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Noch einmal: Oratio super Populum

Der Beitrag vom 19. über die Oratio Super Populum hat ungewöhnlich viele Zuschriften ausgelöst. Sie machen es erforderlich, noch einmal auf das Thema einzugehen. Zunächst zur Frage: Ist die OSP im Novus ordo abgeschafft? Für eine Antwort auf diese Frage muß man genau hinschauen. Wir wollen das hier ausführlicher angehen, als das beim ersten Aufschlag erfolgt ist, aber keinesfalls so ausführlich, wie es für eine volle wissenschaftliche Darstellung des Gegenstandes erforderlich wäre – wenn eine solche Darstellung denn überhaupt einen Sinn hätte.

Im eigentlichen Reformmissale von 1970 ist die OSP im Proprium der Fastentage gestrichen. Allerdings tauchen hinter dem Ordo Missae im Messbuch zwei neue Segenskategorien auf, und die zweite davon enthält unter der Überschrift „Orationes super Populum“ 26 solcher Orationen. Diese entsprechen in den hier angeschauten Fällen zwar den klassischen Bildungsgesetzen römischer Orationen, stimmen jedoch nicht mit denen der überlieferten Liturgie in der Fastenzeit überein, sondern stammen aus gallikanischer Tradition. Diese OSP sind nicht auch gar nicht an die Fastenzeit gebunden, sondern können nach dem Belieben der Offizianten zum Abschluß liturgischer Feiern (also nicht nur der Messe) angefügt werden. Sie werden ausdrücklich mit einem „Inclinate vos ad benedictionem“ (oder einer ähnlichen Aufforderung) eingeleitet, die gegebenenfalls auch von einem Diakon laut gesprochen wird. Diese Oration wird immer von einem priesterlichen Segen gefolgt.

Inwieweit diese neu eingeführten Kategorien in die Deutsche Version des ersten Messbuchs nach der Reform übernommen worden ist, wurde nicht überprüft.

Im Jahr 2002 wurde in Rom die Editio Typica Tertia des Reformmissales veröffentlicht, die in mehreren Punkten erkennbar um Betonung von Elementen der Kontinuität bemüht ist. Diese Ausgabe behält die Kategorie der Benedictiones Sollemnes bei und verändert und erweitert den Bestand der dort gebotenen OSP; der Anwendungsmodus bleibt unverändert. Gleichzeitig wird das Proprium der Tage der Fastenzeit um eine dezidierte OSP erweitert. Eine solche OSP wird auch für die Sonntage in der Fastenzeit vorgeschrieben, die keine eigentlichen Fastentage sind und an denen traditionell diese Oratio nicht gebetet wurde. Nach der Editio Typica Tertia ist sie dagegen nur an den Sonntagen obligatorisch, an den Werktagen ad libitum.

Die Editio Typica Tertia von 2002 ist von der Deutschen Bischofskonferenz bis 2018 nicht zur Grundlage einer deutschsprachigen Fassung gemacht worden – die darin enthaltenen Verweise auf Kontinuität sind anscheinen nicht erwünscht.

Für die offizielle Form des „Römischen Messbuchs“ in deutscher Sprache gilt daher weiterhin die Feststellung, daß die Oratio Super Populum der Fastenzeit nicht vorgesehen ist. Allerdings kann ein Priester, so er das wünscht, an diesen wie auch an beliebigen anderen Tagen die Messe mit Oration und Segen entsprechend der Kategorie der Orationes Sollemnes abschließen. Nur wenn er lateinisch nach der Editio Tertia zelebriert, kann er die dort für die Fastentage angebotenen Formen verwenden. Ob in deutschen Messen die Verwendung der dankenswerterweise hier gebotenen Übersetzung der OSP der Editio Typica Tertia zulässig ist, erscheint zweifelhaft.

Das Thema ist damit beileibe nicht ausgeschöpft. Auch die Frage, inwieweit in der überlieferten Form das „eadem voce“ des Ritus servandus eine Hervorhebung des Übergangs von der Postcommunio untersagt – und wie diese Sinnwidrigkeit überhaupt schon in die Trienter Fassung des Missale hinein gelangen konnte – soll hier nicht berührt werden.

