„Heile, was verwundet ist,
Wärme, was erkaltet ist“
Zur Situation der Katholischen Kirchenmusik im Lichte des Motu Proprio Summorum Pontificum
von Dr. Gabriel M. Steinschulte
19. 10. 2008
Der Advent dieses Motu Proprios Summorum Pontificum war außergewöhnlich lang. Insider und solche, die sich dafür halten, sprechen von großen Widerständen und Einwänden aus der Kurie in Rom sowie aus der Hierarchie allgemein. In seinem ungewöhnlichen Begleitbrief - ein Indiz für die schwierige Geburt dieser päpstlichen Weisung - schreibt der Papst wie jemand, der vor der eigentlichen Veröffentlichung des neuen Dokuments bewußt zunächst mal alle kritischen Kommentare abwartet und dann zusammenfassend die Antwort vorwegnimmt: „Es gibt sehr unterschiedliche Reaktionen, die von freudiger Aufnahme bis zu harter Opposition reichen und die sich auf ein Vorhaben beziehen, dessen Inhalt in Wirklichkeit nicht bekannt war“ 1), und bis zur Stunde nicht oder kaum verstanden zu sein scheint. Jedenfalls drängt sich dieser Eindruck auf, wenn man den Text des Dokumentes selbst sowie den begleitenden Brief aufmerksam und unvoreingenommen analysiert.
Offenbar waren mit dieser höchstamtlichen Weisung zu viele Erwartungen einerseits und Befürchtungen andererseits verbunden. Von „Befreiung“ oder „Wiederzulassung des Alten Ritus“ kann jedenfalls bei genauer Betrachtung nicht wirklich die Rede sein2).
Hier melden wir einen nicht nur taktisch bedingten Widerspruch an, den wir weiter unten im Zusammenhang mit der Interpretation von Artikel 3 des Motu Proprio auch begründen wollen. Wir sind mit den meisten Kirchenrechtlern außerhalb der deutschen Ordinariokratie der Ansicht, daß das Motu Proprio den alten Ritus tatsächlich „befreit“ hat, indem es Priestern gestattet, diesen Ritus auch für die Gläubigen zu feiern und den Gläubigen weitgehende Rechte gibt, die Einrichtung entsprechender Gottesdienste zu verlangen.
Sinn und Zweck des Motu Proprio
Nach eigenem Bekunden will der Papst lediglich das Motu Proprio Ecclesia Dei seines Vorgängers aus dem Jahr 1988 fortschreiben, in dem erstmals nach dem II. Vatikanischen Konzil offizielle Strukturen für gelegentliche und auf wenige Gruppen bezogene Zelebrationsgenehmigungen für den sogenannten Alten Ritus geschaffen wurden, wohl gemerkt, erst nachdem die Verhandlungen mit der von Erzbischof Lefebvre gegründeten Priesterbruderschaft St. Pius X. gescheitert waren und Lefebvre sich veranlaßt sah, ohne Zustimmung Roms vier Weihbischöfe zu konsekrieren3).
Für den Text von 1988 ist es nicht gerade ein Kompliment, wenn Papst Benedikt nun schreibt, daß erst jetzt „ein Bedarf nach klarer rechtlicher Regelung entstanden“ sei, „der beim Motu Proprio von 1988 noch nicht sichtbar gewesen war“, denn inzwischen habe sich gezeigt, daß nicht nur die ältere Generation, sondern auch „junge Menschen diese liturgische Form entdecken, sich von ihr angezogen fühlen und hier eine ihnen besonders gemäße Form der Begegnung mit dem Mysterium der heiligen Eucharistie finden“.4) Diese erstaunliche Offenheit zeigt, daß der Hl. Stuhl offenbar weniger agiert, als eher nur reagiert.
Die Anzahl der Jugendlichen, die der Außerordentlichen Form des römischen Ritus nahestehen, ist im Vergleich zu den immer weniger wirklich gläubigen Jugendlichen aus der Nähe der Ordentlichen Ritusform allerdings zunehmend bemerkenswert. Der Priester- und Ordensnachwuchs in den Kreisen der Tradition wird im mitteleuropäischen Vergleich wahrscheinlich schon bald die Zahl der wirklich gläubigen Neupriester in den entsprechenden Diözesen erreichen, und dies trotz aller Behinderungen und wirtschaftlichen Nachteile. Es spricht daher der katastrophale Glaubensabfall im „normalen“ (ehemaligen) Kirchenvolk bei mindestens gleichzeitiger Konstanz der Traditionsgruppen dafür, daß auch dieses neue Motu Proprio aus historischer Retrospektive aller Voraussicht nach wiederum nur eine weitere Etappe auf dem Rückzug zur unverzichtbaren Kontinuität darstellt.
Die vergangenen Jahrzehnte zeigen darüber hinaus, daß gerade die generelle Verweigerung und Intransigenz großer Teile des Episkopats in dieser Frage bei gleichzeitiger Duldung abenteuerlicher Verirrungen gewissermaßen den Kesseldruck erhöht und Zentren der Tradition als Widerstand gegen die liturgischen Mißstände erst entstehen und erstarken lassen. Wer den unverkürzten katholischen Glauben sucht, wie der Stellvertreter Christi nicht müde wird, ihn zu verkünden, findet nämlich zunehmend nur noch in diesen Zentren eine adäquate Form zum gebotenen Inhalt.
Das kann man nicht oft genug betonen: Unwürdige Liturgie ist fast immer Folge schwachen Glaubens und verkürzter Lehre – und viele Gläubige, die weite Fahrten auf sich nehmen, um eine Sonntagsmesse in der alten Liturgie zu besuchen, tun das nicht etwa deshalb, weil sie an der Gültigkeit einer Messe ohne Manipel zweifelten, sondern deshalb, weil die Sonntagspredigt in ihrer Heimatgemeinde den Glauben nur zensuriert wiedergibt oder ihm sogar in wichtigen Punkten widerspricht.
Summorum Pontificum ist im Wesentlichen lediglich eine Regelung für Ausnahmen jenseits derjenigen bisher schon genehmigten Gemeinschaften, die einen de facto fast ausschließlichen dauerhaften Gebrauch des überlieferten Ritus in seiner bis jetzt letzten Form von Johannes XXIII. praktizieren, wie sie auch noch während des II. Vatikanischen Konzils gültig und Usus war. So heißt es nämlich im päpstlichen Begleitbrief: „Schwierig blieb dagegen die Frage der Verwendung des Missale von 1962 außerhalb dieser Gruppierungen, wofür genaue rechtliche Formen fehlten“5), also für die gesamte katholische Kirche im Allgemeinen!
Ja, und genau für diese „Kirche im Allgemeinen“ hat das Motu Proprio eine grundsätzlich verbesserte Rechtstellung gebracht – selbst wenn in der Praxis viele Ordinariate versuchen, das zu konterkarieren, indem sie sich jetzt mit 20-jähriger Verspätung dazu bequemen, in etwa nach den Vorgaben von Ecclesia Dei zu verfahren. Doch während nach dem Dokument von 1988 den Bischöfen tatsächlich eine entscheidende Rolle zugedacht war, hat Papst Benedikt diese jetzt auf die Ebene der Pfarrer und der Gemeinden verlagert.
