Kontinuität - keine Sache der Jahreszahl
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- 15. Februar 2014
Der Artikel von Fr. Kocik, in dem er von dem Gedanken einer „Reform der Reform“ abrückt und eine Rückehr zum „status quo ante“ als Ausgangspunkt jeder zukünftigen Weiterentwicklung als einzigen Ausweg aus der Liturgiekrise fordert, findet vielfältige Resonanz und wirft schwerwiegende Fragen auf. Wie schwerwiegend und wie vielfältig mag man daran ersehen, daß die erste von bisher an die hundert Leserreaktionen auf seinen Artikel von keinem geringeren kam als von Erzbischof Thomas Gullickson, päpstlicher Nuntius für die Antillen. Er schrieb:
Herzlichen Dank, Hochwürden, ihr Artikel war das lange Warten wert, und gespannt erwarte ich ihre Gedanken zu dem Punkt, zu dem wir zurückkehren sollten und zu den Mitteln, die der höchste Gesetzgeber für die Wiederherstellung (der Liturgie) einsetzen könnte.“
Die nachfolgenden Leserzuschriften greifen denn auch vielfach diese Frage nach dem Ausgangspunkt künftiger Reformen bzw. Weiterentwicklungen des römischen Ritusauf, doch das erscheint angesichts des realen Standes der Dinge einigermaßen verfrüht. Wenn bisher schon jeder Gedanke an eine „Reform der Reform“ von der Zunft der Liturgitheoretiker, den Praktikern der liturgischen Verwilderung in den Gemeinden und den Erben der Bugnini-Reformation in der Kurie abgeblockt wurde, ist kaum zu erwarten, daß die Forderung nach einer Rückkehr zu einem Stand vor dem Missale Pauls VI. auf größere Gegenliebe stößt.
Außerdem übergeht die Frage nach dem Punkt der Rückkehr die mindestens ebenso wichtige Frage danach, was denn die wesentlichen Gründe für das immer offensichtlicher zu Tage tretende komplette Scheitern der Liturgiereform gewesen sind – und ohne diese Analyse läuft jede neue Reform Gefahr, wieder ein nicht lebensfähiges Kunstprodukt hervorzubringen, das wiederum Verwirrung und Spaltung in die Reihen der Gläubigen trägt.
Dabei hat Joseph Ratzinger schon 1996 einen Grundzug der verfehlten Reformen benannt, der immer deutlicher als der Hauptgrund des Scheiterns der Liturgiereform erkennbar wird:
Eine Gemeinschaft, die das, was ihr bisher das Heiligste und Höchste war, plötzlich als strikt verboten erklärt und das Verlangen danach geradezu als unanständig erscheinen läßt, stellt sich selbst in Frage. Denn was soll man ihr eigentlich noch glauben? Wird sie nicht morgen wieder verbieten, was sie heute vorschreibt? (Das Salz der Erde S. 188)“
Und dann noch präziser ein Jahr später :
Daß man (den Novus Ordo) als Neubau gegen die gewachsene Geschichte stellte, diese verbot und damit Liturgie nicht mehr als lebendiges Wachsen, sondern als Produkt von gelehrter Arbeit und von juristischer Kompetenz erscheinen ließ, das hat uns außerordentlich geschadet. Denn nun mußte der Eindruck entstehen, Liturgie werde "gemacht", sie sei nichts Vorgegebenes, sondern etwas in unseren Entscheiden Liegendes. (...)
Aber wo Liturgie nur selbstgemacht ist, da eben schenkt sie uns nicht mehr, was ihre eigentliche Gabe sein sollte: die Begegnung mit dem Mysterium, das nicht unser Produkt, sondern unser Ursprung und die Quelle unseres Lebens ist. (Aus meinem Leben S. 173,174)“
Man möge sich einmal im Gedankenexperiment vorstellen, daß nach dem II. Vatikanum neue liturgische Formen nicht als Ersatz, als Ablösung für eine künftig nicht mehr statthafte „überholte“ Liturgie eingeführt worden wären, sondern als deren (mehr oder weniger gelungene) „zeitgemäße“ Ergänzung, also etwa als „Gemeindemesse“, die als optionale Alternative zu den (im Prinzip) weiterbestehenden Formen des Pontifikalamtes, des Levitierten Hochamtes, des gesungenen Amtes und der stillen Messe möglich gemacht worden wäre. Schon die Aufzählung in dieser Liste zeigt, daß eine solche Erweiterung der Vielfalt dem römischen Ritus in seiner historischen Entwicklung nicht fremd gewesen wäre. Der römische Ritus war – wenn auch die tridentinischen Absicherungsmaßnahmen im Gefolge der Reformationswirren das manchmal so erscheinen lassen – nie starr und uniform.
