „Episkopat", dessen Diskontinuität allerdings schon in der Anwendung des Aposteltitels auf Paulus spürbar wurde (vgl. ebd., S. 98), wurde das apostolische Glaubensgut der Offenbarung Jesu Christi nunmehr kirchlich-bischöflich weitertradiert.

Die Bischöfe sind nur unfehlbare Glaubenslehrer, wenn sie, untereinander und mit dem Papst verbunden, eine Lehre des Glaubens oder der Sitten konstant und einmütig vortragen. Der Unterschied zwischen Apostelamt und Bischofsamt ist der Grund, warum seit dem Tod des letzten Apostels das Offenbarungsgut Jesu Christi keinen inhaltlichen Zuwachs mehr erfahren kann.

Diese Differenz ist deshalb, als vielleicht erste eigentliche, legitime Diskontinuität in der Dogmengeschichte, konstitutiv für die weitere Kontinuität der kirchlich-bischöflichen Weitergabe des apostolischen Glaubensgutes. Das Lehramt der Kirche (und entsprechend ihr Glaubenssinn), ist aber in seiner Tätigkeit nicht mehr apostolisch, sondern pneumatisch-authentisch.

Die oben zitierte Stelle aus Dei Verbum 8 nennt drei verschiedene Formen, in denen die „apostolische Überlieferung" unter dem pneumatischen Beistand des Heiligen Geistes „in der Kirche einen Fortschritt" kenne. Die ersten beiden Formen sind völlig unbestritten und unproblematisch, sie entsprechen völlig dem, was wir weiter oben als den subjektiven und intersubjektiv-kirchlichen Fortschritt in der Glaubenserkenntnis gekennzeichnet haben.

Der dritte Modus des Fortschritts, den die apostolische Überlieferung laut DV 8 kennen soll, wirft ein Problem auf. In ihm wird der Fortschritt der „Verkündigung derer" zugeschrieben, „die mit der Nachfolge im Bischofsamt das sichere Charisma der Wahrheit empfangen haben; denn die Kirche strebt im Gang der Jahrhunderte ständig der Fülle der göttlichen Wahrheit entgegen, bis an ihr sich Gottes Worte erfüllen." Besonders in Verbindung mit der anschließenden Begründung ist die Aussage bedenklich, denn diese erweckt den Eindruck, die Fülle der göttlichen Wahrheit werde „im Gang der Jahrhunderte" von der Kirche nicht im Sinne ihrer wachsenden Erkenntnis angestrebt, sondern diese Fülle sei inhaltlich (!) noch gar nicht gegeben! Der Abschluss der Offenbarung Jesu Christi mit dem Tod des letzten Apostels entfällt gewissermaßen, weil offenbar die entscheidende Differenz und Diskontinuität zwischen Apostel- und Bischofsamt übersehen wird.

Das „sichere Charisma der Wahrheit", das mit der apostolischen Sukzession verbunden wird, wird offenbar bei Aposteln und Bischöfen identifiziert. Wenn dem so wäre, müsste man strenggenommen jedem Bischof die persönliche Unfehlbarkeit zuschreiben, wie sie die Apostel besaßen. Die Bischöfe wären nicht Nachfolger der Apostel, sondern Nachfolge-Apostel oder noch deutlicher: neue Apostel.

In unserem ersten Text zum Traditionsbegriff haben wir nachgewiesen, dass es bereits biblisch eindeutig klar ist, dass selbst der Heilige Geist keine neuen oder zusätzlichen Wahrheiten verkündet, die die Offenbarung Jesu Christi ergänzen müssten oder vervollständigen könnten, er bezeugt nur die Offenbarung Jesu Christi und hält sie in der Kirche gegenwärtig und insofern lebendig.

Gerade, weil das II. Vaticanum in DV 8 von der „Verkündigung (!, nicht etwa vom authentischen Zeugnis, Anm. Verf.) derer" spricht, „die mit der Nachfolge im Bischofsamt das sichere Charisma der Wahrheit" empfangen haben und vom Fortschritt der „apostolischen", nicht bloß der kirchlichen Überlieferung handelt, entsteht der Eindruck, dass diese apostolische Überlieferung zwar richtig mit der Offenbarung Jesu Christi identifiziert wird, diese Überlieferung aber nicht nur als Prozess der Weitergabe lebendig sein soll. Vielmehr erscheint die Offenbarung Jesu Christi bis zu einem eschatologischen Zielpunkt, nämlich „bis an ihr (der Kirche, Anm. Verf.) sich Gottes Worte erfüllen", nicht abgeschlossen, sondern apostolisch-lebendig zu sein.

Es soll nicht bestritten werden, dass die Bischöfe in ihrem Lehramt „ein sicheres Charisma der Wahrheit" besitzen, aber auch hier muss zwischen apostolisch und bischöflich unterschieden werden. Die Apostel besaßen ein „apostolisches" Charisma der sicheren Wahrheit, das mit der persönlichen Unfehlbarkeit verbunden war, die Bischöfe besitzen ein „episkopales" oder „authentisches" Charisma der sicheren Wahrheit, das gegebenenfalls bloß mit sozusagen körperschaftlicher, petrinisch geeinter, Unfehlbarkeit verbunden ist, welche zudem wiederum gegebenenfalls in der Person des Petrus und seiner Nachfolger personal gebündelt sein kann.