Sicherlich entspringt das Motu Proprio auch der Sorge des Papstes um die Einheit im Glauben, die sich auch in dogmatisch kompatiblen liturgischen Gebräuchen widerspiegeln muß. Ebenso darf man es als Geste der Versöhnung gegenüber denjenigen Gläubigen verstehen, die infolge ihres Widerstands gegen die allgemein herrschenden liturgischen Mißstände seit Jahrzehnten durch kirchliche Obere zur Ghettobildung genötigt werden, wodurch zur Zeit keine wirkliche Vertrauensbasis mehr besteht.
Wichtiger aber dürfte dem Papst die Versöhnung mit der Liturgiegeschichte, der Lex orandi, sein, wenn er schreibt: „In der Liturgiegeschichte gibt es Wachstum und Fortschritt, aber keinen Bruch“. Gemeint ist wohl: Es darf keinen Bruch geben, wenn die Lex orandi auch die Lex credendi bestimmt und umgekehrt. Zentrales päpstliches Anliegen ist also die Kontinuität im Glauben und der von ihm getragenen Liturgie, die eine organische Entwicklung kennt, nicht aber einen fundamentalen Bruch, wie er nach dem II. Vatikanum mit einer für Jedermann erkennbaren Fälschung des Konzilswillens von gewissen Gremien der gesamten Kirche peu à peu aufgezwungen worden ist. Wer ob dieser Feststellung erschrickt, mag die heutige liturgische Realität einmal mit den Bestimmungen des II. Vatikanum zur Liturgie und Musica Sacra vergleichen.
Darüber hinaus weiß Benedikt XVI. auch zu gut, daß ohne liturgische Kontinuität ein ökumenischer Dialog mit den Ostkirchen völlig aussichtslos ist. So hat die von oben befohlene Demontage der uralten lateinischen Liturgie die Ostkirchen in ihrer Sorge nur bestärkt, daß die - aus ihrer Sicht - römische „Kommandokirche“ sich ohnehin zu viele Kompetenzen anmaßt und auch nicht vor der Zerstörung ältester Traditionen zurückschreckt.
Dennoch muß nicht nur jeder Kirchenmusiker ohne spezielle kanonistische Bildung erstaunt sein, im päpstlichen Begleitbrief zu lesen, „daß dieses Missale (von 1962) nie rechtlich abrogiert wurde und insofern im Prinzip immer zugelassen blieb“. Auch wenn dies rechtlich sicherlich zutreffend ist, sind wir aber nicht alle Zeugen davon, wie fast alle Bischöfe ihr Verbot des überlieferten Ritus mit allen Mitteln, Drangsalierungen, Ächtungen und mitunter sogar höchsten Kirchenstrafen für zuwiderhandelnde Priester durchgesetzt haben? Wieviel Leid und gebrochene Priesterherzen, wieviel Bilderstürmerei, wieviel aufgelöste Chöre, wieviel für immer verlorene musikalische Volkskultur und wieviele Millionen Euro kirchlicher Gelder für Umbauten der Altarräume wurden mit dem Verlust der liturgischen Heimat von Millionen Katholiken auf der Walstatt der postkonziliaren Reform zurückgelassen? Und in welcher Form hat der Hl. Stuhl diesem Treiben tatkräftig Einhalt geboten, wenn das Missale von 1962 „im Prinzip immer zugelassen“ war? Warum bedarf es dann immer noch besonderer bischöflicher Genehmigungen für einen regelmäßigen Usus (vgl. Art. 3), der auch heute noch von vielen Bischöfen bekanntermaßen so sehr behindert wird?
Immer noch Spießrutenlaufen für die Außerordentliche Ritusform
Wer das Motu Proprio Summorum Pontificum vom 7. Juli 2007 als generelle Wiederzulassung des Alten Ritus mißversteht, der nun offiziell „Außerordentliche Form des römischen Ritus“ heißt, sollte sich auf einen kleinen Spaziergang durch den Text einlassen:
In Art. 3 heißt es: „Wenn eine einzelne Gemeinschaft oder ein ganzes Institut bzw. eine ganze Gesellschaft solche Feiern oft, auf Dauer oder ständig begehen will, ist es Sache der höheren Oberen, … zu entscheiden“. Aber welche Gruppe will denn nur gelegentlich den Ritus in seiner außerordentlichen Form mitfeiern? Also bleibt alles beim Alten, der Bischof hat das Recht der Nicht-Genehmigung bzw. Behinderung, wovon ja ausgiebig Gebrauch gemacht wird6).
Hier lesen wir das Motu Proprio anders. Die „Gemeinschaften“, „Institute“ oder „Gesellschaften“, von denen Artikel 3 handelt, sind u. E. nicht gleichzusetzen mit den „Gruppen“ von Gläubigen, von denen in Art. 5 die Rede ist. Art. 3 betrifft nur kanonische Rechtskörperschaften, die bisher die reguläre Form des römischen Ritus verwenden und die nun ständig zum Gebrauch der älteren Form überwechseln wollen. Sie benötigen dafür die Zustimmung des zuständigen „höheren Oberen“. Und das auch nur dann, wenn sie die Kommunitätsmesse ständig nach dem alten Ritus feiern wollen. Die Einzelmessen der Priester bleiben von dieser Regelung ebenso unberührt wie gelegentliche Konventsmessen. Diese Regelung erscheint im Sinne des Zusammenhalts der Körperschaft nicht unbillig.
Der Kölner Erzbischof, der auch gleichzeitig in der Deutschen Bischofskonferenz für Liturgie zuständig ist, als besonders Romtreu gilt und gerne von seinen Priestern und Gläubigen Gehorsam und Gefolgschaft einfordert, nutzt offenbar diesen Passus zu eigenmächtiger Restriktion der päpstlichen Weisung und läßt von seinem „Priesterrat im Erzbistum Köln“ im Mai 2008 erklären7):
„Die Initiative ‚Pro Sancta Ecclesia’ ermutigt in einem Schreiben Gläubige dazu, Anträge an ihren Pfarrer zu richten, um Angebote von Meßfeiern in außerordentlichem Ritus zu ermöglichen. Der Erzbischof macht darauf aufmerksam, daß solche Anträge nur über den Bischof gestellt werden können und er sich diesem Thema bereits angenommen hat. An den nachfolgend benannten Orten werden Meßfeiern im außerordentlichen Ritus angeboten: Alt St. Nikolaus, Bonn; St. Dionysius, Düsseldorf; Maria Hilf, Köln, St. Antonius, Wuppertal. Diese Orte bleiben in der Anzahl begrenzt, eine Ausweitung des Angebotes ist nicht vorgesehen. Gläubige, die den Wunsch haben, eine Meßfeier im außerordentlichen Ritus zu besuchen, können auf diese Orte verwiesen werden.“
Hintergrund sind offenbar die „Leitlinien für die deutschen Diözesen“ vom 27. September 2007, denen zufolge eine regelmäßige Praxis in der außerordentlichen Ritusform zuvor vom Diözesanbischof genehmigt werden muß8).