Auf der anderen Seite hätte es eine solche Erweiterung nicht zugelassen, für die neue Form so tief in die formale Struktur und auch in die lehrmäßige Substanz der gewachsenen Liturgie einzugreifen, wie das die Reformer beabsichtigten und tatsächlich auch durchsetzten Sie wären gezwungen gewesen, entsprechend SC 23, alle Veränderungen „organisch aus bereits bestehenden Formen hervorgehen“ zu lassen, Kontinuität als Leitprinzip zu wahren und alle Neuerungen in Hinblick darauf zu rechtfertigen, daß „ein wirklicher und sicher zu erhoffender Nutzen der Kirche" diese verlange. Das rechtliche und praktische Weiterbestehen der mehr oder weniger unveränderten bisherigen liturgischen Formen und Formeln hätte den Gläubigen überdies die Möglichkeit zur „Abstimmung mit den Füßen“ gegeben und entweder zu einem allmählichen Rückgang der „Nachfrage“ nach bisherigen Formen geführt oder aber den Reformern frühzeitige Hinweise darauf geben können, daß ihre Annahmen von einer „zeitgemäßen Pastoral“ an den Bedürfnissen großer Teile der Gemeinden vorbeigingen.
Diese Überlegungen von einer Reform der Liturgie nicht durch Entwicklung von „Ersatz“ für Bisheriges, sondern als Angebot von Alternativen, entwickeln übrigens zusätzliche Brisanz, wenn man sie auf die vielfachen „Reformen“ in der Liturgie schon vor dem zweiten Vatikanum anwendet. Es ist durchaus zweifelhaft, ob ein Papst die Vollmacht besitzt, eine von einem Vorgänger „festgestellte“ (d.h. aus dem Leben der Kirche heraus entstandene und praktizierte) und feierlich proklamierte Form der Liturgie „abzuschaffen“ und ihren Gebrauch zu verbieten. Josef Ratzinger hat dazu sehr deutlich Stellung bezogen:
Nach dem II. Vatikanum entstand der Eindruck, der Papst könne eigentlich alles in Sachen Liturgie, vor allem wenn er im Auftrag eines ökumenischen Konzils handle. ... Tatsächlich hat aber das I. Vatikanum den Papst keinesfalls als absoluten Monarchen definiert, sondern ganz im Gegenteil als Garanten des Gehorsams gegenüber dem ergangenen Wort: Seine Vollmacht ist an die Überlieferung des Glaubens gebunden – das gilt gerade auch im Bereich der Liturgie. Sie wird nicht von Behörden „gemacht". Auch der Papst kann nur demütiger Diener ihrer rechten Entwicklung und ihrer bleibenden Integrität und Identität sein ... Die Vollmacht des Papstes ist nicht unbeschränkt; sie steht im Dienst der heiligen Überlieferung." (Der Geist der Liturgie, S. 142-143)
Die Entscheidung darüber, ob und inwieweit das Missale Pauls VI. die hier angedeuteten Grenzen einhält, steht uns nicht zu. Tatsache ist aber, das die liturgischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts bei zumindest einem Teil der Gläubigen die Vorstellung eines Bruches mit der Vergangenheit der Kirche hervorgerufen und zu schädlicher Verwirrung geführt haben. Verstärkt wurde dieser Effekt noch dadurch, daß fast die gesamte sogenannte Liturgiewissenschaft die Vorstellung eines tiefgehenden Bruches begeistert aufgegriffen und vertieft hat.
Mehr als jedes Einzelelement der Reformen hat jedoch der Umstand den Eindruck des Bruches vermittelt, daß die bis dahin gültige und hochgeschätzte Form der Liturgie faktisch verboten und praktisch unzugänglich gemacht worden ist. Jede Veränderung der gelebten Liturgie, die glaubt, zu ihrer „Durchsetzung“ auf diese Mittel angewiesen zu sein, setzt sich dem Verdacht aus, die Grenzen der Legitimität zu überschreiten und verstößt jedenfalls gegen die gebotene prudentia. Ein gutes Beispiel für die Wahrung dieser prudentia durch die höchste Autorität ist demgegenüber die nach Vorlage der neuen lateinischen Psalmenübersetzung 1945 getroffene Regelung: Ihre Verwendung für das Breviergebet wurde zwar empfohlen, aber nicht vorgeschrieben – wer wollte, konnte weiterhin bei den Formen der Vulgata bleiben.
Andererseits würde es freilich gegen die prudentia und auch gegen die Pflicht zu Folgsamkeit gegenüber dem Lehramt und der Gesetzgebung verstoßen, wenn Priester oder Gemeinden eigenwillig längst ausgestorbene liturgische Formen künstlich wiederbeleben wollten. Damit erhält die von Papst Benedikt vorgenommene Nennung das Jahres 1962 als Stichjahr ihre praktische Berechtigung.
Es besteht aber kein Grund, die Bedeutung des liturgischen Status quo dieses Jahres in irgendeiner Form zu überhöhen: Auch die Veränderungen z.B. der Karliturgien mit dem Jahr 1955 enthalten bereits Elemente, deren volle Übereinstimmung mit der Überlieferung angezweifelt werden kann. Und umgekehrt finden sich auch im Ordo von 1965, soweit sie nicht schon die änderungssüchtige Engherzigkeit oder den längst als verfehlt erwiesenen Archäologismus von 1970 vorwegnehmen, traditionskonforme Entwicklungsmomente. Eine Wiederherstellung der überlieferten Liturgie ist nicht mit der Rückkehr zu einer Jahreszahl allein, welcher auch immer, zu erreichen.