Was sind eigentlich Rituskirchen?
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- 29. Oktober 2022
Seit einigen Jahren – genauer seit 2017 – taucht in unseren Beiträgen zur Situation der Gläubigen, die der überlieferten Lehre und Liturgie anhängen, gelegentlich der Begriff von der „Rituskirche“ auf. Meistens als Ausdruck des Wunsches oder der Erwartung, die Entstehung einer solchen Rituskirche könne dem Weiterbestehen des „vorkonziliaren“ Katholizismus eine Form bieten, ohne die Einheit mit dem Bischof von Rom grundsätzlich aufzukündigen. Diese Vorstellung wirft zahlreiche Fragen auf – einige davon sollen hier angesprochen werden.
Zunächst zum Begriff selbst: Im Mai 2016 hat Papst Rranziskus in seinem Motu Proprio De Concordia inter Codices angeordnet, die bis dahin als „Rituskirchen“ (Ecclesia ritualis) bezeichneten Institutionen als „Ecclesia sui iuris“ zu bezeichnen und das Kirchenrecht in mehreren Canones entsprechend zu ändern. Als Hauptgrund wird angegeben, daß diese Kirchen sich nicht nur im „Ritus“, sondern auch in einigen Normen hinsichtlich der Zugehörigkeit (Taufe, Übertritte, Eheschließung usw.) unterscheiden und daher in einer immer mobileren Welt sichere „Schnittstellen“ zwischen den Rechtssystemen geschaffen werden sollen. Dem ist in keiner Weise zu widersprechen. Trotzdem bleiben wir beim alten Begriff der „Rituskirche“, weil der leichter verständlich ist, während die rechtlichen Schnittstellen eher die Juristen interessieren.
In der Hauptsache sind die Rituskirchen eine Begleiterscheinung des großen Ost-West-Schismas, das seit dem frühen Mittelalter die römische Kirche des Westens von den ursprünglich byzantinischen Patriarchaten des Ostens trennt. Überall, wo die beiden Machtbereiche zusammenstießen, kam es zu meistens politisch bedingten oder erzwungenen Übertritten von Teilen der nach Byzanz orientierten „Ostkirchen“ in die Westkirche unter der Jurisdiktion des Papstes, wo diese Teile dann den Status von „unierten“ Ostkirchen erhielten. Anderswo (etwa bei den Kopten oder den Syro-Malabaren) schlossen sich Teile von dort seit Jahrhunderten bestehenden eigenständigen Kirchen im Zuge von „Entdeckung“ und Globalisierung dem Primat des Papstes an, während sie ihre eigene Liturgie und ihre eigen Rechtsvorschriften ganz oder größtenteils beibehielten. Augenfälligster Rechtsunterschied: In den meisten Ostkirchen können verheiratete Männer zu Priestern geweiht werden, denen dann aber der Aufstieg zum Bischofsamt als Vollform des Priestertums verwehrt bleibt. Ein Teilzölibat, wenn man so will.
In einigen Weltgegenden – besonders nennenswert ist hier der Raum zwischen Baltikum und schwarzem Meer – ergaben sich komplizierten Situationen, so daß sich etwa in Galizien oft byzantinisch/russisch-orthodoxe, westlich-katholische und (mit Rom unierte) östlich katholische Diözesen mit byzantinischem Ritus überlagerten. Halbwegs praktikabel wurde diese Situation dadurch, daß die Kirchenzugehörigkeit in der Regel ethnisch bestimmt war: In Lemberg etwa waren die deutschen und polnischen Einwohner katholisch, die ukrainisch-russischen größtenteils byzantinisch-orthodox, teilweise aber auch „uniert“ katholisch. Armenier gab es auch noch, und so hatte Lemberg Ende des 19. Jh. drei Kathedralen mit drei Erzbischöfen: Einen römisch-katholischen, einen griechischen und einen armenischen. Juden – in Lemberg immerhin fast 30% – und in weiter südlichen Regionen auch Moslems rundeten den Mix ab. So war es jahrhundertelang, bis die Revolution der Bolschewiken und der Krieg der Nationalsozialisten diese Welt zum Einsturz brachten.
Das war also multikulti im vollen Sinne des Wortes, und es war manchmal idyllisch, meistens aber sehr kompliziert und führte auch immer wieder zu bösen Auseinandersetzungen. Innerhalb der katholischen Kirche Ost-Mittel-Europas schuf diese Situation ein Bewußtsein dafür, daß Bistümer nicht wie im Westen wie (moderne) Staaten ausschließlich nebeneinander, sondern auch überschneidend und übereinander liegen konnten. Eine Vorstellung, die dem lateinischen Westeuropa völlig fremd und schwer zugänglich ist – weswegen jeder Gedanke an unterschiedliche katholische „Rituskirchen“ hier auch auf größte Widerstände stößt. Was zu bedenken ist, wenn man sich der Vorstellung einer Rituskirche nähern will.