Diese Leitlinien sind rechtlich ohne Belang, da sie nicht offiziell als „Ausführungsbestimmungen“ verkündet worden sind. Aber selbst offiziell verkündete Ausführungsbestimmungen können nichts verbieten, was das Gesetz erlaubt. Soweit die Theorie. In der Praxis haben natürlich, wie wir das an vielen Beispielen gesehen haben, die Ordinariate zahlreiche Möglichkeiten, auch gegen das Kirchenrecht gerichtete Auffassungen durchzusetzen, Motto: „Legal – illegal – ganz egal“
In Art. 4 heißt es: „Zu den Feiern der heiligen Messe, von denen oben in Art. 2 gehandelt wurde (die ohne Volk gefeiert werden, Anmerkung des Verfassers), können entsprechend dem Recht auch Christgläubige zugelassen werden, die aus eigenem Antrieb darum bitten“. Daß man dies betonen muß, also die Erlaubnis zur Teilnahme an einer sogenannten Stillen Heiligen Messe, das muß einem den Atem verschlagen, wenn man nicht weiß, daß es tatsächlich derlei Verbote offenbar z.B. in Frankreich in der jüngeren Vergangenheit gegeben hat. Dennoch staunt man über solch einen Satz in einem päpstlichen Motu Proprio. Wo sind wir eigentlich hingekommen? Und wohl gemerkt: diese offenbar merkwürdigen Christgläubigen müssen aus eigenem Antrieb darum bitten, d.h. man darf sie nicht zu solchen Heiligen Messen einladen. Es stellt sich nach dieser doch wohl nicht unbedachten Formulierung sogar die Frage, ob man überhaupt über diese offenbar gefährlichen „Privatveranstaltungen“ informieren darf. Dabei sind gerade die Modernisten immer wieder gegen die sogenannten Privatmessen ins Feld gezogen, die es aus theologischer Sicht ohnehin nicht gibt.
Nicht nur in Frankreich sind da bis in die jüngste Vergangenheit die übelsten Dinge vorgekommen. Aber wir würden die Formulierung „aus eigenem Antrieb“ nicht so restriktiv verstehen wollen. Sie besagt u. E., daß ein Pfarrer nicht berechtigt ist, eine bisher in der regulären Form gefeierte öffentliche Messe von sich aus und womöglich sogar gegen den Willen der teilnehmenden Gläubigen in der außerordentlichen Form zu feiern. Er kann aber ohne weiteres die Gläubigen darauf aufmerksam machen, daß er neuerdings eine Messe in der älteren Form anbietet. Und es steht ihm auch frei – wir haben aus Deutschland und anderen Ländern auch schon entsprechende Beispiele mitgeteilt – bei seinen Gemeindemitgliedern durch entsprechende Katechese das Verlangen nach einer regelmäßigen Messe in der alten Form zu wecken.
Nur „in Pfarreien, wo eine Gruppe von Gläubigen, die der früheren Liturgie anhängen, dauerhaft existiert, hat der Pfarrer deren Bitten, die heilige Messe nach dem im Jahr 1962 herausgegebenen Meßbuch zu feiern, bereitwillig aufzunehmen“, heißt es in Art. 5 §1. Aber wo existiert denn noch nach 40 Jahren Unterdrückung eine Gruppe in einer Pfarrei dauerhaft, die heute solche Anträge formulieren kann? Die Überlebenden dieses Marsches durch die liturgische Wüste haben sich mit ihrem in der Regel relativ treuen und durchaus zahlreichen Nachwuchs doch längst den verschiedenen Gruppierungen und Klöstern zugesellt, die an der Tradition festhalten, während viele andere an der Kirche verzweifelt sind und in einer geistigen Emigration fern der Kirche zerstreut leben.
Die Zustandsbeschreibung teilen wir voll und ganz - nicht jedoch alle Schlussfolgerungen bezüglich der Anforderungen an die "dauerhaft existierende Gruppe". Wir halten uns da lieber an die Interpretation von S. E. Kardinal Castrillón Hoyos, der im Mai erklärt hat:
„Das ist eine Sache des gesunden Menschenverstandes: Warum soll das ein Problem sein, wenn die Menschen, die nach dem alten Ritus verlangen, aus einer anderen Pfarrei kommen? Wenn sie sich treffen und eine Messe erbitten, dann werden sie zu einer „stabilen Gruppe“ - auch wenn sie sich vorher nicht gekannt haben. Auch die Frage der Zahl ist eine Sache des guten Willens. Insbesondere auf dem Lande kommen werktags auch nur drei oder vier Leute zur hl. Messe nach dem ordentlichen Ritus, ebenso ist es in einigen Ordenshäusern. Warum könnte es pastoral notwendig sein, ihnen eine alte Messe zu verweigern, wenn die gleichen drei Leute danach verlangen?“
Eine sybillinische Rüge des Papstes für manche Freunde der Außerordentlichen Ritusform verbirgt sich offenbar hinter der Bemerkung in seinem Begleitbrief: „Es ist wahr, daß es nicht an Übertreibungen und hin und wieder an gesellschaftlichen Aspekten fehlt, die in ungebührender Weise mit der Haltung jener Gläubigen in Zusammenhang stehen, die sich der alten lateinischen liturgischen Tradition verbunden wissen“. Unwillkürlich denkt man natürlich in diesem Zusammenhang auch an all jene „Übertreibungen“ und „gesellschaftlichen Aspekte, die in ungebührender Weise mit der Haltung jener … in Zusammenhang stehen, die sich“ nicht „der alten lateinischen Tradition verbunden wissen“, um es auch einmal sehr zurückhaltend zu formulieren. Da jedoch nicht ersichtlich ist, worauf Benedikt XVI. anspielt, läßt sich dieser Satz nicht recht einordnen. Und wenn der Papst an die Bischöfe gerichtet mit entwaffnender Liebenswürdigkeit fortfährt, „Eure Liebe und pastorale Klugheit wird Anreiz und Leitbild für eine Vervollkommnung sein“, bleibt abzuwarten, unter welchem Pileolus diese brennenden Kohlen vielleicht auf Dauer Wirkung zeigen.
Wir haben diese Äußerung des Papstes zu den „gesellschaftlichen Tendenzen“ dahingehend verstanden, daß er damit auf einige vor allem in Frankreich anzutreffende Bestrebungen abzielt, die Rückgewinnung der alten Liturgie und des überlieferten Glaubens zu eng mit integristischen Gesellschaftsbildern zu verbinden.
