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Geraubte Tradition II

Die Septuaginta des 3. und 2. vorchristlichen Jahrhunderts und die masoretische Bibel aus den Jahren 400 – 800 nach Christus bezeichnen, wie hier dargelegt, zwei auf eine gemeinsame Wurzel zurückgehende, aber in vielem eigenständige und in manchem widersprüchliche, ja sogar bewußt gegensätzlich formulierte Fassungen des alten Testaments: Eine der messianischen Erwartung des vorchristlichen weltoffenen Judentums griechischer Sprache entstammende und eine aus der enttäuschten Hoffnung des in sich verschlossenen Teils der Juden entstandene, die Jesus von Nazareth nicht als den Messians anerkannten und sogar mehr oder weniger militant ablehnten. Das ist der Grund dafür, daß Papst Benedikt in seiner Regensburger Rede feststellte:

Heute wissen wir, daß die in Alexandrien entstandene griechische Übersetzung des Alten Testaments – die Septuaginta – mehr als eine bloße (vielleicht sogar wenig positiv zu beurteilende) Übersetzung des hebräischen Textes, nämlich ein selbständiger Textzeuge und ein eigener wichtiger Schritt der Offenbarungsgeschichte ist, in dem sich diese Begegnung auf eine Weise realisiert hat, die für die Entstehung des Christentums und seine Verbreitung entscheidende Bedeutung gewann. 

Wer diesen Sachverhalt ignoriert, die Unterschiede zwischen beiden Texttraditionen nicht zur Kenntnis nimmt oder bestreitet und ausgerechnet das partiell antichrístlich gefärbte masoretische AT zur Grundlage seiner Wissenschaft macht, kann als katholischer Theologe nicht mehr ernst genommen werden.

Bevor etwas zu den Unterschieden zwischen der Septuaginta und dem hebräischen AT gesagt werden kann, ist anzumerken, daß nicht nur die hebräische Sammlung, sondern auch die griechischsprachige in den frühchristlichen Jahrhunderten in unterschiedlichen Redaktionen, Varianten und sogar Umfängen in Umlauf waren.

Die Kirchenväter sahen da zunächst keine prinzipiellen Unterschiede: Sie nutzten einigermaßen unbefangen das, was sie gerade zur Hand hatten. Schließlich hatten sie Lehrer, die Ihrerseits selbst die Schüler von Aposteln oder Apostelschülern gewesen waren – das verlieh ihnen Sicherheit. Die östlichen verwandten oft sowohl griechische wie hebräische Texten – diese standen ihnen ja in Versionen zur Verfügung, die noch nicht von den rabbinischen Anstrengungen beeinflusst waren, sich vom Christentum abzusetzen. Im Westen war die Situation in sofern anders, als es dort in größerem Umfang weder hebräische Manuskripte noch Gelehrte gab, die diese lesen konnten – hier konzentrierte man sich auf griechische Texte, und zwar überwiegend in der Fassung der Hexapla des Origines.

Die Textsituation wird nicht einfacher dadurch, daß auch die seit dem 2. Jahrhundert einsetzenden lateinischen Übersetzungen der Bücher des alten Testaments keinesfalls auf einer einheitlichen Grundlage beruhten und erst recht nicht nach einer einheitlichen Methodik erfolgten. Eine halbwegs einheitliche Grundlage für die Lateiner entstand erst mit den beiden Übersetzungen durch Hieronymus (+419), der Urform der Vulgata. Diese Übersetzung war allerdings von Anfang an nicht unumstritten. Einmal wegen ihres Umfangs im Großen Die Septuaginta enthält einige Bücher, die der hebräische Kanon seit dem 2. nachchristlichen Jahrhundert nicht mehr enthält. Und dann eben wegen der Lesarten, Varianten und Ergänzungen im Kleinen, wobei die Übersetzungen sich in der Regel an der Version orientierten, die dem christlichen Verständnis am meisten entsprach. Das wurde dadurch erleichtert, daß die genannte Hexapla eine 6-spaltige Synopse war, in der zwei hebräische Fassungen und neben der Septuaginta zwei weitere griechische Übersetzungen sowie eine von Origines daraus abgeleitete Synthese jeweils nebeneinander standen.

Tatsächlich kann man – stark vereinfacht - die Übersetzungen des Hieronymus als Zusammenstellung, begreifen, die sich grundsätzlich an der Septuaginta orientiert, aber „Lücken" oder „schwierige Stellen" nach dem Hebräischen ergänzt, ohne das in jedem Fall deutlich zu machen. Daraus entwickelte sich eine in 19 Briefen überlieferte Auseinandersetzung mit dem hl. Augustinus, der – bereits damals! - verlangte, alleine die Septuaginta als Grundlage zu nehmen: Nur sie galt ihm als inspiriert.