In der Einwanderungsgesellschaft der USA sieht das dagegen deutlich anders aus. Ein beträchtlicher Teil der Bewohner kommt aus Ost-Mittel-Europa, und in einigen großen Bevölkerungszentren geht es zu wie vor hundert Jahren in Lemberg. Da überschneiden und überlagern sich allein drei oder mehr katholische, also in Einheit mit Rom stehende, Diözesen: die römisch-katholische ist üblicherweise die größte, aber zusätzlich gibt es dann auch noch eine griechisch-katholische, eine armenische, eine syrisch-malabarische und vielleicht auch noch eine koptische. Von den Ostkirchen gibt es dann meistens auch noch die nicht in Einheit mit Rom stehende Ursprungsversion – schnell hat man ein halbes Dutzend für ein- und denselbsen Ort zuständige Bischöfe zusammen. Anfänglich war auch in den USA die ethnische Herkunft bestimmend für die jeweilige Zugehörigkeit. Doch die Bindungskraft dieses Kriteriums beginnt nachzulassen, es kommt zu Übertritten. Meistens geht ein solcher Übertritt von römisch-katholisch zu einer Rituskirche, und dabei wird oft die liturgische und theologische Verwahrlosung der Herkunftsgemeinde als Grund angegeben. In den meisten amerikanischen Diözesen sind solche Übertritte mit mäßigem bürokratischen Aufwand möglich. In beiderseitigem Einverständnis wird dabei darauf geachtet, daß (mehrmaliger) Übertritt nicht zur Umgehung der römischen Regelungen für den Zölibat der Priester führt.
Keine Rituskirchen im eigentlichen Sinne sind die 2009 von Papst Benedikt gegen erheblichen Widerstand errichteten Personalordinariate für ehemalige Anglikaner, die nicht nur ein eigenes Kirchenrecht, sondern ein theoretisch allerdings auf dem Novus Ordo basierendes breites Liturgie-Spektrum haben. Die Ordinariate (neben dem nordamerikanischen gibt es noch eines für Großbritannien und eines für Australien und Pazifica) können sich zwar nicht Diözese nennen (wie die entsprechenden Einheiten bei unierten Byzantinern oder Melkiten), funktionieren aber doch sehr ähnlich. Sie haben einen „Ordinarius“ mit bischofsähnlicher Lehr- und Leitungsvollmacht, und wo – wie z.B. in Nordamerika – ein unverheirateter Priester zum Ordinarius ernannt worden ist, wurde ihm auch die Bischofsweihe erteilt. Das Verhältnis zwischen Ordinariat und seinen Angehörigen bzw. dem „römischen“ Ortsbischof schwankt je nach beteiligtem Personal zwischen konstruktiv-kooperativ und feindselig. Die Zukunft der Ordinariate erscheint nach einer 2019 erfolgten Klärung der Zugangsvoraussetzungen () einigermaßen gesichert.
Tatsächlich kommt die Organisationsstruktur der Ordinariate wohl dem, was die Anhänger der überlieferten Lehre und der Liturgie des hl. Gregor als „Rituskirche“ erhoffen können, am nächsten.
Ein weiteres denkbares Vorbild wäre die altrituelle „Apostolische Administratur“ des hl. Johannes Maria Vianney in Brasilien, die 2002 gegründet worden war, um die faktische Spaltung des Bistums Campos in „vorkonziliare“ und „nachkonziliare“ Gläubige und Kleriker zu überwinden. Ihr Gebiet ist deckungsgleich mit dem Bistum Campos, das somit zwei getrennte Jurisdiktionen für unterschiedliche Gruppen von Gläubigen umfasst. Diese „Administratur“, die von Bischof Rifan geleitet wird, ist die bislang einzige voll der Tradition verpflichtete Gliederung in voller Einheit mit dem römischen Stuhl, die einen eigenen Bischof hat. Administrator Rifan verwaltet seinen Amtsbereich selbständig, aber im Geist der Kooperation mit dem Ortsbischof der Diözese Campos, die Administratur umfasst derzeit 13 Pfarreien mit 122 Seelsorgstellen, ihr gehören 37 Priester und 33 Ordensfrauen an; sie hat ein eigenes Priesterseminar.
Als Muster für künftige Entwicklungen ist Campos kaum geeignet. Ein ähnlicher Ablauf anderswo wäre wohl nur dann möglich, wenn es tatsächlich zur Spaltung einer Diözese nach Priestern und Gläubigen in zwei Lager vergleichbarer Größe käme. Das ist derzeit wohl nirgendwo absehbar, zumal Bischofskonferenzen und die römische Zentrale eher dazu bereit zu sein scheinen, traditionsorientierte Gruppen ganz aus der Kirche herauszudrängen, als irgendeine Form von „friedlicher Koexistenz“ zu suchen.
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In einem weiteren Beitrag wollen wir der Frage nachgehen, inwieweit das Stichwort „Rituskirche“ vielleicht dennoch eine realistische Perspektive aufzeigt und ob diese Perspektive überhaupt wünschenswert wäre.