Den Gedanken eines fruchtbaren Nebeneinanders der – wie Benedikt XVI. sagt – zwei verschiedenen Formen des einen Ritus, drückt er in seinem Begleitbrief sehr zurückhaltend aus: „Im Übrigen können sich beide Formen des Ritus Romanus gegenseitig befruchten“; er spricht also von „können“, nicht von „sollen“.
Dann folgen als Verbesserungsideen für die Außerordentliche Ritusform eher Repertoirefragen, wie weitere Präfationen und neue Heiligen-Gedenktage. Wäre es nicht liturgisch vordringlicher, im Blick auf die eigentliche Form, nämlich die gesungene Liturgie, die bisweilen störenden Elemente der doch letztlich aus der Missa Cantata abgeleiteten Missa lecta zu beseitigen? Mit anderen Worten: wie lange darf die zumindest halblaute Hochgeschwindigkeitsrezitation von Gloria, Sanctus und Credo durch den Zelebranten - mit Absitzen der Restzeit ohne Rücksicht auf das gesungene Incarnatus est - den gleichzeitigen gregorianischen Gesang der feiernden Gemeinde noch stören, wobei der Zelebrans sogar als erster Sänger die großen liturgischen Gesänge intoniert hat? Auch der gesungene Introitus und der Psalm des Stufengebetes machen sich nicht nur akustische Konkurrenz. Hier liegen seit Jahrzehnten die notwendigen Weiterentwicklungen und Korrekturen der Außerordentlichen Ritusform in seiner aktuellen Form auf der Hand.
Im Prinzip sind solche Forderungen zweifellos berechtigt. Wir würden in der gegenwärtigen Situation jedoch lieber nicht an die schwierige Materie der Weiterentwicklung der außerordentlichen Form rühren sondern eher unserer Hoffnung Ausdruck geben, daß ein mindesten ein Jahrzehnt währendes Moratorium, in dem es keinerlei Änderungen an der bestehenden Form des Missales von 1962 gibt, dazu beiträgt, das Vertrauen aufzubauen und die Atmosphäre zu schaffen, in der dann solche Fragen produktiv diskutiert werden können. Im übrigen halten wir den Hinweis auf die gesungene als die eigentliche Form der Liturgie für äußerst wichtig - das wird auch von traditionsorientierter Seite oft vergessen
Im Hinblick auf die jetzt so genannte Ordentliche Ritusform konstatiert Benedikt XVI. erstaunlich nüchtern9): „In der Feier der Messe nach dem Missale Pauls VI. kann stärker, als bisher weithin der Fall ist, jene Sakralität erscheinen, die viele Menschen zum alten Usus hinzieht.“ Eigentlich kann man einem Ritus kein schöneres und wichtigeres Kompliment machen. Wenn man aber in der Außerordentlichen Ritusform ein solch bedeutsames Remedium zum adäquaten Ausdruck des Sacrum kennt und besitzt, warum dann diese Zurückhaltung?
Und wie verstehen wir die abschließende Versicherung im päpstlichen Begleitbrief, daß diese neuen Bestimmungen in keiner Weise die Autorität und Verantwortlichkeit der Bischöfe schmälern sollen, wenn es dann weiter unten heißt: „Sollten Probleme eintreten, … kann der Ordinarius immer eingreifen, jedoch in völliger Übereinstimmung mit den im Motu Proprio festgelegten neuen Bestimmungen“?
Bei Licht betrachtet, hat der Papst mit diesem seinem Motu Proprio gewissermaßen links überholt, indem er nicht von oben anordnet, sondern lediglich ein Bedürfnis im Kirchenvolk und sogenannten Niederen Klerus mit begrenzten neuen Möglichkeiten kanalisiert. Dazu paßt dann auch, daß er bis zur Stunde als Papst – soweit bekannt ist – zumindest öffentlich noch nicht einmal in der Außerordentlichen Form zelebriert hat. In einer Welt der Medien wären solche Bilder mehr als viele gute Worte.
Den Hinweis auf die Autorität der Bischöfe verstehen wir so, daß der Papst nicht in die Rechte der Bischöfe eingreifen will und kann, die ihnen tatsächlich zustehen - daß er sie, wenn auch in diplomatischen Worten, aber sehr wohl an die Grenzen erinnert, die ihren Rechten gezogen sind. Das ist zweifellos einer der Gründe für den Widerstand, auf den das Motu Proprio in vielen Diözesen getroffen ist und immer noch trifft.
Konsequenzen für die Kirchenmusik?
Da der große Schatz der Kirchenmusik, der von unermeßlichem Wert ist, wie das II. Vatikanum sich ausdrückt, aus der lebendigen Praxis der sogenannten Außerordentlichen Ritusform entstanden ist, liegt zunächst einmal die Vermutung nahe, durch das Motu Proprio werde dementsprechend auch die Pflege dieses Schatzes neue Impulse erhalten10).
Wie aber sieht die Realität aus? Die wesentlichste Neuheit dieser neuen päpstlichen Weisungen bezieht sich z.B. in Mitteleuropa angesichts der Ablehnungsfront der Bischöfe de facto auf die Feier der sogenannten Stillen Messe, für die vom zelebrierenden Priester keine bischöfliche Erlaubnis mehr eingeholt werden muß. Allenfalls dort, wo ein Bischof von Art. 10 Gebrauch macht, nämlich eine Personalpfarrei für die Feiern „nach der älteren Form des römischen Ritus zu errichten“, also auch normales Pfarrbudget und Planstellen bereitstellt, wie bei anderen Pfarreien, allenfalls dort bestünde die Chance, neue Orte der gesungenen Liturgie entstehen zu lassen.
Das können wir aus den Erfahrungen an mehreren neuen Messorten so nicht bestätigen. Wo mit Zustimmung und Unterstützung der Pfarrer neue Messen im alten Ritus gefeiert werden, und sei es auch nur gelegentlich, wird das zumindest von der Bildung oder Wiederbelebung einer Choralschola begleitet. Auch hier und im folgenden sollten wir nicht aus der Enttäuschung darüber, daß vieles langsamer vorangeht, als wir uns das wünschen, die Situation grauer darstellen, als sie tatsächlich ist.
Die finanziell arme Kirche in Frankreich hat in den großen Metropolen bereits damit begonnen. Auch in den USA und anderen außereuropäischen Regionen sind ermutigende Entwicklungen zu beobachten, weil dort bei manchen Bischöfen offenbar eine größere Bereitschaft besteht, Wort und Weisung des Papstes ernsthaft zu erwägen und danach zu handeln. Im deutschsprachigen Mitteleuropa kennt man diese pastorale Fairneß und elementare Höflichkeit gegenüber dem Petrus-Nachfolger nur in Ausnahmefällen; von Gehorsam zu sprechen, wäre wohl unzeitgemäß. Wo also soll die Zahl der im Außerordentlichen Ritus gesungenen Hochämter nennenswert zugenommen haben, wenn man sich vergegenwärtigt, in welch kleine oder gar ärmliche Verhältnisse die meisten heutigen Meßfeiern in der Außerordentlichen Form verbannt sind? Wie viel Orgeln und welche akustischen Verhältnisse gibt es denn in den Kapellen, Krypten, Randkirchen und Mehrzweckhallen, in denen heute der Alte Ritus sein Katakombendasein fristet?
