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Der Untergang der Rubrizistik

Titelblatt einer Ausgabe von 1646 - eigene AufnahmeDer Artikel von Peter Kwasniewski (hier unser Bericht), der deutliche Kritik an der liturgischen Gestaltung des Pontifikalamtes in Chartres geübt hat und zur strikten Beachtung der geltenden Rubriken aufruft, hat auf New Liturgical Movement eine lebhafte und größtenteils zustimmende Diskussion ausgelöst. Dabei warf ein Teilnehmer die Frage auf: Wie kann denn eine organische Entwicklung stattfinde, wenn keinerlei Abweichung von den geltenden Rubriken zulässig ist?

Diese Frage muß ernst genommen werden, und zwar unabhängig vom konkreten Anlaß. Die Rubrizistik hatte zwar nicht immer einen so hohen und teilweise wohl auch überhöhten Stellenwert wie im 18. und 19. Jahrhundert – aber „Rubriken“ - sei es in roter Farbe ins Missale geschrieben oder vom zuständigen Ordinarius für seinen Bereicherlassene verbindliche Vorgaben – gab es seit den frühesten uns faßbaren Zeiten. Wie kann unter diesen Umständen überhaupt auf legitime Weise eine „organische Entwicklung“ stattfinden, von der wir ja definitv wissen, daß sie stattgefunden hat?

Erstes Kriterium ist zweifellos die Frage, ob Abweichungen vom jeweiligen „Status quo“ geeignet sind, den Glauben an die überlieferte und unveränderliche Lehre zu stärken oder zu schwächen. In den Jahrhunderten vor und verstärkt nach der Reformation gab es zahlreiche Abweichungen, die – ob beabsichtigt oder nicht – eine Schwächung des überlieferten Glaubens zum Ausdruck brachten und beförderten. Die autoritative Kodifizierung des römischen Ritus nach dem Konzil von Trient und die Bulle Quo Primum (Wortlaut) von Pius V. ist Ausdruck der Tatsache, daß die Kirche – vielleicht verspätet – dieses Problem erkannte und energische Maßnahmen einleitete, um die Rechtgläubigkeit auch im Ritus zu erhalten.

Doch selbst in dieser zugespitzten Situation sah der Papst keine Notwendigkeit, auf strikter Uniformität des Ritus zu bestehen und damit das in der Vergangenheit vielfältig fruchtbare Prinzip der „organischen Entwicklung“ zu delegitimieren: Was eine über zwei Jahrhunderte zurückreichende Tradition vorweisen konnte – und damit auf eine Zeit zurückging, deren Orthodoxie als gegeben angesehen wurde – durfte weiter praktiziert werden. Daß es dennoch vielerorts verschwand, hat der Liturgie eher äußerliche kirchen- oder allgemeinpolitische Ursachen.

Der Schlüsselbegriff hierbei ist die von Pius V. in Quo Primum gar nicht explizit gemachte, da als selbstverständlich betrachtete, Voraussetzung: Eine liturgische Praxis aus einer Zeit, in der der Klerus und die weltliche Obrigkeit, selbst wo sie untereinander und miteinander im Streit lagen, in der Rechtgläubigkeit übereinstimmten, werde auch in sich rechtgläubig sein. Perfekte Einhaltung von geschriebenen, angeordneten oder auch nur überlieferten Vorgaben war unter dieser Voraussetzung kein dringliches Thema. Es sei denn, die in dieser Sache oft überaus empfindlichen Gläubigen gewannen den Eindruck, ein Zelebrant weiche in ungebührlicher Weise von dem „was schon immer so gehalten“ wurde, ab. Dann konnte es durchaus zum Aufruhr an geweihter Stätte kommen. So war die Rechtgläubigkeit der Liturgie selbst in Zeiten eines auf dem Lande oft ungebildeten Klerus rundum abgestützt. Wo aber eine ja seit Arius‘ Zeiten nie gänzlich übewundene Ketzerei am Werk war, äußerte die sich nicht in liturgischen Subtilitäten, sondern in umfassenden, das ganze kirchliche und teilweise auch weltliche Leben transformierenden Gegenentwürfen.

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Die Unterscheidung von „organischer Entwicklung“ und „die Lehre gefährdendem Mißbrauch“ war unter diesen Voraussetzungen kein großes Problem. Was nicht offensichtlich heterodox war, hatte Zugang zu einem weiten "Markt der Möglichkeiten" in Sachen Liturgie. Was hilfreich war und nachgeahmt wurde, setzte sich durch - anderes verschwand wieder.