Wir müssen bedauerlicherweise zu dem Schluss kommen, dass die heute in der Kirche relativ allgemein verbreitete Vorstellung einer inhaltlich unabgeschlossenen Offenbarung, zu der auch heute noch und immerfort durch die Zeiten neue Inhalte hinzutreten können - die irrige Vorstellung einer inhaltlich (!) lebendigen, noch substantiell unvollständigen Offenbarung und Tradition - einen wesentlichen Ursprung im Vaticanum II selbst hat, nämlich in der sorglos-leichtferigen, unbedachten und auch nicht konsequent logisch zu Ende geführten Formulierung der Aussage in DV 8, die wir zitiert und analysiert haben. Da die nachträgliche Korrektur eines Konzilstextes kaum zu erwarten ist, müsste das päpstliche Lehramt dringend wenigstens eine verbindliche Interpretation der Stelle geben, die dem biblischen Zeugnis vom apostolischen Abschluss und der inhaltlichen Vollständigkeit der Offenbarung Jesu Christi, die selbst der Heilige Geist nur noch bezeugt, Nachdruck verleiht und den Unterschied zwischen apostolisch und bischöflich beziehungsweise apostolisch und authentisch klar herausarbeitet.

6. Zum Mantra der Kontinuität

Der Glaube, dass die Offenbarung Jesu Christi und somit die Tradition inhaltlich abgeschlossen ist, ist nicht, wie es das Motu proprio Ecclesia Dei afflicta vom 2. Juli 1988 in Nr. 4 nahelegt, wo es sich ausgerechnet auf die von uns zitierte Stelle in DV 8 beruft, Ausdruck eines defizitären Traditionsbegriffs, der „den lebendigen Charakter der Tradition nicht genug berücksichtigt", sondern Ausdruck eines präzisen Traditionsbegriffs, der die Lebendigkeit der Tradition mit ihren verschiedenen Ebenen korrekt und exakt erfasst. Die Tradition ist lebendig im Akt der Weitergabe und der pneumatisch vermittelten Repräsentation und Bezeugung der apostolisch ausgeformten Offenbarung Jesu Christi in der Kirche. Sie ist lebendig, indem die Kirche als Gemeinschaft und der einzelne Christgläubige in ihrer Erkenntnis Fortschritte macht und dabei auch keimhaft im Depositum verborgene Aspekte zunehmend erkennt und entfaltet. Sogar das Offenbarungsgut ist tatsächlich lebendig in dem Sinn, dass das Depositum Fidei keine Ansammlung toter Dinge, sondern sein Inhalt und innerer Zusammenhang eine lebensspendende Wirklichkeit ist, die die Gläubigen durch das Lehramt unterrichtet und im Glaubenssinn der Kirche pneumatisch begeistert und nährt. Doch dieser Inhalt ist ausdrücklich nicht lebendig in dem Sinne, dass er noch und unentwegt neue Bestandteile erst in sich aufnehmen müsste oder auch nur könnte. Nicht, weil dieser Inhalt statisch wäre, sondern weil die Offenbarung Jesu Christi in ihrer apostolisch ausgeformten Offenbarungsgestalt inhaltlich bereits ihre volle Reife und Vitalität erreicht hat. Mit dieser vollen Reife und Vitalität ist sie in der pneumatischen Bezeugung durch den Heiligen Geist in der Kirche, alle Zeiten hindurch und inhaltlich konstant, lebendig gegenwärtig.

Die Hermeneutik der Kontinuität könnte ohne eine apostolische Vollständigkeit des Offenbarungsgutes gar nicht funktionieren. Das gültige Kriterium, legitime und illegitime Diskontinuität zu unterscheiden, würde fehlen. Gottlob besitzt die Kirche dieses Kriterium. Die Legitimität jeder Diskontinuität kann, gerade dann, wenn sie nicht offensichtlich ist, nicht einfach gebetsmühlenartig behauptet werden, sondern ist argumentativ zu beweisen. Selbst eine legitime Diskontinuität ist niemals ein Deutungsschlüssel zum Ganzen von Glauben und Kirche, sondern erhält von Kontext und Kohärenz, in die sie organisch und insofern wieder lebendig eingebunden ist, erst ihre Deutung und ihren eigenen Sinn.

Das vorangehende Magisterium kann von dieser Diskontinuität aus nur beleuchtet und verständlicher gemacht werden, falls das frühere Lehramt den thematischen Bereich der fraglichen Diskontinuität nicht oder nicht mit höherer Autorität behandelt hat, als das II. Vatikanische Konzil oder das daran anschließende Lehramt.

Ohne jede Abfälligkeit oder ironischen Sarkasmus sollen diese Überlegungen von der Feststellung abgeschlossen werden, dass es das tragischste Schicksal der Hermeneutik der Reform wäre, wenn „Kontinuität" zum autoritär-positivistischen Mantra degenerieren würde, um damit jede Diskontinuität zu rechtfertigen und die Wahrheit von apostolischer Vollständigkeit und apostolischem Abschluss der Offenbarung Jesu Christi zu einem „lehrmäßigen Irrtum" zu verzerren; einen tatsächlich verzerrten Begriff des lebendigen Charakters der Tradition hingegen als „verbindlich" zu erklären.

 

Zusätzliche Informationen