Wenn man nun bedenkt, daß die sogenannte Stille Messe nur die kondensierte Notform der eigentlich und grundsätzlich immer gesungenen Liturgie darstellt, muß man nüchtern erkennen, daß sich dieses Motu Proprio im Wesentlichen und de facto nicht auf das gesungene Hochamt bezieht. Lediglich die „Messen ohne Volk“ sind der unmittelbaren Behinderung durch einen widerborstigen Episkopat entzogen. Dabei wird die Außerordentliche Ritusform erst in ihrer gesungenen Form verständlich; erst hier entfaltet sie ihre ganze eigentliche Schönheit. In psychologischer Hinsicht allerdings mag der Papst seine guten Gründe haben, zunächst mal in dieser eher homöopathischen Darreichung dieses ernste Thema wieder auf die bischöfliche Tagesordnung zu setzen.
Einige Bischöfe versuchen in der Tat, die Umsetzung des Motu Proprio dadurch zu behindern, daß sie nur stille Messen erlauben, die möglichst am Montag vormittag um 6 Uhr 30 in einer abgelegenen Friedhofkaplle stattfinden, gefeiert von einem über 80-jährigen Resignaten, für den sie keine Vertretung erlauben wollen. Wo so etwas versucht wird, handelt es sich jedoch um eine Verletzung der in Summorum Pontificum vorgegebenen Normen - dem Wortlaut und dem Willen des Gesetzes entspricht dies keinesfalls.
Von einer wirklichen Koexistenz der beiden Ritusformen, die sich erst dann auch wirklich befruchten könnten, kann erst dann gesprochen werden, wenn jeder Priester auch gegebenenfalls jedes Sonntagshochamt ohne bischöfliche Genehmigungspflicht nach eigenem Gewissen und nach eigener pastoraler Verantwortung auch in der Außerordentlichen Form feiern darf.
Wenn es sich wirklich nur um eine verschiedene Form desselben Ritus handelt, ist angesichts der kreativen Fülle von anderen Varianten jenseits der Ordentlichen Form eine bischöfliche Restriktion überhaupt nicht einzusehen, zumal diese alte Form bis ins Detail bekannt und historisch approbiert ist, - ganz im Gegensatz zu vielen der oben angedeuteten Varianten. Diese allgemeine Freistellung ist unabdingbare Voraussetzung für die nachhaltige Verwirklichung des weit über die Liturgie hinausgehenden Anliegens des Papstes.
In den meisten Fällen würden heute allerdings zumindest die erneut und vermehrt notwendigen Choralscholen fehlen, die an allen Sonn- und Feiertagen in der Lage wären, das Proprium im Gregorianischen Choral zu singen, zumal die heutige Workshop-Gregorianik mit Eventcharakter hier ihre ganze Unbrauchbarkeit zeigt. Musikalisches Talent und die Bereitschaft zum hörend singenden Lernen lassen sich ebenso wenig durch Weisungen und rechtliche Rahmenbedingungen ins Leben rufen wie die künstlerischen Begabungen zeitgenössischer Komponisten. Hier bedarf es schon des Anrufs durch den Heiligen Geist in jedem einzelnen Sänger, der sich von der göttlichen Liebe zum Sacrificium laudis, zum Opfer des Lobpreises, entzünden läßt, - Cantare Amantis est, singen ist Sache des Liebenden, nicht des Rechthabenden.
Zu einem großen neuen Impuls für den Schatz der Kirchenmusik gehört aber auch ein waches priesterliches Bewußtsein über liturgischen Rang und Bedeutung der Musica Sacra als pars integrans, also als Bestandteil und nicht Schmuck der Liturgie. Diese Erkenntnis des hl. Papstes Pius X., auf den sich auch das II. Vatikanische Konzil expressis verbis bezieht, scheint nicht nur bei den postkonziliaren Bilderstürmern, sondern auch bei vielen Anhängern der Tradition (und oft auch jüngerer Traditiönchen) mit ihrem ausgeprägten Hang zum liturgisch Unwichtigen und Zweitrangigen auf steinigen Boden gefallen zu sein.
Dabei liegt genau hier die besondere Chance, durch eine identische Musica Sacra, ein identisches Klanggewand, eine solch breite Brücke zwischen Ordentlicher und Außerordentlicher Form des Ritus zu schlagen, daß die zunächst wohl überraschende These Benedikts XVI. von dem einen Ritus in zwei Formen erst wirklich verständlich und einleuchtend wird.
Nur die wenigsten kirchentreuen Katholiken aus welchem Winkel auch immer dürften in der Lage sein, eine lateinisch gesungene Messe im Ordentlichen Ritus Pauls VI. ohne Versus-Populum-Altar und mit Kommunionbank bzw. Mundkommunion von einem Hochamt im Außerordentlichen Ritus zu unterscheiden. Mehr noch: Wäre der Novus Ordo bzw. die Ordentliche Form des römischen Ritus korrekt im Sinne des Konzils, also normalerweise in lateinischer Sprache und in traditioneller Zelebrationsrichtung, praktiziert worden, wäre die liturgische Ritusdiskussion höchstwahrscheinlich nicht über kleine Fachkreise hinausgegangen. Erinnern wir uns: In Art. 36 der Liturgiekonstitution des II. Vatikanums wird ausdrücklich die lateinische Sprache als Normalsprache des römischen Ritus festgelegt, die Landessprache beruht auf Sonderrecht: „Linguae latinae usus, salvo particulari iure, in Ritibus latinis servetur“. Ohne liturgische Demontage bis zur Peinlichkeit und Gotteslästerung (Stichwort: Karnevalsmessen!) hätte auch Erzbischof Lefebvre keinen auch nur annähernd vergleichbaren Zulauf erfahren.
Dem können wir nur zustimmen. Und wir sollten nicht aufhören, die vom Papst immer wieder geforderte traditionsorientierte Feier der hl. Messe auch nach dem Novus Ordo einzuklagen - das ist unser Beitrag zur Überwindung des Bruches, der von interessierter Seite zwischen „vor-“ und „nachkonziliar“ konstruiert – und dann auch sachlich/inhaltlich herbeigeführt – wird. Dazu wird es auch gehören, daß die traditionsorientierten Katholiken sich nicht länger durch die Behauptung, dieser oder jener Unfug sei vom 2. Vatikanischen Konzil beschlossen worden, in eine pauschale Ablehnung des Konzils treiben lassen, sondern sich so, wie es hier angeregt wird, intensiv mit den Dokumenten und Diskussionen des Konzils befassen und sie mit dem vergleichen, was dann später daraus gemacht worden ist. Es ist wahr: Einige Aussagen einiger Konzilsdokumente sind mißverständlich formuliert und können als Abkehr vom Traditionsgut gedeutet werden. Die ständigen Ermahnungen des Papstes, auch das 2. Vatikanum im Geiste der Kontinuität mit den 20 vorhergehenden Konzilen auszulegen, erlauben es, denen, die aus diesen Mißverständlichkeiten Kapital schlagen wollen, wirkungsvoll entgegenzutreten.