Diese Voraussetzungen sind durch die Reformation erschüttert worden und mit der inzwischen eingetretenen umfassenden Säkularisierung in Gesellschaft und Kirche praktisch verschwunden. Besonderes Gewicht kommt dabei der Säkularisierung innerhalb der Kirche und dem Glaubensverlust in der Masse der Gläubigen zu. Drastisch sichtbar wird das in der Liturgiereform der 50er und 60er Jahre, die alle bis dahin gültigen Maßstäbe für eine „organische Entwicklung“ der Liturgie über Bord warf. Auch den, „aus pastoraler Rücksichtnahme“ das Traditionsbewußtsein der Gläubigen zu achten – was umso leichter fiel, weil anders als in der Vergangenheit viele Gottesdienstteilnehmer eben dieses Traditionsbewußtsein als Ausdruck einer überwindungsbedürftigen Vormoderne verachteten. Und so konnte es dahin kommen, daß die neue Liturgie mit den als „nicht mehr zeitgemäß“ angesehen überlieferten Formen wesentliche Stützen der Rechtgläubigkeit verwarf. Die krassesten Beispiele sind der weitgehende Verzicht auf Kniebeugen und das Knien allgemein und die Abkehr von einer Sprache – der gesprochenen ebenso wie der Körpersprache – die vom Ausdruck der Ehrerbietung bestimmt war. Niemand traute sich mehr zu singen: „Hier liegt vor Deiner Majestät im Staub die Christenschar...“.

Die an die Stelle höchster Ehrerbetung gerückte „Formlosigkeit“ gab – gewollt oder nicht – den Säkularisierungstendenzen mächtigen Auftrieb. Wenn heute der Glaube an die Realpräsenz weitgehend geschwunden ist, kommt das eben nicht nur daher, daß dieser Glaube dem rationalistischen Denken der Moderne beträchtliche Anstrengungen abverlangt, sondern auch daher, daß der reformierte Ritus die dahinter stehenden Wahrheiten in keiner Weise adäquat ausdückt und „verkörpert“. Diese Veränderungen in der Form des Ritus haben sich allerdings nur begrenzt in der Form von Mißbräuchen, von Verstößen gegen geltende liturgische Vorschriften ereignet – wie später etwa die Handkommunion oder der Einsatz von Messdienerinnen - sondern sie wurden mit voller kirchlicher Autorität durchgesetzt.

Umgekehrt heißt das: Die Priester und Gemeinden, die nach 1970 die Übernahme der Reform Pauls VI. verweigerten, handelten explizit gegen die geltenden Vorschriften. Ohne ihre Widerständigkeit wäre der überlieferte Ritus vermutlich innerhalb historisch kurzer Zeit untergegangen – wie es der feste Wille des Papstes war. Das verhindert zu haben, bleibt das große Verdienst der Priester und Laien, die sich der Liturgiereform verweigerten. Doch damit sind unübersehbar auch negativen Nebenwirkungen eingetreten, der Glaube an die Verbindlichkeit gesamtkirchlicher Vorgaben ist gründlich erschüttert.

Wo früher strenge Rubrizistik regierte, hat sich nun zumindest der Tendenz nach rundum eine Do- it-yourself-Mentalität durchgesetzt. Auf der einen Seite mit der von oben verfügten Umformung der Liturgie in eine von vielfältigen Optionen und Ermessensentscheidungen liberalisierte Formlosigkeit, die selbst die so äußerst weit gezogenen Grenzen nicht mehr anzuerkennen vermag. Letztlich ganz ähnlich auf der anderen Seite. Die Erfahrung, der überlieferten Lehre und Liturgie nur dadurch treu bleiben zu können, daß man sie unter offener Mißachtung offizieller Vorgaben quasi „in die eigenen Hände“ nahm, führte dazu, solchen Vorgaben prinzipiell mit Argwohn zu begegnen und sie gewohnheitsmäßig zu mißachten. – auch und im Widerspruch zu dem theoretisch durchaus vorhandenen Wissen, daß die Liturgie etwas ist, das nicht gemacht, sondern empfangen wird.

Ein Versuch, diesen Widerspruch mehr auszuhalten als aufzulösen, besteht darin, sich auf die strikte Beachtung der von der kirchlichen Autorität nach langen Kämpfen schließlich zugestandenen Verwendung der „Bücher nach dem Stand von 1962“ zu verpflichten. In einem oder mehreren weiteren Beiträgen wird zu überlegen sein, wie weit diese Verpflichtung trägt oder wo sie sie die auch heute bestehende Notwendigkeit zu einer „organischen Entwicklung“ unmöglich macht.

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