Das Detail der „Oratio super populum“ in der Fastenzeit steht vielmehr als ein Beispiel für die Berechtigung der von Joseph Ratzinger schon 1997 bezüglich der Fabrikation des Novus Ordo getroffenen Aussage:

Man brach das alte Gebäude ab und baute ein anderes, freilich weitgehend aus dem Material des Bisherigen und auch unter Verwendung der alten Baupläne.

Das gilt schon dann, wenn man die jeweils aktuelle Editio Typica zu Grunde legt. Durch die in vielen Einzelzügen oft bemerkenswert von einander abweichenden nationalsprachlichen Fassungen, die wie im konkreten Fall sogar eine Aktualisierung der Editio Typica schlichtweg ignorieren, kommt eine weitere Ebene von Abbruch und „Neugestaltung“ hinzu. Eine dritte Ebene besteht darin, daß die gottesdienstliche Praxis durch viele Willkürlichkeiten die ursprüngliche Vorgabe nahezu unkenntlich werden läßt. Es handelt sich dabei vielfach nicht um individuelle Mißbräuche, sondern um bischöflich geduldete oder sogar geförderte Entstellungen der Liturgie. Das kommt vielleicht am dramatischsten darin zum Ausdruck, daß das neue Gotteslob die Feier der heiligen Messe nicht nur schwer auffindbar in die „Feier der Sakramente“ einordnet, sondern in ihrem Text den Römischen Kanon, der anderthalb Jahrtausende lang das Herzstück der Messfeier gebildet hat, schlichtweg unterschlägt und – entgegen den Vorgaben der Institutio Generalis, die diese Variante nur für Werktage vorsieht – ausschließlich das protestantisierende „Zweite Hochgebet“ anbietet.

Es führt heute kein Weg mehr daran, anzuerkennen, daß der Liturgiezertrümmerer Joseph Gelineau SJ in vielem richtig lag, als er 1978 triumphierend feststellte:

Wir müssen es klar sagen: Der Römische Ritus, wie wir ihn gekannt haben, existiert nicht mehr. Er ist weg. Einige Mauern des Gebäudes sind eingestürzt, andere wurden versetzt. Wir können darin eine Ruine sehen, oder auch Teile von Fundamenten für ein neues Bauwerk. (Joseph Gelineau, The Liturgy today and tomorrow, London 1978, S. 11)

Im Prinzip trifft das zu, allerdings haben sich Gelineau und die anderen Modernisierer in zweierlei Hinsicht geirrt: Der Römische Ritus hat zwar seine Verbindlichkeit verloren und wurde in eine Randexistenz abgedrängt – verschwunden ist er nicht und wird er auch nicht. Und an seine Stelle ist keine neue Ordnung getreten oder ein „Bauwerk“ , sondern ein amorphes Gebilde, zu dem man selbst auf so einfache Fragen wie die nach der Fortexistenz der OSP nur antworten kann: Das kommt darauf an.

Der leider inzwischen fast völlig aus dem Netz verschwundene englische Priester-Blogger ‚His Hermeneuticalness‘ Tim Finigan hat vor Jahren einmal die im englischen Messbuch enthaltenen Optionen und Auswahlmöglichkeiten durchgerechnet und kam zu dem Ergebnis, daß er auf viele Jahre hinaus und sicher für den Rest seines Lebens jeden Tag die Messe in einer anderen Variante lesen könne.

Das ist kein „Ritus“, mit dessen Formalien sich zu befassen eine sinnvolle Aufgabe darstellt. Daß die Neue Ordnung das angeblich mit ihrer Einführung verbundene Ziel, die Menschen des 20. Jahrhunderts wieder zur Liturgie zurückzuführen, spektakulär verfehlt hat, ist nach fünf Jahrzehnten unübersehbar. Daß die hl. Messe auch nach den Büchern des NO würdig und gültig gefeiert werden kann, ist nicht zu bestreiten. Ob und wieweit das praktisch der Fall ist, unterliegt nicht unserer Beurteilung.

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