Aber wo wird der Ordo Pauls VI. heute noch in einer relativ konzilskonformen, d.h. traditionsorientierten Weise regelmäßig (also nicht gelegentlich oder alle paar Wochen mal) gefeiert? Man wird nur wenige Hände brauchen, um diese Orte aufzuzählen: St. Peter und S. Maria Maggiore in Rom, Heiligenkreuz bei Wien, St. Matthias-Krönungskirche in Budapest, Stella-Maris-Basilika in Maastricht, die Abteien St Pierre und Ste Cécile in Solesmes, die Abtei St Joseph im burgundischen Flavigny, das Prämonstratenser-Priorat in der ehemaligen toskanischen Abtei S. Antimo … und dann sucht man schon nach weiteren Adressen, vielleicht noch in der liturgischen Ruinenlandschaft der einstmals – dank der Ward-Bewegung – liturgisch-musikalisch vorbildlichen südlichen Niederlande.
Welche Reform hat das II. Vatikanische Konzil wirklich gewollt?
Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwiefern der Novus Ordo Papst Pauls. VI., der ob seiner Fülle von Ad-libitum-Möglichkeiten nicht ohne Grund auch als „Disordo“ bezeichnet wird, selbst in seiner korrekten Form überhaupt dem Willen der Konzilsväter entspricht. Die Liturgiekonstitution selbst paßt nämlich nicht zum Novus Ordo, wenn zum Beispiel das Konzil betont, daß der Gregorianische Choral in allen liturgischen Handlungen „den ersten Platz“ einnehmen soll, während in der Neuen Ordnung die spezifischen, auf die Lesungstexte abgestimmten gregorianischen Proprium-Gesänge, also Eigen-Gesänge, problemlos durch ein beliebiges Kirchenlied ausgetauscht werden können.
Der Gregorianische Choral ist ja nicht lediglich eine altehrwürdige Sammlung liturgisch brauchbarer Stücke, sondern das in einem inneren organischen Zusammmenhang stehende Gesamtrepertoire gesanglicher Maßanzüge für jeden Sonn- und Festtag, ja in den hohen Zeiten des Kirchenjahres - wie z.B. die Fastenzeit und die Festoktav - für jeden einzelnen Tag, - Klang gewordenes Festgeheimnis, das sich unmöglich auf dieselbe Stufe wie irgendein frommes Liedchen oder frisch fabriziertes Antiphönli stellen läßt, frei nach dem Motto: Hier ein Tönchen, dort ein Tönchen, fertig ist das Antiphönchen.
In welchem Maße die Konzilsväter eine behutsame und an der Tradition orientierte liturgische Weiterentwicklung im Auge hatten, ließe sich an den einzelnen (lateinischen) Wortmeldungen und Beiträgen erkennen, wenn diese denn in einer modernen Sprache übersetzt vorlägen. Es ist (sowohl für die Apologeten als auch für die Gegner des II. Vatikanums) höchst bezeichnend, daß diese umfangreichen Texte, quasi das Parlamentsprotokoll des Konzils, bis heute nur in lateinischer Sprache vorliegen und in wenigen Bibliotheken einzusehen sind. Umso mehr wäre es ein dringendes Gebot der Stunde und eine historische Tat im Dienst der Wahrheit und Versöhnung, diese wirklich authentischen Quellen endlich einer breiteren Öffentlichkeit in den modernen Sprachen zugänglich zu machen. Seltsam, daß ausgerechnet hier die Notwendigkeit einer allgemeinen sprachlichen Verständlichkeit bisher vergessen worden ist.
In diesem Zusammenhang ist auch daran zu erinner, daß die modernistisch orientierte „Schule von Bologno“ jahrzehntelang das Monopol auf die Auslegung des Konzils beanspruchte und erst seit neuester Zeit auf den Widerspruch von Historikern stößt, die sich nicht der „Hermeneutik des Bruchs“ verschrieben haben.
Überhaupt scheinen die Bestimmungen des Konzils in puncto Musica Sacra selbst hohen Würdenträgern in verantwortlichen Ämtern nicht präsent zu sein, denn sonst hätte es längst - flankierend zum Motu Proprio - eine generelle Ausbildungsinitiative im Hinblick auf den lateinischen Altargesang, Akklamationen, Intonationen, Lektionen und Orationen für alle Priester und Priesteramtskandidaten geben müssen, wie sie die Consociatio Internationalis Musicae Sacrae noch vor der Veröffentlichung von Summorum Pontificum gegenüber ihrer römischen Kongregation für den Göttlichen Kult angeregt hatte.
Offenbar wird nicht erkannt, daß diese Befähigung auch nach dem Novus Ordo zum elementaren Standard eines jeden katholischen Priesters des römischen Ritus gehören müßte. Wenn nämlich dieser - vom Konzil implizit geforderte Standard - generell eingehalten worden wäre, gäbe es jetzt erheblich weniger Zurückhaltung des Klerus gegenüber der außerordentlichen Form. Seien wir ehrlich, welcher ältere Herr in Amt und Würden möchte denn noch singen lernen, und dann auch noch in einer ihm weitgehend fremden Sprache? Tatsächlich aber wird der allgemeine Ist-Zustand mit dem Soll-Zustand verwechselt und die Sorge um die elementare (lateinisch-gregorianische) gesangliche Befähigung der Priester der päpstlichen Kommission Ecclesia Dei überlassen.
Keine Einheit in jeder Verschiedenheit
So haben wir heute in der Weltkirche des angeblich einen römischen Ritus nicht zwei, sondern de facto vier verschiedene Formen in chronologische Reihenfolge:
- Die sogenannte Außerordentliche Form, wie sie seit der Frühkirche über Gregor den Großen, Cluny und das Konzil von Trient bis zu Johannes XXIII. gewachsen ist;
- Die sogenannte Ordentliche Form Pauls VI. in der Orientierung an den Bestimmungen des II. Vatikanischen Konzils im Geist der Überlieferung;
- Die - wie Albert Richenhagen sagt, - „Unordentliche“ Form11), die weitgehend zur Regel geworden ist, ausschließlich in Landessprachen oder Dialekten, oft mit billigem Klampfen-Geklimper und kurzlebigen Gesangskonstrukten, Einbeziehung von Laien in Zivilkleidung im Chorraum, Mehrfachpredigten mit kommentierender Geschwätzigkeit des Zelebranten, Tonband-Kollagen (wie z.B. bei den alltäglichen Meß-Übertragungen von Radio Vatikan), freihändigen Ritusänderungen (wie z.B. „Gloria“ am Ende der Messe) etc. etc;
- Die Außerordentlich Unordentliche Form, in der Lesungen durch Zeitungsartikel oder den „Kleinen Prinzen“ ersetzt werden, zur Interkommunion eingeladen wird, bisweilen auch mit dem evangelischen Pfarrer gemeinsam zelebriert wird, der Kanon in nicht ap- probierten Privatversionen mit freien Spontanimprovisationen überrascht, Ringelpitz um den Altar, Laienpredigt oder Kreativeinlagen, wie z.B. Kardinal Meisner zur Eröffnung des Weltjugendtages in Köln als in Mondovision zelebrierender Metropolit sich bei der Opferungsprozession die u.a. „geopferte“ Karnevalsmütze auf den Kopf setzte, eine aparte Kombination zum erzbischöflichen Pallium, kurzum: eine oft durch Spontaneingebungen oder in „Ausschüssen“ nach dem geistig-geistlichen bzw. kulturellen Horizont der Beteiligten fabrizierte Ad-hoc-„Liturgie“ zwischen Kindergarten, Elternabend und Dorfzirkus.