Außerdem empfand er – offenbar nicht grundlos - die Sorge, daß die Einführung neuer Texte in den Gemeinden Unruhe auslösen könnte. Er berichtet von einem Tumult in Oea (heute Tripolis), wo der Bischof letztlich zur alten Form zurückkehren mußte, weil ihm die Gläubigen sonst weggelaufen wären.

Der Konflikt wird seit der Reformation und seit dem Aufkommen des Modernismus auch innerhalb der katholischen Kirche vielfach als Auseinandersetzung zwischen kirchlicher Autorität – vertreten durch Augustinus – und wissenschaftlichem Denken -vertreten durch Hieronymus - beschrieben und zugunsten der vermeintlich sicheren Erkenntnisse der Wissenschaft aufgelöst. Erst die Neubewertung der Biblischen Studien im Gefolge der Qumran-Funde seit den 1980er Jahren haben hier ein Umdenken eingeleitet, wobei sich die Vertreter der „aufgeklärten Wissenschaft" aber nach wie vor keinesfalls geschlagen geben. Sie bestehen auf der Bezeichnung der hebräischen Bibel als „Urtext" und lehnen mit der dort vorgenommenen Reduzierung der messianischen und Leugnung der jesuanischen Perspektive die Grundlage des Christentums überhaupt ab. Darauf wird in einer weiteren Folge einzugehen sein.

In den Kirchen des Ostens bildet die Septuaginta in der Form, in der sie seit den Frühzeiten des Christentums überliefert ist, auch heute noch die einzig anerkannte Form der heiligen Schrift des alten Testaments. Im Westen hat die Septuaginta spätestens nach Herausbildung der Vulgata – dieser Prozess erfolgte auf der Grundlage der Hieronymus-Übersetzungen unter Einbeziehung älterer Übersetzungen und unter gelegentlichen Rückgriffen auf die Septuaginta in der Zeit nach Hieronymus bis etwa zum 8. Jahrhundert – ständig an Bedeutung verloren. Die hebräische Bibel spielte während des ganzen Mittelalters und bis in die Neuzeit hinein im Westen praktisch keine Rolle.

Trotz – oder vielleicht auch gerade wegen – ihres überaus verwickelten Entstehungsprozesses – gibt es zwischen Vulgata und Septuaginta wenig inhaltlich relevante Konfliktstellen. Wo solche auf philologischer Ebene auftraten, wurden sie zumeist durch Bezug auf die autoritative Interpretation durch die Kirchenväter und Kirchenlehrer aufgelöst. Das Konzil von Trient hat die Vulgata in seiner 4. Sitzung vom 18. April 1546 als authentische Form der Heiligen Schrift bestätigt. Das zweite Vatikanische Konzil hat den Auftrag zu einer Neuedition der Vulgata erteilt, der mit der Promulgation der Nova Vulgata 1979 als erfüllt gilt. Die meisten Veränderungen gegenüber der Vulgata betreffen philologische Details, viele davon sind weiterhin umstritten. Diese Nova Vulgata spielt weder in der Wissenschaft – die nach wie vor mit der Vulgata arbeitet – noch in der gottesdienstlichen Praxis, in der Latein weithin unüblich geworden ist, eine wahrnehmbare Rolle. Tatsächlich gehen lateinische Bibellzitate, die in der überlieferten Form der Liturgie sehr zahlreich vorkommen, vielfach auf Übersetzungen aus dem Bereich der Vetus Latina zurück, sindalso noch älter als die Vulgata.

Alles in allem: Der Konflikt zwischen den Modernisten und traditionstreuen Katholiken ist kein Konflikt zwischen Griechen und Lateinern. Er findet statt zwischen denen, die die ganze Tradition anerkennen, und denen, die ihre sektiererischen Tendenzen damit verhüllen wollen, daß sie einen angeblichen „hebräischen Urtext" ins Spiel bringen. In der Liturgie hat dieser Konflikt seinen sinnfälligen Ausdruck darin gefunden, daß die traditionellen Offertoriumsgebete, im Laufe des Mittelalters im Geist der Tradition in vielfältigen Variationen entstanden, von den Antiquaristen durch Formeln ersetzt wurden, die sich an jüdischen Tischgebeten (berakot) aus der nachchristlichen Antike orientieren. 


Bild der Tora-Rolle: Marien Wischnewski, Fotolia.

 

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