Nun wird gerne behauptet, daß auch die Formen c) und d) schon allein durch ihre nicht nur geduldete, sondern offenbar von weiten Teilen der Hierarchie mitgetragene Jahrzehnte lange Existenz nach der Gleichung „Lex orandi - Lex credendi“ ihre eigene Legitimität als ekklesiologisch bedeutsame Wirklichkeit erworben hätten. Dies würde allerdings voraussetzen, daß die Teilnehmer aller vier verschiedenen Ritusformen einen identischen Glauben in völligem Einklang mit der dogmatischen Überlieferung der Gesamtkirche haben müßten. Kein ernstzunehmender und aufrichtiger Mensch wird dies guten Gewissens behaupten können. Hier jedoch liegt „des Pudels Kern“.
Zum Beleg unserer vollen Zustimmung in diesen Punkten verweisen wir hier nur auf den hier kürzlich veröffentlichten Beitrag zur Reform der Reform.
Natürlich wollen die unordentlichen Ritus-Varianten Ausdruck eines anderen Inhalts sein, sonst wäre die unfaire Behandlung und bisweilen sogar fanatische Ächtung von Form a) durch die große Mehrheit der Verfechter von c) und d) nicht verständlich, gerade in einem kirchlichen Zeitalter, das die Begriffe von Mitbrüderlichkeit und Toleranz so laut vor sich herträgt. Es ist daher vollkommen konsequent, wenn z.B. die Deutschen Bischöfe in einer Arbeitshilfe von 2005 hemmungslos und ehrlich erklären, daß sich die vorkonziliare Kirchenmusik und die Neue Liturgie letztlich nicht vertragen, ja sich ausschließen12). Nur mit dem Willen des II. Vatikanum hat das alles nichts mehr zu tun, was allerdings von diesen Autoren nicht als Manko empfunden werden dürfte, denn mit Berufung auf den ebenso richtigen wie falschen Grundsatz „Liturgia est semper reformanda“ wird das Konzil lediglich als nunmehr 40 Jahre zurückliegende Etappe auf dem abenteuerlichen Weg ins liturgische Nirwana angesehen.
Wenn man allerdings diese offensichtlichen Glaubensunterschiede ernst nimmt, versteht man auch den sorgenvollen Hinweis großer Teile der Hierarchie, daß der parallele Usus der Außerordentlichen Form in Diözese und Pfarreien Unruhe und Spaltung verursachen könnte. Logischerweise kann nur gemeint sein: … die Spaltung und damit verbundene Unruhe sichtbar machen würde! Denn nur wegen ein paar äußerlichen Varianten oder einer anderen Geschmacksrichtung wird es keine Unruhen geben. Tatsächlich hat man aber mit der neuen liturgischen Ordnung den Leuten erzählt, daß man viele Auffassungen und Glaubensinhalte von ehedem heute nicht mehr so sagen könne. Nur auf dem Hintergrund dieser von oben zumindest geduldeten Falschmünzerei könnte eine praktizierte Rehabilitierung des früheren Ritus zu unbequemen Fragen und Unruhe in den Gemeinden führen. Hier geht es nicht um Bildung, Gewohnheiten und Fragen des sogenannten Zeitgemäßen, sondern in Wahrheit um den Katholischen Glauben in seiner ungekürzten Fülle und unverwässerten Gesamtheit.
Eine in diesem Zusammenhang beinahe beschwichtigend wirkende Nebenbemerkung im päpstlichen Begleitbrief überrascht gleich in mehrfacher Hinsicht, wenn er wörtlich sagt: „Der Gebrauch des alten Missale setzt ein gewisses Maß an liturgischer Bildung und auch einen Zugang zur lateinischen Sprache voraus; das eine wie das andere ist nicht gerade häufig anzutreffen“13). - Setzt denn die Ordentliche Ritusform kein ähnliches Maß an liturgischer Bildung voraus? Handelt es sich denn nicht um die identische Substanz, um das identische Geschehen, für dessen Verständnis doch im Wesentlichen die Kenntnis der Ordentlichen Form ausreichen müßte? Und wer von den Gottesdienstbesuchern früherer Zeiten hat denn eine wirklich seriöse liturgische Detailkenntnis gehabt, z.B. Sinn und Geschichte des Manipel gekannt? Und wer vom Kirchenvolk hat denn seit der Zeit der Völkerwanderung jenseits einer gewissen Elite einen persönlichen Zugang zur lateinischen Sprache gehabt?
Natürlich muß die Wüste zunächst bewässert und das Erdreich aufgebrochen werden. Das gilt für jedes liturgische Brachland. Aber wenn die Priester noch nicht einmal in den erforderlichen Formen ausgebildet bzw. weitergebildet werden, braucht man sich über die liturgische Bildungsabstinenz nicht zu wundern, zumal die offiziell vorgeschriebenen mit den geduldeten und von wem auch immer empfohlenen Formen in ihrem inhaltlichen Ausdruck eben nicht übereinstimmen.
Lex orandi - Lex credendi
Wollte man dem Papst unterstellen, daß er dies alles nicht weiß und nicht sieht, müßte man sein Motu Proprio als Dokument einer Scheinwelt ohne Bezug zur Realität bezeichnen, und das auch noch auf einem vermeintlich so unwichtigen Terrain wie der Gottesdienstordnung. Allerdings ist vielmehr genau das Gegenteil der Fall. Aus höchst bedeutsamen dogmatischen Gründen der Kontinuität der Lehre in scharfem Gegensatz zum Relativismus der jeweiligen Zeiten, um der unverrückbaren Glaubenswahrheiten willen also nimmt der Papst Maß an der überlieferten Form und erklärt mit anderen Worten: Keine Form kann dogmatisch gültig und vertretbar sein, wenn sie nicht inhaltlich in ihrem Geschehen und in ihrem Ausdrucksgehalt substanziell mit der heute als Außerordentliche Form bezeichneten deckungsgleich ist.
Dies ist die historisch bedeutsame Tat Benedikts XVI., die weit über die liturgische Frage hinausgeht. Nur in der Kontinuität der Tradition erfährt auch das II. Vatikanum korrekten Rang und Interpretation. Alle Bischöfe und Priester guten Willens sind jetzt aufgerufen, liturgische Gewissenserforschung zu halten und nach der dogmatischen Meßlatte der Außerordentlichen Ritusform die tatsächlich praktizierte Ritusform (c-d) in ihrem Verantwortungsbereich zu sanieren, - um des Glaubens willen.
Auch hier volle Zustimmung. Darin, daß wir diese Argumente immer wieder und ohne Angst vor Wiederholung zur Geltung bringen können, liegt unsere größte Stärke.
Dazu steht ihnen in der Musica Sacra ein begnadetes Mittel der diskreten Umkehr und dauerhaften Versöhnung zur Verfügung. Er- ste zaghafte Anzeichen für eine Orientierung der Ordentlichen Ritusform am wirklichen Konzilswillen sind hier und dort schon zu beobachten. Der wirkliche „Schatz der Kirchenmusik“ gehört zum Glück ebenso zur außerordentlichen wie auch zur ordentlichen Form; und was partout nicht zur außerordentlichen Form passen will, gehört auch nicht zum „Schatz“. Die mit künstlerischem und geistlichem Niveau ausgestatteten Musiker im Dienste des Sacrum stehen dem Papst in aller Welt bei diesem Versuch der Versöhnung als geborene Verbündete zur Seite.
Wie kein anderes liturgisches Element ist die Musica Sacra geeignet, sowohl die Schätze der Überlieferung als auch die Visionen der Zukunft lebendig erfahrbar werden zu lassen, weil sie sich dem Ad-hoc-Machbaren entzieht. Gesangs- und Chorkultur, Instrumentalspiel und Repertoirekenntnisse erfordern eine langfristig angelegte Kultur von Gemüt und Geist. Es bedarf eines neuen Apostolats auf dem Gebiet der Musica Sacra ohne die bekannten Spielwiesen der Eitelkeiten. Auch nicht endlose Publikationen, rechthaberische Diskussionen, manische Profilneurosen und die pfauenstolze Pflege der Unterschiede führen zum Ziel, sondern nur die Besinnung auf die schärfsten Waffen der Evangelisierung: Liebe und Schönheit. Wenn diese Kraftquellen das liturgische Bemühen bestimmen, erkennen wir auch die Handschrift Benedikts XVI. aus seiner ersten Enzyklika wieder: Deus Caritas est.
Das Motu Proprio Summorum Pontificum ist für den wirklich konzilstreuen Musiker gegenüber einem tendenziös verführten Klerus nicht mehr und nicht weniger als eine orientierende und Maßstäbe setzende Hilfe in seinem täglichen Sacrificium laudis, einer künstlerisch hochstehenden sowie Gemüt und Geist ergreifenden Musica Sacra, dem Klang gewordenen Logos aus dem Heiligen Geist, der allein aus der verborgenen Glut neues Feuer der liturgisch-musika-lischen Liebe und Schönheit entfachen kann. Werden nicht in der Pfingstsequenz alle traurigen Sachverhalte der kirchenmusikalischen Situation schon angesprochen?
Wasche, was beflecket ist; Beuge, was verhärtet ist;
Heile, was verwundet ist, Wärme, was erkaltet ist;
Tränke, was da dürre steht; Lenke, was da irre geht!
Vergessen wir nicht, daß der Heilige Geist, ohne den keine wirkliche Musica Sacra möglich ist, uns vor allem als der Tröster versprochen und gesandt worden ist.
Anmerkungen:
1)Motu Proprio Summorum Pontificum über den Gebrauch der römischen Liturgie aus der Zeit vor der Reform von 1970 von Papst Benedikt XVI., in: Informationsblatt der Priesterbruderschaft St. Petrus, Wigratzbad, Aug./Sept. 2007, p. 7.
2) So ist man erstaunt und sucht nach den Gründen, weshalb z.B. P. Bernhard Gerstle FSSP seine Gedankenführung auf der unzutreffenden These aufbaut, mit Summorum Pontificum gäbe es eine „allgemeine Freigabe der altehrwürdigen lateinischen Liturgie“, vgl. Bernhard Gerstle, 20 Jahre Kirchenspaltung, in: Informationsblatt der Priesterbruderschaft St. Petrus, Wigratzbad, Okt. 2008, p. 3.
3) Nach allem menschlichen Ermessen gäbe es ohne die von Erzbischof Lefebvre gegründete Priesterbruderschaft St. Pius X. wohl bis heute keine verbindlichen Regelungen für den sogenannten außerordentlichen Ritus; dies sollten zumindest all die anderen Gruppierungen, die sich dem Alten Ritus verpflichtet fühlen, eher mit stillem Respekt als mit selbstbewußten Verurteilungen und bemühten Distanzierungen quittieren.
4) Begleitbrief von Papst Benedikt XVI. an die „lieben Brüder im Bischofsamt“, in: Informationsblatt der Priesterbruderschaft St. Petrus, Wigratzbad, Aug./Sept. 2007, p. 8.
5) Vgl. Begleitbrief…, Op. cit., p. 8.
6) Vgl. Alexander Kissler, Rebellen des Alten, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 21.09.2008, p. 9.
7) Der Priesterrat im Erzbistum Köln, „Wandel gestalten – Glaube entfalten“, Tagung vom 6. bis 8. November 2007 in Bensberg, Protokoll, p. 79.
8) Messe: außerordentlich, Leserbrief von Dr. Klaus Stadel, Domkapitular und Liturgiereferent der Erzdiözese Freiburg, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 5.10.2008, p. 36.
9) Begleitbrief…, Op. cit., p. 8.
10) Johannes Laas, Musikalischer Geist außer Gebrauch, in: Sinfonia Sacra, Mitteilungsblatt Nr. 21, Aachen, 12/2007, p. 2-6.
11) „Gesungene Liturgie war immer das Normale“, Der Kirchenmusiker und Musikwissenschaftler Albert Richenhagen betrachtet das Motu Proprio Summorum Pontificum als Fortschritt für die Musica Sacra, Deutsche Tagespost vom 10.07.2008; vgl. auch: Chaos am Altar, Kölner Stadtanzeiger, 10.08.2007, Kultur.
12) „Musik im Kirchenraum außerhalb der Liturgie“, Arbeitshilfe 194 der Deutschen Bischofskonferenz, 2005.
13) Begleitbrief…, Op. cit., p. 8.
Das Referat von Dr. Steinschulte auf der diesjährigen Jahrestagung von SINFONIA SACRA gibt eine höchst beachtenswerte Analyse des aktuellen Standes der Dinge um den Ritus Romanus weit über die im engeren Sinne kirchenmusikalischen Aspekte hinaus. Wir haben den Text, der zuerst auf der Website von Sinfonia Sacra veröffentlicht wurde, hier ganz übernommen, um in eigenen Anmerkungen Stellung zu einigen uns besonders wichtig erscheinenden Punkten nehmen zu können.